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Krankheitsfrüherkennung von Eierstockkrebs - Ärzte missachten Evidenz

Artikel 2152 Eine Krankheit vor Einsetzen von Beschwerden früh zu erkennen, ist sinnvoll, wenn der weitere Verlauf durch die Vorverlegung des Behandlungsbeginns die mit dieser Krankheit verbundene Mortalität oder Morbidität mindert, wenn also das Überleben verbessert und Krankheitsbeschwerden gemindert werden. So ist z.B. die Erkennung einer Unterfunktion der Schilddrüse beim Neugeborenen außerordentlich sinnvoll, weil die sofort einsetzende Behandlung vor Gesundheitsschäden bewahrt.
Entgegen der noch immer weit verbreiteten intuitiven Annahme "früh erkannt, Gefahr gebannt" gilt es bei der Früherkennung von Krebs jedoch, den möglichen Nutzen gegen mögliche Schäden aufzuwiegen.

Eierstockkrebs wurde im Jahr 2008 in den USA bei 12,2 von 100.000 Frauen diagnostiziert. Die Schwierigkeit der Früherkennung besteht darin, diese 12,2 Frauen aus den 100.000 mit einer geeigneten Untersuchung "herauszufiltern". Eierstockkrebs lässt sich mit Transvaginalem Ultraschall (TVU) und dem Tumormarker CA-125 früh erkennen. Die bisher durchgeführten Studien ergeben keine Belege für einen Nutzen, nicht einmal in der Gruppe von Frauen mit hohem genetischen Risiko, von denen mehr als 20% in ihrem Leben einen Eierstockkrebs entwickeln.

Dagegen bestehen erhebliche Schadensrisiken für Frauen mit im Vergleich zu Frauen ohne Früherkennungsuntersuchung, wie u.a die PLCO-Studie ergeben hat (wir berichteten: Link). Die fehlende Treffsicherheit des TVU zeigt sich darin, dass - je nach Studie - nur in 0,75% bis. 2,8% hinter einem auffälligen Befund ein invasives Karzinom steckt. Um ein invasives Karzinom zu entdecken, müssen zwischen 30 und 35 Operationen durchgeführt werden (Link). Dafür, dass die früher einsetzende Behandlung einen Überlebensvorteil ergibt, fehlt der wissenschaftliche Nachweis. Keine Fachgesellschaft empfiehlt daher die Früherkennung dieses Tumors in ihren Leitlinien.

Eine amerikanische Studie untersuchte nun, inwieweit sich Ärzte an die Empfehlungen der Leitlinien halten, also auf die Früherkennung verzichten, oder aber dagegen verstoßen.
Dazu entwickelten die Forscher einen Fragebogen mit Fallbeispielen. Darin wurden Fälle von Frauen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Lebenszeitrisiken für den Eierstockkrebs und unterschiedlichem eigenen Wunsch nach einer Früherkennungsuntersuchung beschrieben.
Bei den Ärzten handelte es sich um Allgemeinmediziner (family physicians), allgemeinärztlich tätige Internisten (general internists) und Gynäkologen.
3.200 aus amerikanischen Registern zufällig ausgewählte Ärzte erhielten jeweils eine Fallbeschreibung. Dazu sollten sie angeben, ob sie die Untersuchung "fast nie", "manchmal", "fast immer" veranlassen bzw. durchführen würden. Als Nichtbefolgung der Leitlinien wurden die Antworten "manchmal" und "fast immer" gewertet. Der Rücklauf betrug 61,7%.

Bemerkenswert ist bereits, dass 33% der Ärzte fälschlich meinen, dass der TVU und das CA-125 effektive Früherkennungsmethoden seien.

Bei Frauen mit mittlerem Risiko veranlassen insgesamt 65,4% der Ärzte die Früherkennungsuntersuchung. Fragen die Frauen nach der Früherkennung, steigt der Anteil auf 78,4%, fragen sie nicht nach sind es 49,4%.
Bei Frauen mit niedrigem Risiko veranlassen insgesamt 28,5% der Ärzte die Untersuchung, bei nachfragenden Frauen 36,7%, bei nicht-nachfragenden Frauen 20,2%.

Dabei überschätzen die Ärzte das Lebenszeitrisiko systematisch - ein Viertel schätzt das niedrige Risiko nicht als niedrig sondern höher ein, ein Drittel schätzt das mittlere Risiko entsprechend höher ein.

Zu den wichtigsten "Risikofaktoren" für die Nicht-Befolgung der Leitlinien zählen das vom Arzt wahrgenommene Risiko für Eierstockkrebs, die Nachfrage von Seiten der Patientin und der Glaube des Arztes an den Nutzen der Tests.


Diese Studie ist ein weiterer Hinweis dafür, dass unter Ärzten falsche Vorstellungen über die Früherkennung von Krebs weit verbreitet sind. In dieser Studie schätzten 33% der Ärzte den Nutzen einer Früherkennungsuntersuchung schlicht falsch ein. In einer anderen Untersuchung, über die wir berichteten (Link), hatten 69% der befragten amerikanischen Ärzte offenbart, dass sie die Aussagekraft der 5-Jahrsüberlebensrate für den Nutzen der Früherkennung nicht verstanden haben. Bei deutschen Ärzten hatte der Anteil sogar 76% betragen.

In Deutschland gehört die Früherkennung von Eierstockkrebs durch TVU zu den zwei am häufigsten angebotenen Selbstzahlerleistungen (sog. Individuelle Gesundheitsleistungen - Link).

Eine Wissensoffensive in Aus-, Fort- und Weiterbildung der Ärzte wäre erforderlich, um weiteren Schaden von den Patientinnen und Patienten abzuwenden.


Baldwin L-M, Trivers KF, Matthews B, Andrilla CHA, Miller JW, Berry DL, et al.
Vignette-Based Study of Ovarian Cancer Screening: Do U.S. Physicians Report Adhering to Evidence-Based Recommendations?
Annals of Internal Medicine 2012;156:182-94. Abstract

David Klemperer, 12.8.12


Mehr Wirtschaft als Gesundheit - Staatliche Förderung für IgeL

Artikel 2151 Unübersehbaren Optimismus offenbarte zunächst die Berliner Zeitung Ende Juli 2012 mit ihrem Artikel Bundesregierung überprüft Verkaufstrainings für Ärzte. Wie im Forum Gesundheitspolitik bereits Mitte Juni in dem Beitrag Öffentliche Förderung des Verkaufstrainings für IGeL-Angebote nachzulesen war, hat das Haus des ehemaligen Gesundheits- und jetzigen Wirtschaftministers Philipp Rösler das ständige Gerede des Ressortchefs von der Gesundheits-Wirtschaft überaus wörtlich genommen und tatkräftig in die Praxis umgesetzt.

Laut Medienberichten überprüfte die Bundesregierung zunächst die staatliche Förderung der Marketingseminare, in denen sich ÄrztInnen im Verkauf von IGeLeistungen und anderer Selbstzahler-Angebote schulen lassen können. Im Klartext: Ärzte sollen "Verkaufsstrategien" erlernen, um ihre Patienten besser vom Nutzen solcher Leistungen überzeugen zu können. Mittlerweile hat das Wirtschaftsministerium dem großen öffentlichen Fragezeichen nachgegeben und die Verkaufsförderungsprogramme für niedergelassene ÄrztInnen eingestellt.

Brisant war die bisherige Förderung vor allem deshalb, weil das Wirtschaftsministerium damit die Erbringung von zumeist diagnostischen Verfahren befördert hatte, die nicht nur medizinisch überflüssig und stark umstritten, sondern auch explizit nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten sind. Damit unterlief das Wirtschaftsressort gezielt das subsidiär-korporatistische Entscheidungsgefüge des deutschen Gesundheitswesens. Aber was der liberale Koalitionspartner vom Staat und von öffentlichen Entscheidungsstrukturen hält, zeigt nicht nur das Ressort von Philipp Rösler, sondern auch andere FDP-Minister wie insbesondere BMZ-Leiter Dirk Niebel ja seit der Übernahme der Regierungsverantwortlichkeit mit wachsender Begeisterung.

Allen öffentlichen Regulierungsversuchen trotzt auch beharrlich eine bestimmte Gruppe von MedizinerInnen, die gerne im Namen der "Therapiefreiheit" und ihrer eigenen Freiberuflichkeit handeln mit ihrer subjektiven Wahrnehmung gerne empirische Evidenz aushebeln. Tatsächlich sind es in erster Linie die Leistungserbringer, also die niedergelassenen ÄrztInnen, die ihren PatientInnen einseitig Leistungen ohne erkennbaren medizinischen Nutzen aufdrängen. Allzu oft erbringen sie IGeLeistungen ohne vorausgehende Information und Aufklärung sowie ohne schriftliche Vereinbarung. Nicht selten verkaufen sie den ahnungslosen "KundInnen" auch Leistungen aus dem GKV-Katalog als IGeLeistungen. Bisher haben weder die PatientInnen noch die Kassen in solchen Fällen Anspruch auf Schadensersatz.

Die vollständig aus der eigenen Tasche der Versicherten zu zahlenden Behandlungen stellen mittlerweile eine zusätzliche Einkommensquelle für die Kassenärzte dar. Rund zwei von drei KassenärztInnen bieten IGeLeistungen an, vor allem GynäkologInnen. AugenärztInnen und OrthopädInnen und erzielen damit zusätzliche Einnahmen von etwa 1,5 Mrd. €, was nicht weniger als fünf Prozent der kassenärztlichen Leistungsausgaben entspricht. Für viele Niedergelassene sind die IGeLeistungen heute eine willkommene Zusatzeinnahmequelle, mit der sie zunehmend hemmungslos die subjektiv als beständig schrumpfend empfundenen GKV-Honorare aufbessern und ihre gefühlten Verluste an "Therapiefreiheit" kompensieren können. Unter der konservativen Annahme, dass ÄrztInnen bei der Qualität ihrer Arbeit eine Normalverteilung aufweisen, kann das nichts Gutes für die PatientInnen bedeuten.

Um die geht es allerdings auch einer Reihe von MedizinerInnen allenfalls sekundär. Der Beitrag eines niedergelassenen Gynäkologen im streng GKV-feindlichen Ärztenetzwerk Hippokranet lässt an sozialpolitischem Desinteresse und Verachtung von Menschen mit geringem Einkommen nichts zu wünschen übrig: "Niemand wird gezwungen, sich rein kassenmedizinisch behandeln zu lassen.
Jeder in der Bunzrepublik hat die Wahl. ...ob jeder auch das nötige Geld hat, weiss ich nicht....interessiert mich auch nicht."

Solche und vermutlich auch andere MedizinerInnen interessiert sicherlich viel mehr das wachsende Angebot an verfügbarer Information zu IGeLeistungen, die man beispielsweise auf der Internet-Seite Der Igelarzt vorfindet. Zwar missbilligte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, laut Berliner Zeitung vom 30.7.2012 das Förderprogramm des Wirtschaftsministeriums mit den Worten: "Ärzte sind keine Kaufleute und deshalb brauchen wir auch keine Verkaufsseminare für Individuelle Gesundheitsleistungen." Dies entbehrt allerdings nicht einer gewissen Naivität, haben sich zahlreiche VertreterInnen der Ärzteschaft doch mittlerweile unübersehbar von der Ethik auf die Seite der Monetik geschlagen. Denn irgendwelche Ansprechpartner müssen einschlägige Angebote wie Verkaufen - eine neue Dimension der Praxisarbeit, IGeL seriös anbieten, IGeL anbieten - Wie sag ich`s dem Patienten? oder IGEL und Wahlleistungen sicher anbieten und verkaufen ja finden, sonst würden sie sich wohl kaum in der digitalen Welt des Internets halten.
Auch wenn die schwarz-gelbe Bundesregierung nun die Förderung der Patientenabzocke durch niedergelassene ÄrztInnen "überprüfen" will, die tägliche Praxis der "Halbgötter in Weiß", ihren PatientInnen überflüssige und nicht selten gefährliche und schädliche Leistungen aufzuschwatzen wird diese Koalition nicht in Frage stellen. Die größte Oppositionspartei will nicht nur die Marketing-Förderung des Wirtschaftsministeriums für IGeL-ÄrztInnen beenden, sondern die Ärztezeitung meldete am 31. Juli 2012 auch SPD plant "IGeL-Eindämmungsgesetz".

Immerhin nimmt sich nun der Bundesrat direkt dieses Themas an und dabei die Forderung des GKV-Spitzenverbands auf, als Mindestmaßnahme zum Schutz der PatientInnen eine eintägige Bedenkzeit für IGeLeistungen einzuführen. Abgesehen von einzelnen, eher bürokratischen Leistungen wie Attesten - so berichtet die Ärztezeitung in dem Artikel IGeL-Bedenkzeit-Atteste ausgenommen - gäbe eine derartige Bedenkzeit den informationsbezogen benachteiligten und tendenziell schwächeren NutzerInnen von ambulanten Gesundheitsleistungen eine gewisse Chance, die Notwendigkeit von IGeLeistungen zu überprüfen. Vor allem würde dies die Möglichkeiten der AnbieterInnen verringern, ihre PatientInnen mit dem Zusatzangebot zu überrumpeln.

Die Ablehnung aus der Ärzteschaft ließ nicht lange auf sich warten. Energisch kritisierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Dr. Johannes Fechner, den Vorschlag des GKV-Spitzenverbands, wie in einem Beitrag im Ärztenetzwerk Facharzt.de nachzulesen ist: "Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, warum der GKV Spitzenverband IGeL ablehnt und Schranken fordert. Die meisten IGeL erfolgen zum einen auf Patientenwunsch und sind zum anderen medizinisch sinnvoll." Als "abwegig" bezeichnete Fechner die Forderung, IGeLeistungen erst nach 24-stündiger Denkpause zu erbrbringen dürfen. "Der GKV-Spitzenverband zeigt hier mal wieder," so Fechner, "dass er wenig Kenntnis vom Alltag in einer Praxis und der Behandlung von Patienten hat. Warum soll der Arzt einen Patienten, der eine IgeL nachfragt, wieder nach Hause schicken? Die Patienten müssen einen neuen Termin vereinbaren und noch einmal den Aufwand für den Besuch auf sich nehmen, obwohl sie bereits vor dem Arzt stehen. Viele Leistungen ergeben sich zudem erst im Laufe einer Behandlung. Und soll der Arzt die Patienten, deren Kasse die IGeL wie beispielsweise Osteopathie in ihren Leistungskatalog aufgenommen hat, auch erst nach Hause schicken? Das ist Absurdistan und führt zu völligem Unverständnis bei den Patienten."

Allerdings sind in demselben Forum auch andere Stimmen zu lesen: So heißt es in einer Replik: "Nun werden in der Regel die so genannten "IGeL" ja nicht nachgefragt sondern dem Patienten mehr oder weniger nachdrücklich "empfohlen", "nahegelegt" oder schlicht aufgenötigt. Die echte Nachfrage nach derartigen "Wunschleistungen" darf man getrost ziemlich nahe bei Null einordnen."

Die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten steht kostenfrei online zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 9.8.12


Weniger operieren bei lokal begrenztem Prostatakarzinom

Artikel 2146 Auf einen unnötigen Test folgt vielfach eine unnötige Operation. Die verläuft zwar meistens gut, allerdings bekommen die Patienten nicht selten hinterher Potenzprobleme oder werden harninkontinent. Das ist die Quintessenz einer im Juli 2012 in der renommierten Medizinerzeitschrift New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie aus den USA. Der Artikel amerikanischer Urologen der Prostate Cancer Intervention versus Observation Trial (PIVOT) Study Group sollte und könnte dazu beitragen, betroffene Männern vor unnötigen Komplikationen und Einschränkungen der Lebensqualität zu bewahren.

Für ihre Studie Radical Prostatectomy versus Observation for Localized Prostate Cancer haben die Urologen 731 Männer untersucht, die an einem auf die Vorsteherdrüse begrenzten Krebs litten. Nach dem Zufallsprinzip wurde bei der Hälfte die komplette Prostata entfernt, während bei der anderen Hälfte der weitere Krankheitsverlauf ohne Therapie begleitet wurde. Nach einer Beobachtungsdauer von bis zu 15 Jahren ließ sich kein Vorteil für operierte Männer erkennen: Weder starben mehr Männer in der Gruppe, die nicht unters Messer kam, aus anderen Gründen, noch gab es ohne Behandlung mehr Todesfälle durch den Prostatakrebs.

Wer an dem begrenzten Tumor leidet, lebt ohne Behandlung genauso lange. "Viele Männer bekommen Angst, wenn sie die Diagnose Prostata-Krebs hören", sagt Erstautor Wilt, der an der Minnesota School of Medicine in Minneapolis tätig ist. "Sie denken, dass sie an dem Tumor sterben, wenn sie nicht therapiert werden. Unsere Daten zeigen jedoch eindeutig, dass dies nicht stimmt. Die überwältigende Mehrheit wird nicht an der Krankheit sterben, wenn sie unbehandelt bleibt."

Im aktuellen Studienbericht zeigen die ÄrztInnen um Timothy Wilt, dass die chirurgische Entfernung der Prostata bei lokalem Krebs kein Leben rettet (Bd. 367, S. 203, 2012) und Urologen künftig größere Zurückhaltung bei der Indikationsstellung zur operativen Prostata-Entfernung an den Tag legen. Die Studie zeigt nämlich, dass die moderne Medizin heute eine Vielzahl von Prostata-Tumoren diagnostiziert, die überhaupt nicht gefährlich sind. Denn leiden mehr als zwei Drittel aller Männer mit der Diagnose Prostata-Krebs an einer wenig aggressiven Frühform, die auf die Vorsteherdüse begrenzt ist. Die anfängliche Diagnosestellung beruht in den meisten auf dem höchst umstrittenen Bluttest auf prostataspezifisches Antigen (PSA).

Der PSA-Test ist ungenau und entdeckt zum einen viele Tumore, welche den betroffenen Männern nie ernsthafte gesundheitliche Probleme beschert hätten. Deshalb sprechen sich Fachorganisationen wie die US Preventive Services Task Force immer wieder gegen ungezieltes Screening aus. So hatte diese Behörde bereits 2008 in den Annals of Internal Medicine eine skeptische Einschätzung zum PSA-Screening abgegeben und dabei auf die Benefits and Harms of Prostate-Specific Antigen Screening for Prostate Cancer: An Evidence Update for the U.S. Preventive Services Task Force verwiesen. Die in dem ArtikelScreening for Prostata Carcinoma-US Preventive Service Task Force Recommendation Statement dargelegten Empfehlungen fassen die AutorInnen so zusammen: "No good-quality randomized, controlled trials of screening for prostate cancer have been completed. In 1 crosssectional and 2 prospective cohort studies of fair to good quality, false-positive PSA screening results caused psychological adverse effects for up to 1 year after the test. The natural history of PSA-detected prostate cancer is poorly understood." So ist es auch nicht überraschend, das die Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland die PSA-Bestimmung im Rahmen bloßen Screenings nicht als Leistung anerkennt; folglich bieten die UrologInnen den PSA-Test als IGeL Individuelle Gesundheits-Leistung an und kassieren dafür zwischen 15 und 30 Euro zuzüglich der Kosten für die Blutentnahme.

Die AutorInnen der nun im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie untersuchten 731 Männer mit lokal begrenztem Protata-Karzinom über insgesamt sechs Jahre, die sie nach dem Zufallsprinzip operieren oder nur beobachten ließen. In diesem Beobachtungszeitraum starben nur 7,1 Prozent der mit Krebs diagnostizierten Männer an dem Tumor. Dabei ließ sich kein statistisch relevanter Unterschied zwischen der operierten und der nicht behandelten Gruppe erkennen. Lediglich bei Vorliegen eines wenig differenzierten und daher aggressiveren Malignoms oder bei einem deutlich erhöhten PSA-Wert oberhalb von 10 Nanogramm pro Milliliter bot die Operation Vorteile.

Allerdings ist vor einer Überinterpretation dieser Studienergebnisse zu warnen. Zwar verleitet die US-Studie auf den ersten Blick zu großer Skepsis gegenüber der operativen Entfernung der Vorsteherdrüse bei Vorliegen lokalisierter bösartiger Tumore. Allerdings ist der Beobachtungszeitraum von gut sechs Jahren zu kurz, um generell Entwarnung zu geben. Gerade im höheren Lebensalter entwickeln sich Karzinome eher langsam. Außerdem besteht immer ein gewisses Risiko, das aus einem anfänglich ungefährlichen Tumor bei einem mittelalten Mann Jahre später ein aggressiver Krebs entstehen kann. Außerdem empfinden viele Betroffene selber ein vermeintlich harmloses Prostata-Karzinom als Zeitbombe und entscheiden sich für eine Operation. Fraglos aber stärkt das Studienergebnis aus den USA all jene, die sich in Anbetracht der Gefahr, nach der Operation impotent zu sein - das betrifft bis zu 30 Prozent - oder sogar an Inkontinenz zu leiden - immerhin bei jedem zwanzigsten operierten Mann - eher für abwartende Beobachtung bzw. das medizinisch begleitete "Zuwarten" entscheiden.

Die Studie von Timothy Wilt und Kollegen können Sie hier herunterladen; in vollem Umfang steht der Studienbericht nur AbonentInnen zur Verfügung, für alle anderen ein kommentiertes Abstract.

Zeitlich passend legte die Barmer GEK am 24. Juli ihren Krankenhausbericht 2012 vor, der sich schwerpunktmäßig demselben Thema widmet. Nach Auswertungen der eigenen Daten kommt die Barmer-GEK zu der Einschätzung, dass im Jahr 2011 bundesweit an deutschen Krankenhäusern rund 31.000 offene radikale Prostatektomien, 10.000 minimalinvasive Operationen, 3.000 mit Brachytherapien, 2.000 Chemotherapien und 1.600 perkutane Bestrahlungen erfolgten, was Gesamtkosten von rund 364 Millionen Euro verursachte. Die durchschnittlichen stationären Pro Kopf Behandlungskosten lagen im vergangenen Jahr bei etwa 5.900 Euro, wobei sich hier die auch bei anderen Krankheiten bekannte Altersabhängigkeit bestätigte: Während die Krankenhausbehandlung bei jüngeren Patienten regelmäßig über 6.000 Euro kostete, schlug sie bei Patienten jenseits der 80 mit rund 4.000 Euro zu Buche.

Prostatakrebs ist für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung sehr relevant, da er für etwa jeden zehnten krebsbedingten Sterbefall bei Männern verantwortlich ist. Häufigste Behandlungsmethode im Krankenhaus ist die "radikale Prostatektomie", die komplette operative Entfernung der Vorsteherdrüse. Das führt allerdings beim Gros der Patienten zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität: 70 Prozent klagen über Erektionsprobleme, 53 Prozent über sexuelles Desinteresse und rund 16 Prozent über Harninkontinenz. Rund ein Fünftel der operierten Patienten erleidet operationsbedingte Komplikationen wie Blutungen oder Darmverletzungen. Entsprechend durchwachsen sind die Zufriedenheitswerte: 52 Prozent der Befragten sind mit dem Behandlungsergebnis uneingeschränkt zufrieden, 41 Prozent eingeschränkt, 7 Prozent unzufrieden. Das sind schlechtere Ergebnisse als nach Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks (63 Prozent uneingeschränkte Zufriedenheit).

Diese und viele andere Informationen und statistische Daten enthält der diesjährige Krankenhausreport der Barmer-GEK. Für Interessierte stellt die Ersatzkasse kostenlos den Barmer-GEK Report Krankenhaus 2012 zum Download bereit. Ebenso sind eine überaus praktische Infografik- und Faktensammlung sowie eine Broschüre mit Behandlungsstrategien bei Prostatakarzinom auf der Internet-Seite verfügbar.

Jens Holst, 25.7.12


Öffentliche Förderung des Verkaufstrainings für IGeL-Angebote. Als ob es um Kekse oder den Brustumfang von Kleiderpuppen ginge.

Artikel 2135 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)-Angebote in Arztpraxen sind zum überwiegenden Anteil ohne Nutzen und nicht selten mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Das gilt insbesondere für Früherkennungsuntersuchungen, die häufig als IGeL angeboten werden, etwa bei vaginalen Ultraschalluntersuchungen (VUS) oder bei derPSA-Wert-Bestimmung (PSA = Prostata-spezifisches Antigen) als Krebsvorsorge. Für welche Leistungen dies sonst noch wissenschaftlich eindeutig belegt ist, kann bei Bedarf jedermann, also auch Berliner Ministerialbeamte, auf einer seit einiger Zeit frei zugänglichen Website "IGeL-Monitor" des Medizinischen Dienstes des Sptzenverbandes GKV Bund (MDS) nachlesen.

Ein Anlass sich sachkundig zu machen hätte jetzt für die zuständigen Beamten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie bestanden als sie die parlamentarische Anfrage der GRÜNEN-Abgeordneten Biggi Bender beantworten mussten. Deren Frage lautete: "Wie begründet die Bundesregierung die Förderung von Praxiscoachings durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle für Vertragsarztpraxen zur Maximierung des Praxisgewinns mit IGeL-Angeboten … bei denen in der Schulung laut Homepage des Anbieters u.a. gedankliche Barrieren des Verkaufenmüssens gegenüber den Patientinnen und Patienten ('Mir wäre diese Leistung aber zu teuer') abgebaut werden sollen und in denen 'einfache und unaufdringliche Formulierungen' vermittelt werden, 'mit denen sie ihre Patienten leicht und schnell vom Sinn und Nutzen einer Selbstzahler-Leistung überzeugen'".

Am 13. Juni 2012 antwortete der Wirtschaftsstaatssekretär. Die Kernsätze seiner Antwort lauten:

• Die Zuschüsse dienen zur Förderung des unternehmerischen Know-hows kleiner und mittlerer gewerblicher Unternehmen. Dazu gehört auch der Kreis der Freien Berufe - also auch Ärzte.
• "Maßnahmen der Verkaufsoptimierung fallen in den Bereich der Verbesserung von Vertrieb und Umsatz eines Unternehmens bzw. einer freiberuflichen Praxis." Andere Berufsgruppen wie z.B. Einzelhandelsberufstätige erhielten auch Maßnahmen "zu Ladengestaltung, Vertrieb oder Warenpräsentation" gefördert.
• Bei der Überprüfung der Förderfähigkeit "werden die konkrete Produkte und Dienstleistungen, die die geförderten Unternehmen anbieten, nicht bewertet" - außer es ginge um Drogen.
• Die Förderung enthebe die Ärzte natürlich nicht von ihren berufs- und sozialrechtlichen Pflichten gegenüber ihren PatientInnen. Und hier wären z.B. die Ärztekammern zuständig.

Spätestens mit der ministeriellen Gleichstellung von Ärzten mit normalen mittelständischen Unternehmern, also z.B. mit REWE- oder ESPRIT-Einzelhändlern sollte Ärzten klar werden, dass sie mit dem offensiven Ausbau ihrer IGeL-Angebotspalette nicht nur problematische kommerzielle Interessen verfolgen, sonderen vor allem auch Patienten gesundheitlich und finanziell schädigen und das Arzt-Patientverhältnis zerstören.

Vielleicht hätte der antwortende Staatssekretär aber auch seinen Minister fragen sollen. Als gerade nicht praktizierender Arzt hätte Herr Rösler ja vielleicht zumindest etwas gegen die Gleichstellung mit Einzelhändlern eingewandt!?

Das Antwortschreiben des Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Bernhard Heitzer und die komplette Fragen der Bundestagsabgeordneten Bender gibt es kostenlos.

Bernard Braun, 16.6.12


Licht und Schatten: Wissen der Bevölkerung um Evidenzbasierte Medizin - sehr schlechte Noten: Ärzte bei Über- und Unterversorgung

Artikel 2095 Mehr hilft mehr, neu ist besser als alt - diese wie viele andere verbreitete Annahmen in der Medizin stimmen häufig nicht. Patienten benötigen zutreffendes Wissen, um Behandlungsentscheidungen treffen zu können, die den persönlichen Nutzen mehren und Angebote als unseriös erkennen lassen, wie sie in Form von Selbstzahlerleistungen (sog. Individuelle Gesundheitsleistungen) zunehmend von nicht wenigen Ärzten angeboten werden (wir berichteten mehrfach). Bürger und Patienten sollten also ein gewisses Verständnis einer wissenschaftlich begründeten, also evidenzbasierten Medizin haben.

Im kürzlich erschienenen Gesundheitsmonitor 2011 sind die Ergebnisse einer entsprechenden Befragung vorgestellt worden. Entwickelt wurden neun spezifische Fragen zur Erfassung des Wissens, der Erfahrungen und Einstellungen der Bürger für den Einsatz in der Repräsentativbefragung des Gesundheitsmonitor 2011. Ausgewertet wurden nach Alter, Geschlecht und Region gewichtete Daten von 1.778 Befragten im Alter von 10 bis 69 Jahren, von denen 52 Prozent weiblich waren.

Im Folgenden einige ausgewählte Ergebnisse.

Falschen Aussagen stimmten die Befragten in unterschiedlichem Ausmaß zu ("stimme völlig zu / stimme eher zu"):
• 76% bei "Neue medizinische Methoden sind meistens besser als alte"
• 40% bei "Je mehr medizinische Leistungen ein Patient erhält, desto besser ist dies für seine Genesung"
• 53% für "Die besten Therapien sind häufig auch die teuersten"
• 73% für "Die besten Therapien erhalten häufig nur die Privatpatienten"

Das Zahlenverständnis wurde mit einer Frage orientierend erfragt, nämlich welches Zahlenverhältnis das höchste Risiko ausdrückt - 1:10, 1:100 oder 1:1.000. Hier gaben 71% mit 1:10 die zutreffende Antwort, immerhin 29% antworteten falsch. Ein nicht unerheblicher Teil der Befragten versteht also diese einfache Darstellung einer Wahrscheinlichkeit falsch.

Eine Frage befasste sich damit, welche Studienformen am besten geeignet sind, die Wirksamkeit von Behandlungsmethoden zu prüfen. Zustimmung finden hier Studien von langer Dauer (88%), doppelt verblindete Plazebo-kontrollierte Studien (65%), aber auch die Beobachtung von Einzelfällen (80%) bzw. der Vorher-Nachher-Vergleich von Patienten (87%).
Somit ist - wenig überraschend - das Wissen um die Notwendigkeit des fairen Vergleichs zweier Behandlungsweisen in der randomisierten kontrollierte Studie noch wenig verbreitet, dagegen die falsche Vorstellung, dass sich Einzelfälle verallgemeinern lassen noch weit verbreitet.

Weitere Fragen befassten sich mit Leitlinien und dem vermuteten Informationsverhalten der Ärzte, der Fehlervermeidung bzw. dem ärztlichen Kompetenzerhalt.

Auf die Frage welcher Informationsquellen sie vertrauten, erhielten die Ärzte die höchste Zustimmung, und zwar Fachärzte mit 90% deutlich mehr als Hausärzte mit 64%. Abgeschlagen und sogar ein Prozentpunkt hinter den Heilpraktikern sind die Apotheker - möglicherweise ein Ergebnis davon, dass Apotheken zunehmend das Erscheinungsbild von Supermärkten annehmen.

Weniger erfreulich hingegen für die Ärzte die Einschätzung der Befragten zu Überversorgung und Unterversorgung. Hinter den Fragen das Antwortverhalten - sehr oft / oft / gelegentlich / weiß nicht in %:
• Es werden medizinisch unnötige Leistungen, in gesundheitlicher Sicht überflüssige Leistungen erbracht. 24 / 33 / 31 / 7
• Es werden überflüssige Untersuchungen empfohlen, die die Patienten selber zahlen müssen 27 / 35 / 26 / 6
• Es werden sinnvolle medizinische Untersuchungen und Behandlungen unterlassen. 12 / 27 / 38 / 9
• Es werden Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eingesetzt, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sogar schädlich sind. 6 / 15 / 38 / 21

Fast 90% der Befragten vermuten als, dass Ärzte überflüssige Leistungen erbringen. Ebenfalls knapp 90% gehen davon aus, dass Ärzte ihren Patienten Behandlungen empfehlen, die überflüssig aber vom Patienten selbst zu bezahlen sind.

Zu vermuten ist, wenn auch durch diese Studie nicht zu belegen, dass die Befragten verstanden haben, dass nicht wenige Ärzte den Patienten überflüssige Leistungen anbieten, um Geld zu verdienen - hier sind die Selbstzahlerleistungen bzw. die sog. Individuellen Gesundheitsleistungen angesprochen. Offensichtlich untergraben kommerziell motivierte Angebote das Vertrauen in die Integrität ärztlichen Handelns.

Auffällig ist die Diskrepanz zwischen dem hohen Vertrauen in die Ärzte als Informationsquelle sowie den Vermutungen zur Erbringung überflüssiger und Nichterbringung sinnvoller Leistungen sowie zur Bereicherung auf Kosten der Patienten.

Eine Erklärungsmöglichkeit könnte sein, dass die Befragten ihrem eigenen Arzt vertrauen und die Probleme bei den anderen Ärzten sehen, was wiederum als Auflösung einer kognitiven Dissonanz gedeutet werden könnte.

Das Fazit der Untersuchung lautet, dass das Wissen der Bevölkerung um die Prinzipien einer evidenzbasierten Medizin gestärkt werden muss. Gezielte Maßnahmen zur Förderung wissenschaftlichen Denkens sollten bereits in der Schule, aber auch in der Erwachsenenbildung erfolgen. Schließlich kommt den Medien eine wichtige Rolle zu.

Für die Ärzteschaft könnte die Befragung eine Warnung sein, dass sie ihren Ruf und ihre Professionalität mit dem Angebot fragwürdiger Selbstzahlerleistungen gefährdet.



David Klemperer, Marie-Luise Dierks. Evidenzbasierte Medizin und Qualitätssicherung medizinischer Leistungen: Erfahrungen und Einschätzungen der Bürger. Abstract
Erschienen in: Jan Böcken, Bernard Braun und Uwe Repschläger (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2011. Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Gütersloh 2011. Inhaltsverzeichnis


Gesundheitsmonitor
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David Klemperer, 11.3.12


Hausärzte in Brandenburg: Gesetzliche "Gesundheitsuntersuchung" nicht sinnvoll, außer mit IGeL-Zusatzleistungen

Artikel 1996 Seitdem im Jahr 1989 mit dem § 25 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches jeder Versicherte in einer gesetzlichen Krankenkasse den Anspruch erhielt, nach Vollendung des 35. Lebensjahres jedes 2. Jahr eine "ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit" durchführen zu lassen, ist diese auch als "Check Up 35" propagierte Leistung umstritten. Der Streit und Zweifel am Sinn der Leistung entzündete sich vor allem an der sich stabil zwischen 20% und allerhöchstens 50% bewegenden Inanspruchnahme, der mangelnden Spezifität und Sensitivität der Check Up-Untersuchungen, die häufig wegen Mängel durch weitere Untersuchungen geklärt werden müssen und der häufigen therapeutischen Folgenlosigkeit von Screeningergebnissen. Trotzdem gab es weder von Krankenkassen- noch von Seiten der Ärzteschaft offene und konsequente Forderungen, diese Leistung in dieser Form wieder abzuschaffen. Bei den Ärzten mag dafür die extrabudgetäre Vergütung der Leistungen eine gewisse Rolle spielen.

Ob und wie kritisch Ärzte die Wirksamkeit der Leistung sehen, wurde jetzt das erste Mal mittels eines Fragebogens ermittelt, der im Frühjahr 2009 an eine repräsentative Stichprobe von 748 im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburgs tätigen Hausärzte verschickt und von 274 oder 37% von ihnen auch ausgefüllt wurde.

Die wichtigsten Ergebnisse:

• Die Befragten hatten genügend Erfahrung mit der Gesundheitsuntersuchung. Sie führten sie im Median 40mal pro Quartal durch.
• Nur 4% boten die Untersuchung in der zwischen Krankenkassen und Ärzteschaft vereinbarten Standardform durch. Die restlichen 96% verknüpften das Standardprogramm mit weiteren Untersuchungen zur Früherkennung, die nur bei 49% der Ärzte zu keinerlei finanziellen Belastungen der Patienten führen. Am häufigsten wurde die Kreatinin-Bestimmung durchgeführt. Weit über zwei Drittel der Hausärzte führen aber auch "praktisch immer" oder in der Mehrzahl der Fälle ein kleines Blutbild, diverse Cholesterinwerteuntersuchungen oder Ruhe-EKGs durch. Dies ist insoweit bemerkenswert, weil der damalige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (eine Art Vorläufer des seit 2004 für solche Fragen zuständigen "Gemeinsamen Bundesausschusses") einige dieser und andere Leistungen bereits 1999 als nicht hinreichend wissenschaftlich begründet aus dem Untersuchungskatalog der Gesundheitsuntersuchung gestrichgen hat.
• Die Beurteilung der Leistung ist zwiespältig: In ihrer derzeit offiziell vorgesehenen Form halten sie 52% der Befragten für "nicht sinnvoll" oder "eher nicht sinnvoll". Zum Teil anders sieht es aus, wenn die Ärzte sagen sollen, welchen Nutzen die Untersuchung in Detailangeboten hat: Fast 90% beurteilen dann den Nutzen für die Beratung über individuelle Risikofaktoren für "hoch" oder "eher hoch". Ähnlich hoch wird der Nutzen für die Erkennung von Risikofaktoren bewertet. Wenn es um die Entlastung von Gesundheitssorgen oder um die Auseinandersetzung mit psychosozialen Problemen, sehen aber nur noch rund 50% und weniger der Hausärzte einen Nutzen der Gesundheitsuntersuchung. Teilweise wird daher nur das zusätzliche Angebot, d.h. ein Angebot für das der Check Up nur der Aufhänger ist, als nützlich bewertet.

Was dies nun für die künftige Versorgung bedeutet, bleibt bei den AutorInnen der Studie diplomatisch in der Schwebe. Die unter den brandenburgischen Hausärzten weit verbreitete Neigung, die Gesundheitsuntersuchung zum Anlass zu nehmen, um zum Teil zweifelhafte aber in vielen Fällen für die NutzerInnen kostspielige individuelle Gesundheitsleistungen zu verkaufen, führt lediglich zu dem Vorhalt, es bleibe "unklar, inwieweit die präventive Wertigkeit dieser Untersuchungen von den durchführenden Hausärzten reflektiert wird." Dass das Problem aber damit gelöst wird, dass der vermutete "Qualifizierungsbedarf über Möglichkeiten und Grenzen von Früherkennungsmaßnahmen" befriedigt wird, erscheint nach allem was man über die Wirksamkeit der existierenden Qualifizierungsmaßnahmen weiß zu kurz und/oder in die falsche Richtung gegriffen.

Vermutlich werden aber von allen Beteiligten unter Verweis auf die geringe oder verzerrte (Nichtteilnahme der Ärzte, die überhaupt kein Check Up anbieten) Beteiligung von Hausärzten und die Nichtrepräsentativität der Brandenburger Hausärzte die Ergebnisse so lange in Frage gestellt bis auf praktische Schlussfolgerungen guten Gewissens verzichtet werden kann.

Der Aufsatz "Die Gesundheitsuntersuchung: Welchen Nutzen sehen Brandenburger Hausärzte?" von Sebastian Regus et al. ist in der aktuellen Ausgabe der "Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen" (Volume 105, Issue 6, 2011: 421-426) erschienen. Kostenlos ist leider nur das Abstract erhältlich.

Bernard Braun, 2.9.11


Neueste Daten zur Früherkennung von Prostatakrebs - keine Senkung der Sterblichkeit

Artikel 1854 Senkt die Früherkennung mit Hilfe der PSA-Bestimmung bei Männern ohne Anzeichen von Prostatakrebs die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zu Männern, die keinen PSA-Test erhalten - dieser Frage widmet sich ein jüngst veröffentlichte Cochrane Review. Cochrane Reviews sind die Zusammenfassungen von qualitätsgeprüften Studien die zu einer bestimmten Fragestellung erschienen sind.

Die Antwort lautet nein. Weder die Gesamtsterblichkeit noch die Sterblichkeit am Prostatakarzinom war in der Gruppe der Männer mit Früherkennungsuntersuchung niedriger als in der Vergleichsgruppe. Somit ist die Früherkennung von Prostatakrebs durch PSA nach heutigem Wissensstand ineffektiv.

Ausgewertet wurden die Daten von 387.286 Teilnehmern aus sechs randomisierten kontrollierten Studien, die bis Juli 2010 veröffentlicht wurden. Die Autoren kritisieren die in Teilbereichen teils mäßige Qualität der Studien und die daraus hervorgehende Unsicherheit mancher Ergebnisse. Kritisiert wird auch, dass keine Studie nach der Lebensqualität fragte und die Frage nach dem möglichen Schaden der Früherkennungsuntersuchung weitgehend ausgespart blieb.

Ein Wirkung hat die Früherkennung jedoch auf die Zahl der Männer, die eine Diagnose Prostatakrebs erhalten. Die Wahrscheinlichkeit, die Diagnose Prostatakrebs zu erhalten, ist für Männer in der Früherkennungsgruppe um knapp 50% erhöht. Die Neuerkrankungsrate liegt somit bei Screening um 50% höher, ohne dass die Männer einen Nutzen davon haben. Somit handelt es sich um das Phänomen Überdiagnose, was zwangsläufig mit Übertherapie einhergeht.

Offen bleibt die Frage, ob sich bei längerer Nachbeobachtung doch noch ein Überlebensvorteil herausstellt oder ob es Risikogruppen gibt, die möglicherweise doch von der Früherkennung profitieren.

Geklärt ist jedoch die Frage nach den möglichen Schäden bei der Behandlung von Prostatakrebs, insbesondere Impotenz und Inkontinenz. Dazu haben wir berichtet (Link).

Mit dieser Studie stellt sich die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit der Früherkennungsuntersuchung für Prostatakrebs außerhalb klinischer Studien verschärft. In Deutschland wird die PSA-Bestimmung zur Früherkennung nicht von den gesetzlichen Kassen übernommen (aus guten Gründen, wie dargelegt). Ärzte bieten sie daher als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) an.

Djulbegovic M, Beyth RJ, Neuberger MM, Stoffs TL, Vieweg J, Djulbegovic B, et al. Screening for prostate cancer: systematic review and metaanalysis of randomised controlled trials. British Medical Journal, 14.9.2010. Download der Studie kostenlos

Mehr zum PSA-Screening im Forum Gesundheitspolitik: PSA oder Prostata in die Suche eingeben.

David Klemperer, 1.10.10


Das "Behandlungs-Risiko-Paradox": Steigende Anzahl von Ultraschalluntersuchungen schwangerer kanadischer Frauen = höhere Risiken?

Artikel 1731 Eines der Vehikel der Medikalisierung, Pathologisierung und Risikoisierung von Schwangerschaft und Geburt sind die Ultraschalluntersuchungen der Schwangeren. In einer unheiligen Allianz neugieriger Eltern ("Babyfernsehen") und Ärzten, für die mittlerweile nach den Indikatoren des deutschen Mutterpasses 75% aller Schwangerschaften Risikoschwangerschaften sind und die Ultraschalluntersuchungen auch als Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) anbieten, nimmt die Anzahl dieser Untersuchungen auch hier zu Lande zu. Unklar bleibt bisher in Deutschland, ob die Zunahme nicht doch gerechtfertigt sein könnte, d.h. die so untersuchten Frauen vielleicht doch ein höheres Risiko haben und das Ganze daher Mutter und Kind zu gute kommt.

Etwas Licht in das Geschehen wirft jetzt eine in der neuesten Ausgabe des "Canadian Medical Association Journal (CMAJ)" vom 9. Februar 2010 veröffentlichte Untersuchung der Entwicklung in Kanada.
Für alle vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchungen bei 1.399.389 Einzelgeburten zwischen 1996 und 2006 im Bundesstaat Ontario bzw. im "Ontario Health Insurance Plan" wurde die Rate der Untersuchungen pro 1.000 Schwangere berechnet. Außerdem wurde das relative Risiko eine solche Untersuchung zu erhalten für jedes Jahr berechnet. Das relative Risiko wurde für das Alter der Mutter, ihr Einkommen, die Wohngegend (Stadt/Land) mütterliche Komorbidität, dem Erhalt genetischer Beratungen und einer Fruchtwasserpunktion und nach den möglicherweise in früheren Schwangerschaften erlittenen Komplikationen adjustiert. Mittels mehrerer dieser Indikatoren wurden die Teilnehmerinnen der Studie als "high-risk"- oder "low-risk"-Personen klassifiziert.

Die Ergebnisse sahen u.a. so aus:

• Die Rate vorgeburtlicher Ultraschalluntersuchungen stieg von 2.055 Untersuchungen pro 1.000 Schwangerschaften im Jahr 1996 auf 3.264 in 2006 (adjustiertes relatives Risiko [RR] 1.55).
• Die Rate stieg sowohl bei Frauen mit niedrigem ( adj. RR 1.54) und hohem (adj. RR 1.55) Schwangerschaftsrisiko.
• Der Anteil der Schwangeren mit wenigstens vier Untersuchungen im zweiten und dritten Schwangerschaftsabschnitt stieg von 6,4% im Jahr 1996 auf 18,7% in 2006 (adjustiertes RR 2.68).
• Paradoxerweise war diese Zunahme mehr bei Frauen mit einer Niedrig-Risiko-Schwangerschaft (adj. RR 2.92) zu finden als bei Frauen mit einer Hochrisikoschwangerschaft (adj. RR 2.25).

Die kanadischen ForscherInnen hoben in ihrer Interpretation und Diskussion der Ergebnisse hervor, dass ein substantieller Anteil der Nutzung von Ultraschalldiagnostik in dem untersuchten Jahrzehnt nicht Änderungen im gesundheitlichen Risiko der werdenden Mütter reflektiert. Der größte Teil des Ultraschallgeschehens bei Schwangeren gehöre zu der wachsenden Menge von gesundheitsbezogenen Interventionen, die zwar meistens für Personen mit hohem Risiko von Nutzen sind, aber überwiegend Personen mit geringem Risiko angeboten werden.

Dieses so genannte "treatment-risk-paradox" ist u.a. auch im Arzneimittelbereich weit verbreitet.

Im Kontext der Ultraschalluntersuchungen verweisen die Autoren einerseits noch auf eine Reihe von nicht-klinischer anbieter- oder angebotsinduzierter Erklärungsfaktoren: "These factors may include the practice of defensive medicine, the desire to reassure a patient that her pregnancy is progressing normally, patient demand and even the "entertainment" value of seeing one's fetus."

Andererseits geben sie die Gefahr zu bedenken, dass durch die Untersuchung kein gesundheitlicher Nutzen entsteht, möglicherweise aber Schaden durch die kontrovers untersuchten Risiken der Diagnostik: "Although the benefits of prenatal ultrasonography in high-risk pregnancies may be clearer, the value of repeat ultrasonography in low-risk patients is not. Prenatal ultrasonography is widely regarded as safe. However, some studies have suggested that frequent prenatal ultrasonography may be associated with intrauterine growth restriction, delayed speech and non-righthandedness."

Alles in Allem wird eine wirksame und dauerhafte Änderung der Verhaltensweisen von Ärzten und mancher Erwartungen von Schwangeren dank der hier nur angerissenen Komplexität der möglichen Einflussfaktoren nicht einfach sein.

Der Aufsatz "Proliferation of prenatal ultrasonography" von John J. You, David A. Alter, Therese A. Stukel, Sarah D. McDonald, Andreas Laupacis, Ying Liu und Joel G. Ray ist in der kanadischen Medizin-Fachzeitschrift CMAJ (CMAJ (182[2]: 143-151) erschienen und komplett kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 9.2.10


Zu viel Medizin? Die Früherkennung von Prostatakrebs führt zu massenhafter Überdiagnostik und Übertherapie

Artikel 1640 Zu viel Medizin? Die Früherkennung von Prostatakrebs führt zu massenhafter Überdiagnostik und Übertherapie
1986 wurde die Früherkennung von Prostatkrebs mit Hilfe des prostatspezifsichen Antigens (PSA-Screening) in den USA eingeführt. Ein Studie des renommierten Dartmouth Institute berechnete jetzt die dadurch geschaffene Zahl zusätzlich Kranker und Behandelter. Durch die Früherkennung wurde die Zahl der Neuerkrankten (Inzidenz) dramatisch in die Höhe getrieben: 1.305.600 Männer erhielten zusätzlich die Diagnose Prostatakrebs, 1.004.800 wurden operiert und / oder bestrahlt. Die Inzidenz stieg bei Männern im Alter von 60 bis 69 Jahren von 349 pro 100.000 im Jahr 1985 auf 667 pro 100.000 im Jahr 2005, bei 50- bis 59-Jährige von 58 pro 100.000 auf 213 pro 100.000, bei Männern unter 50 Jahren von 1,3 auf 9,4 pro 100.000.

Tatsächlich ist die Sterblichkeit an Prostatakrebs in den USA im genannten Zeitraum zurückgegangen. Sieht man die Ursache für den Rückgang im Screening (wogegen die vorliegenden Studien sprechen), verhindert nach optimistischsten Berechnungen die Diagnose von 23 Männern und die Therapie von 18 Männern einen Todesfall. Die weniger optimistische Zahl lautet ein verhinderter Todesfall auf 50 Behandelte. Die übrigen waren nur dem Risiko unerwünschter Therapiefolgen ausgesetzt. Die Operation kann zu Impotenz, Inkontinenz und zum Tod führen, die Bestrahlung zu Impotenz, Beschwerden beim Wasserlassen, schmerzhaftem Stuhlgang und Verletzungen des Darmes.

Wie berichtet haben zwei kürzlich veröffentlichte randomisierte kontrollierte Studien den Nutzen des PSA-Screenings nicht belegen können: während eine amerikanische Studie keine Senkung der Prostatakrebsmortalität zeigte, wurde in einer europäischen Studie die Mortalität um 0,17 Promille gesenkt, was bedeutet, dass für einen verhinderten Todesfall 1.410 Männer gescreent und 48 Männer behandelt werden müssen, 47 davon überflüssigerweise.

Eine 2008 veröffentlichte systematische Übersichtsarbeit hatte ergeben, dass nach radikaler Prostataentfernung bei 58 Prozent der Männer Impotenz auftritt, nach Bestrahlung bei 43 Prozent und nach Hormonbehandlung bei 86 Prozent. Harninkontinenz ist nach operativer Prostataentfernung bei 35 Prozent der Männer, nach Bestrahlung bei 12 Prozent und nach Hormonbehandlung bei 11 Prozent zu erwarten.

H. Gilbert Welch, Peter C. Albertsen. Prostate Cancer Diagnosis and Treatment After the Introduction of Prostate-Specific Antigen Screening: 1986-2005. Journal of the National Cancer Institute. Abstract

Pressemitteilung des Dartmouth Institute.

David Klemperer, 12.9.09


Selbstzahlerleistungen - Studie aus Kiel zeigt: fragwürdige Angebote sind weit verbreitet

Artikel 1594 Bei einem Arztbesuch in den letzten 12 Monaten haben 20,5% der gesetzlich krankenversicherten Patienten eine erwünschte Leistung nicht erhalten, 41,7% erhielten vom Arzt das Angebot für eine selbst zu zahlende Leistung, eine versagte Leistung wurde in 43,3% der Fälle sofort oder später als IGeL angeboten.

Dies sind Ergebnisse der Befragung einer repräsentativen Stichprobe Lübecker von Bürgern und Bürgerinnen der Städte Lübeck und Freiburg, die von Sozialmedizinern der Universität zu Lübeck durchgeführt wurde.

Als individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) werden medizinische Leistungen bezeichnet, die die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht finanziert werden und die daher von Patienten selbst bezahlt werden müssen. Wir berichteten mehrfach, u.a. IGeL-Markt wächst weiter an. Neben einigen sinnvollen Leistungen, wie Reiseimpfungen und Gesundheitszeugnissen, handelt es sich um Untersuchungen und Behandlungen, die wegen fehlendem Nutzennachweis nicht von der GKV übernommen werden.
Die meisten Patienten haben bereits Erfahrungen mit IGeL gemacht, insgesamt 53,2%, in den letzten 12 Monaten 41,7%. Erfahrungen mit Leistungsbegrenzungen geben 26,2% der Patienten an, in den letzten 12 Monaten 20,5%.

Der Anteil der Besucher, die ein Angebot für eine IGeL erhielten, lautet:
•Augenarzt 61,7%
•Gynäkologe 45,9%
•Urologe 24,2%
•Orthopäde 23,9%
•Hausarzt 14,5%.

Zu den häufig angebotenen Leistungen zählen Augeninnendruckmessung, Ultraschall, Krebsfrüherkennung, Laboruntersuchungen, alternative Heilmethoden, Knochendichtemessung sowie Vitaminspritzen und "Aufbauspritzen".

Als Leistungsbegrenzung wurden in dieser Studie Leistungen oder Verordnungen definiert, die Patienten von einem Arzt nicht erhalten hatten, obwohl sie sie subjektiv benötigt hätten. Versagte Leistungen betrafen im wesentlichen Heilmittel und Medikamente, seltener Rehabilitationsleistungen und Hilfsmittel. Orthopäden, Allgemeinmediziner, Augenärzte und Internisten versagen am häufigsten Leistungen. Als Begründung geben sie zumeist an, die würde die Kosten nicht mehr übernehmen (53,8%) bzw. das Budget sei erschöpft (27,3%). Verständnis für die Erklärung des Arztes brachten nur 25% der Patienten auf. In 43,3% boten die Ärzte die versagte Leistung als selbst zu bezahlende Leistung an, zumeist noch im selben Gespräch.

Diese sorgfältig konzipierte Studie bestätigt die weite Verbreitung von Selbstzahlerleistungen, wie sie bereits aus den Studien des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen bekannt ist. Ärzte bieten vor allem Leistungen an, die einen präventiven Anstrich jedoch keinen belegten Nutzen und somit ein negatives Verhältnis von Nutzen und Schaden haben. Neu ist das Wissen um die Gleichzeitigkeit von Leistungsversagung und Angebot als Selbstzahlerleistung sowie das fehlende Vertrauen in die Erklärungen des Arztes. Aus der WidO-Untersuchung ist bekannt, dass immerhin jeder dritte Befragte angibt, das Angebot von selbst zu zahlenden Leistungen verschlechtere das Verhältnis zum Arzt. Diese Studie hatte auch gezeigt, dass Ärzte die Selbstzahlerleistungen vorzugsweise ihren zahlungskräftigen Patienten anbieten.

Die ärztlichen Körperschaften haben die Problematik von IGeL durchaus erkannt. Eine gemeinsame Patientenbroschüre von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, gemeinsam erstellt mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, gibt dem Patienten zumindest die Möglichkeit, die richtigen Fragen zu stellen, wenn es um IGeL geht. Beantwortet der IGeL-anbietende Arzt die Fragen wahrheitsgemäß, dürften nicht viele vom Patienten als lohnend erachtete Leistungen übrig bleiben.

Richter S, Rehder H, Raspe H. Individuelle Gesundheitsleistungen und Leistungsbegrenzungen: Erfahrungen GKV-Versicherter in Arztpraxen. Deutsches Ärzteblatt, 26.6.2009

SELBST ZAHLEN? Individuelle Gesundheits-Leistungen (IGeL) - ein Ratgeber für Patientinnen und Patienten. März 2009. Herausgegeben von Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (Hrsg.).

David Klemperer, 1.7.09


Kein nachgewiesener Nutzen, unzulänglich qualifizierte Anbieter aber bald 100 Milliarden Euro schwer: Beispiel "Medical Wellness"!

Artikel 1575 Wer sich bis zur zwölften Seite eines aktuellen (6/2009) Forschungsberichts aus dem "Institut Arbeit und Technik (IAT)" der Fachhochschule Gelsenkirchen zum Modethema Gesundheitswirtschaft durchgelesen hat, bekommt das zuvor gewohnt üppig und optimistisch gemalte Bild der Erweiterung der alten GKV-Gesundheitswirtschaft um die moderne und bedarfsgerechte Kombination von klassischer Medizin und Wohlfühlangeboten zu "medical wellness" vom Kopf auf die Füße gestellt.

Um den "Kopf" ordentlich zum Brummen zu bringen, verzichtet aber auch dieser "Forschungs"-Bericht auf keine der mittlerweile hundertfach durchgekauten Trendmeldungen und -fortschreibungen, Bedarfsvermutungen und natürlich dem Jonglieren mit einem milliardenschweren "Kuchen", der hier zu verteilen ist.

Die wichtigsten Zutaten heißen:

• "In den letzten Jahren hat die steigende privat finanzierte Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen rund um die Themenfelder Gesundheit und Wohlfühlen einen regelrechten Wellnessboom ausgelöst.
• Zunehmend geht die Tendenz in Richtung der gezielten Prävention und Gesundheitsförderung. Daraus hat sich das Segment Medical Wellness gebildet, welches medizinische Leistungen mit Wohlfühlangeboten vereint.
• Medizinische Wellnessleistungen werden sowohl klassisch von Ärzten und Kliniken wie auch von Nicht-Medizinern wie Hotels und Fitnessstudios angeboten; beide Seiten versuchen mit unterschiedlichen Strategien den Medical Wellness Markt zu erschließen."
• Und was da angeblich erschlossen werden kann wird so quantifiziert: "50 bis 70 Milliarden Euro werden jährlich auf dem Wellness-Markt umgesetzt, die 100 Milliarden Euro-Grenze könnte in wenigen Jahren überschritten sein."

Wie vorrangig es den Propagandisten und Protagonisten der Gesundheitswirtschaft um "Markterschließung" und Vermarktungserfolge geht statt klare gesundheitliche Ziele und Belange zu befriedigen, illustrieren etwa die vielen Ausführungen des ebenfalls am IAT tätigen Gesundheitswirtschaftsexperten Josef Hilbert besonders griffig.

Eines von vielen Beispielen sind seine Ausführungen zur Gründung des "Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen e.V.", d.h. eines Vereins dessen wesentliche Träger und Interessenten die Bundesländer sind, am 14. Februar 2008 in Berlin: Dort hieß es: "Die Gesundheitswirtschaft gehört zu den stark expandierenden Branchen. Bis zum Jahre 2020 können in Deutschland rund eine Million neue Jobs entstehen, so Privatdozent Dr. Josef Hilbert, Vorsitzender des neuen Vereins. Ein wesentlicher Faktor ist hier die demografische Entwicklung in Deutschland. Die Altersstruktur der Bevölkerung verändert sich und verlangt verstärkt nach alters- und indikationsspezifischen Produktangeboten. Integrierte Modelle in der Versorgung und kooperierende interdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze stärken den Medizin- und Technologiestandort Deutschland und führen schneller zu Patenten und damit zu unternehmerischen Chancen. ... Der Verein ... bringt regionalspezifische Exzellenzen in einen bundesweiten Kontext. ... Ein weiterer Schwerpunkt ist es, im Ausland auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Gesundheitswirtschaft aufmerksam zu machen. Dieses fördert den Export von Gesundheitsprodukten und Dienstleistungen."

Was die aktuelle Ausgabe von "Forschung Aktuell" des IAT von früheren Publikationen unterscheidet ist seine Darstellung von inhaltlichen "Hindernissen".
Dazu rechnet die Verfasserin etwa die folgenden strukturellen Mängel:

Qualifikationsdefizite: "Für die Reifung des Medical Wellness Marktes ist die Branche auf die Verfügbarkeit professioneller Arbeit angewiesen. Eine spezielle Bedeutung kommt somit der Qualifizierung und den Kompetenzen der Beschäftigten zu. Einheitliche Wege der Aus- und Weiterbildung gibt es bislang aber nicht. Vielmehr besteht ein Nebeneinander unterschiedlichster Berufsgruppen mit verschiedenen Qualifikationen; diese Spanne reicht von traditionellen Berufen mit geregelten Ausbildungswegen wie dem Masseur bzw. medizinischen Bademeister bis hin zu Absolventen neuartiger Weiterbildungskurse wie dem IHK-zertifizierten Lehrgang zum Wellnessberater, sowie im Bereich der privaten Weiterbildungsanbieter von Lehrgängen zum Wellnesstrainer oder Wellnesstherapeut. Statt einer zukunftsträchtigen Professionalisierung und Qualitätssicherung finden sich auf dem Weiterbildungsmarkt ungenaue Kurstitel, ungeregelte Berufsbilder und fehlende Standards der Abschlüsse;"
Soziale und Finanzierungsprobleme: "Relevant sein wird, ob es der Gesundheitspolitik in den nächsten Jahren gelingt, Medical Wellness weiten Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen und das Modell der Salutogenese in Deutschland zu etablieren. Aufgrund der Tatsache, dass fast alles, was mit (medizinischer) Wellness zu tun hat, von den Konsumenten privat finanziert wird, profitieren besonders die einkommensstarken Teile der Bevölkerung von gesundheitsfördernden Produkten und Dienstleistungen. Im gleichen Atemzug werden die Angebote, die auch den sozial schwächer gestellten der Gesellschaft offen standen (die Kur), systematisch zurückgefahren."
• Und schließlich im Schlusssatz formuliert die fehlende wissenschaftliche Grundlage bzw. der bislang fehlende Wirksamkeitsnachweis: "Das Thema (Medical) Wellness ist in der deutschen wissenschaftlichen Forschung bislang noch nicht weit verbreitet. "Gerade im Wellnessbereich besteht bislang noch ein Defizit an gesicherten Forschungsergebnissen." (vgl. Barth/Werner 2005: 183) Vorliegende Studien, zumeist zu den Umsatzzahlen der Branche, stammen vorwiegend von Unternehmensberatungen, welche die Gesundheitswirtschaft allgemein wie auch den Bereich Medical Wellness speziell als neues Geschäftsfeld erschließen möchten. Diese Dominanz der Studien aus dem wirtschaftlichen Bereich ist jedoch auch kritisch zu betrachten. Es fehlt bislang an wissenschaftlicher Grundlagenarbeit zum Thema Medical Wellness, zu einer einheitlichen Definition, zur Evaluation der Angebote hinsichtlich Qualität, Kosten und Nutzen sowie zur Überprüfbarkeit der Gesamtidee von Medical Wellness als gesundheitsförderlicher Lebensstil. Zwar kann die finale Wirksamkeit der einzelnen Medical Wellness Angebote nicht genau beurteilt werden, dennoch können wissenschaftliche Evaluationen dazu beitragen, die grundlegende Legitimation für Medical Wellness zu schaffen sowie Rückschlüsse auf Qualifikationsanforderungen, Zugangswege etc. liefern (vgl. Klatt 2007)."

Nach diesen selbstkritischen Hinweisen wäre es noch unverständlicher, wenn in einem Land, dessen erster GKV-Gesundheitsmarkt seit Jahrzehnten mit einer Über- und Fehlversorgung von Leistungen ohne nachgewiesenem gesundheitlichem Nutzen zu kämpfen hat und u.a. deswegen zu wenig Geld für eine Reihe notwendiger und nützlicher Leistungen hat, ein zweiter Markt ohne Widerstand mit Leistungen läuft oder sie zu starten versucht, die keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Nutzen haben und deren Erbringer erhebliche Qualifikationsmängel aufweisen.

Insbesondere die dem Gemeinwohl und auch dem gesundheitlichen Wohl aller ihrer BürgerInnen besonders verpflichteten Vertreter der Bundesländer oder anderer öffentlicher Einrichtungen sollten sich überlegen, ob sie lediglich auf das vage und zumindest in der Vergangenheit noch nicht mal empirisch eintreffende Versprechen von "mehr Jobs" diesen Markt wirklich intensiv fördern wollen.

Den kleinen Forschungsbericht "Medical Wellness - Zukunftsmarkt mit Hindernissen von Sandra Dörpinghaus (Forschung aktuell des IAT 6/2009) erhält man kostenlos auf der Homepage des IAT.
Die 2-seitige Presseerklärung des "Netzwerk Deutsche Gesundheitsregionen e.V." gibt es ebenfalls frei zugänglich.

Bernard Braun, 7.6.09


IgeL-Markt wächst weiter an - Einkommensstarke Patienten werden von Ärzten häufiger angesprochen

Artikel 0794 Eine wachsende Zahl von Patienten in der Gesetzlichen Krankenversicherung bekommt beim Arztbesuch Zusatzleistungen gegen private Bezahlung angeboten. Nach einer aktuellen Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WidO) unter gesetzlich Krankenversicherten hat ein Viertel im Zeitraum eines Jahres beim Arzt eine solche Erfahrung gemacht, das sind umgerechnet auf die GKV-Versicherten mehr als 18 Millionen Patienten. Dabei werden diese Angebote gezielt einkommensstarken Patienten offeriert. Die Betroffenen zeigen sich angesichts der Vermarktung privater Zusatzleistungen in der Arztpraxis häufig verunsichert - bei der Mehrheit der privaten Zusatzleistungen (64%) unterblieb die erforderliche schriftliche Vereinbarung zwischen Arzt und Patient vor der Behandlung. Ein Fünftel (21%) der erbrachten Leistungen erfolgte ohne Rechnung. Dies sind Ergebnisse einer aktuellen Analyse zur Entwicklung im IGeL-Markt. Sie basiert auf einer bundesweiten telefonischen Befragung von 3.000 gesetzlich Krankenversicherten.

Die aktuellen Zahlen bewegen sich nach wie vor auf einem hohen Niveau, das im Vergleich zu den Vorjahren sogar noch leicht angewachsen ist. Bereits in früheren Jahren hatte das WidO Ergebnisse einer Befragung zum selben Thema vorgestellt: Private Zusatzangebote in der Arztpraxis und ebenso poch einmal im Jahr 2005: Goldgrube Privatabrechnung. Waren es 2001 lediglich 9% aller Versicherten, denen IGeL-Leistungen angeboten wurden, so sind es jetzt 25%.

Insgesamt wird nach Mitteilung des WidO mit IGeL ein Umsatz von hochgerechnet rund einer Milliarde Euro erzielt. Bei den Angaben zu den einzelnen Leistungen zeigt sich eine große Bandbreite. An der Spitze liegen mit einem Anteil von 20% Ultraschalluntersuchungen, gefolgt von Augeninnendruckmessungen (15%) und ergänzenden Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei Frauen (14%). Auf diese drei Leistungsgruppen entfällt nahezu die Hälfte der angebotenen Leistungen. Dabei adressieren die IGeL-Angebote unterschiedliche Personenkreise. Beispielsweise werden Ultraschalluntersuchungen und ergänzende Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei Frauen vor allem den Frauen zwischen 30 und 50 Jahren angeboten. Das Angebot für Augeninnendruckmessungen nimmt mit dem Alter der Patienten zu.

Fachärzte machen im Vergleich zu Allgemeinmedizinern deutlich mehr private Leistungsangebote. Am häufigsten bieten Gynäkologen und Augenärzte IGeL an. An dritter Stelle werden die Urologen genannt, gefolgt von Hautärzten und Orthopäden.

Wie bereits in der letzten Untersuchung zeigt sich auch aktuell wieder eine deutliche soziale Differenzierung beim Angebot von IGeL: Patienten mit überdurchschnittlicher Bildung und höherem Einkommen bekommen IGeL deutlich häufiger angeboten. So bekam in den unteren Einkommensgruppen (bis 1.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen) nur etwa jeder Sechste Privatleistungen vorgeschlagen, während in den höheren Einkommensgruppen (über 4.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen) mehr als ein Drittel der Befragten über ein individuelles Angebot ihres behandelnden Arztes berichtet. Patienten mit hoher Schulbildung werden doppelt so häufig private Zusatzleistungen angeboten (33%) wie Patienten mit einfacher Schulbildung (17%).

Die Befragungsergebnisse dokumentieren zudem erneut, dass die Erbringung von IgeL-Leistungen nicht immer rechtlich korrekt erfolgt. In nur 36% der genannten Fälle wurde vor der Behandlung eine schriftliche Vereinbarung zwischen Arzt und Patient getroffen. Für jede fünfte erbrachte IGeL-Leistung (21%) wurde in der Arztpraxis keine Rechnung ausgestellt. "Wenn Ärzte als Verkäufer von sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen auftreten, werden Patienten zu Kunden, die eine Leistung aus eigener Tasche zahlen", erklärte Studienleiter Klaus Zok: Drei Viertel der Versicherten mit IGeL-Erfahrung befürchten eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient durch die Zusatzangebote.

Pressemitteilung mit wichtigsten Ergebnissen
Wichtigste Ergebnisse der Studie (PDF, 4 Seiten)
• Die Buchveröffentlichung "Zok, K./Schuldzinski, W. (2005): Private Zusatzleistungen in der Arztpraxis - Ergebnisse aus Patientenbefragungen. Wissenschaftliches Institut der AOK (Hrsg.), Bonn, 10,00 Euro, ist beim WidO erhältlich

Gerd Marstedt, 11.7.2007


Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL): Dringend regulierungsbedürftig

Artikel 0272 Seit 1998 gibt es so genannte "Individuelle Gesundheitsleistungen" mit der einprägsamen Abkürzung IGeL. Der Begriff beschreibt ärztliche Leistungen, die nicht von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden und die daher von Interessierten selbst bezahlt werden müssen. Eine weitere medizinische Definition gibt es nicht. Am häufigsten werden Diagnosemethoden als IGeL verkauft, insbesondere in Form so genannter "Vorsorge". Die vorrangige Motivation für das Konzept war und ist, die finanzielle Situation der Anbieter zu verbessern.

IGeL werden oft als Teil eines zweiten Gesundheitsmarkts beschrieben und weisen auch viele marktwirtschaftliche Charakteristika auf, zum Beispiel: Stimulierung von Bedarf, Werbung, Dominanz von Verkaufs- gegenüber Informationsbemühungen. Dies ist bei medizinischen Themen allerdings nicht unproblematisch. An vielen Beispielen kann gezeigt werden, dass Informationen falsch, unvollständig, halbwahr und tendenziös, nach Kriterien der Kassenärztlichen Vereinigungen sogar unseriös sind. Eine angemessene Aufklärung von Interessierten ist nicht gewährleistet. Damit entfällt vielfach die Grundlage und wesentliche Voraussetzung für ein informiertes Einverständnis der an IGeL Interessierten. Zum Schutz der Versicherten besteht bezüglich des IGeL-Marktes insbesondere wegen seiner vielfältigen Auswüchse dringender Regulierungsbedarf.

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler, Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen, setzt sich in diesem Artikel mit der Problematik der IgeL-Angebote auseinander.

PDF-Datei Individuelle Gesundheitsleistungen - Spagat zwischen Markt und Medizin

Gerd Marstedt, 31.10.2006


"Individuelle Gesundheitsleistungen" (IGeL) - eine neue Goldgrube für Ärzte?

Artikel 0165 Immer öfter bieten Ärzte in ihrer Praxis Zusatzleistungen an, die der Patient selbst bezahlen soll. Rund 16 Millionen Versicherte (23,1 Prozent) haben in den vergangenen zwölf Monaten eine solche "Individuelle Gesundheitsleistung" (IGeL) angeboten bekommen. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) und die Verbraucherzentrale NRW am 10. Oktober 2005 in Bonn vorgelegt haben. Die auch so genannten "Wohlfühlleistungen" werden vor allem einkommensstarken Patienten angeboten. So bekamen nur 17,6 Prozent der Versicherten in der Einkommensgruppe bis 2.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen IGeL-Angebote, während es in der Einkommensgruppe oberhalb von 4.000 Euro doppelt so viele (35,5 Prozent) waren. "Dadurch wird deutlich, dass bei Individuellen Gesundheitsleistungen das medizinisch Notwendige nicht im Vordergrund steht", betonte Klaus Zok, Projektleiter beim WIdO und Autor der Studie.

Rund 16 Millionen gesetzlich krankenversicherten Patienten wird im Laufe eines Jahres eine Selbstzahler-Leistung unterbreitet oder sie haben eine solche Leistung in Anspruch genommen. Im aktuell beobachteten Einjahreszeitraum stieg der Umfang der privat angebotenen Zusatzleistungen um 44%. Das Verkaufsvolumen erreicht gegenwärtig rund eine Milliarde Euro. Dabei ist der zahnärztliche Bereich in dieser Summe noch nicht einmal enthalten. Dabei liegen mit einem Anteil von 22% Prozent die Ultraschalluntersuchungen auf Platz eins, gefolgt von Augeninnendruckmessungen (16%) und ergänzenden Krebs-Früherkennungsuntersuchungen bei Frauen (11%). Mehr als 40 Prozent der Versicherten meinten, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis durch IGeL beeinflusst wird, wobei sie mehrheitlich eine Verschlechterung (79%) befürchten. Die von den Versicherten hierzu formulierten Aussagen bringen durchgehend die Verunsicherung zum Ausdruck, die mit der Wahrnehmung des ärztlichen Verkaufsinteresses einhergeht.

Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ist als PDF-Datei kostenlos herunterzuladen; Goldgrube Privatabrechnung. Die gesamte Studie kann gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) bezogen werden. Die Befragungsergebnisse von 2005 decken sich sehr stark mit den schon ein Jahr zuvor vom WidO ermittelten Befunden. Hierzu gibt es eine PDF-Datei mit ausführlicher Darstellung der Umfrageresultate auf 8 Seiten: Klaus Zok: Private Zusatzangebote in der Arztpraxis (WIdO Monitor 1, 2004).

In einer unlängst vom Marktforschungsunternehmens GfK und der Stiftung Gesundheit durchgeführten Studie, bei der Ende 2004 eine Stichprobe von 8000 niedergelassenen Ärzten aller Fachrichtungen, befragt wurden, zeigte sich:
• 74% der befragten Ärzte gaben an, sie würden in ihrer Praxis IGeL-Leistungen anbieten, weitere 8% planten dies für die Zukunft
• 79% stimmten (völlig oder eher) der Aussage zu "Ohne Individuelle Gesundheitsleistungen ist meine Praxis auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben." Die Studie kann hier kostenlos heruntergeladen werden: Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit

Eine detaillierte Liste der individuellen Gesundheitsleistungen, die derzeit in Arztpraxen angeboten werden, von Vorsorgeuntersuchungen über reisemedizinische Beratungsleistungen bis hin zu sonstigen Leistungen (wie Beschneidung oder Refertilisation nach vorangegangener Sterilisation) einschl. der Gebühren findet man hier:
IGEL - Individuelle Gesundheitsleistungen

Gerd Marstedt, 31.10.2005