Home | Patienten | Gesundheitssystem | International | GKV | Prävention | Epidemiologie | Websites | Meilensteine | Impressum

Sitemap erstellen RSS-Feed

RSS-Feed
abonnieren


Sämtliche Rubriken in "Epidemiologie"


Themen- und länderübergreifende Berichte

Soziale Lage, Armut, soziale Ungleichheit

Umwelt und Ökologie

Arbeit und Betrieb, Berufe, Branchen

Spezielle Krankheiten

Psychische Erkrankungen

Übergewicht, Adipositas

Ältere, Altersaspekte

Kinder und Jugendliche

Männer & Frauen, Gender-Aspekte

Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung, Sport usw.)

Gesundheit und Krankheit in den Medien

Andere Themen



Alle Artikel aus:
Epidemiologie
Psychische Erkrankungen


Risiko an Demenz zu erkranken stagniert oder nimmt ab, nicht signifikant. Resultat eines systematischen Reviews samt Meta-Analyse

Artikel 2634 Über eine Reihe von methodisch hochwertigen Studien zum individuellen Risiko an Demenz zu erkranken, die meist das Erkrankungsrisiko in zwei weit auseinanderliegenden Kohorten verglichen, ist im "forum-gesundheitspolitik" schon mehrfach berichtet worden (zu finden mit dem Suchwort "Demenz"). Fast jede dieser Studie fand, dass das Erkrankungsrisiko (Inzidenz) entgegen vieler alarmistischer Szenarien mehr oder weniger stark abgenommen hat und diese Szenarien auf der ausschließlichen Betrachtung der Prävalenz beruhten. Deren Zunahme beruht danach ausschließlich auf der Zunahme des Anteils älterer Personen, die vor allem von Demenz betroffen sind.

Ein im Oktober 2018 veröffentlichter systematischer Review von Leipziger und Nordhausener WissenschaftlerInnen betrachtete nun sieben dieser Studien mit 42.485 TeilnehmerInnen aus entwickelten Ländern ("high-income countries") zusammen. Mit fünf dieser Studien wurde eine Metaanalyse durchgeführt werden.

Die wichtigsten Ergebnisse lauteten:

— Die meisten Studien liefern trotz aller Heterogenität "evidence of favorable trends in dementia incidence", d.h. Hinweise darauf, dass sich das Risiko stabilisiert oder sogar abnimmt.
— Dies gilt ausdrücklich nur für entwickelte Länder und auch nicht für jedes. Wie eine der untersuchten Studien zeigt, nimmt nämlich das Demenzrisiko in Japan zu. Offensichtlich spielen also unterschiedliche soziale, kulturelle oder umweltliche Bedingungen eine in weiteren Studien noch genauer zu untersuchende Rolle.
— Einschränkend weisen die AutorInnen aber darauf hin, dass die Abnahme des Demenzrisikos bei Einschluss der Studie über Japan statistisch nicht signifikant ist (Incidence Change/IC=0,82; 95% CI 0,51-1,33) und auch ohne die Ergebnisse aus Japan lediglich eine "borderline evidence for a decrease" (IC=0,69; 95% CI 0,47-1,00) existiert.

Die Schlussfolgerungen der AutorInnen lauten daher, es bedürfe weiterer Studien aus entwickelten Ländern aber auch weniger entwickelten Ländern. Zumindest für mitteleuropäische oder nordamerikanische Länder ist aber auszuschließen, dass dabei gewaltige Zunahmen des Demenzrisikos entdeckt werden.

Die Studie Is dementia incidence declining in high-income countries? A systematic review and meta-analysis von S. Roehr, A. Pabst, T. Luck und S. Riedel-Heller ist in der Zeitschrift "Clinical Epidemiology" (10: 1233-1247) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 9.11.18


Ein schwacher Trost!? Wenn man Gedächtnisprobleme merkt, ist die Gefahr einer finalen Demenzerkrankung relativ gering.

Artikel 2582 Der durch Werbeclips ("Hallo, guten Tag Herr….ääääh") und zahlreiche Veröffentlichungen erzeugte Eindruck, der lange Gang in eine Demenzerkrankung beginne mit Gedächtnisverlusten und sei mit ihnen so gut wie sicher, könnte zu einem gewissen Teil falsch sein. Dies ist jedenfalls das Ergebnis einer aktuellen Studie mit 1.062 TeilnehmerInnen in der "Alzheimer's Disease Neuroimaging Initiative database" von denen 191 an Alzheimer und 499 an geringen bis milden Einschränkungen ihrer kognitiven Fähigkeiten litten und 372 Mitglieder einer gesunden Vergleichsgruppe waren. Die Studienautoren heben hervor, dass die Studie die bislang größte sei, die sich mit der Selbstwahrnehmung von Symptomen dieser Art befasst hat.

Da Gedächtnisverluste ohne Zweifel zu den Symptomen einer dementiellen Erkrankung wie der Alzheimer Erkrankung gehören, derartige Verluste aber auch altersbedingt oder durch andere Erkrankungen oder Ereignisse auftreten ohne dass die betreffende Person an Altheimer erkrankt, versuchten nun kanadische Psychiater und Neurologen herauszubekommen, ob es einfach einzusetzende und valide Indikatoren dafür gibt, ob Personen mit Gedächtnisverlusten an Alzheimer erkranken oder nicht.

Die Ergebnisse lauten:

• Wer seine Gedächtnisverlusten selber nicht (mehr) wahrnimmt, also an einer so genannten Anosognosie leidet, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit demenziell krank.
• Die Selbstwahrnehmung von Gedächtnisproblemen ist dagegen auf Basis der Studie ein valider Prädiktor dafür, dass die Person nicht demenziell erkrankt.
• Die ForscherInnen weisen aber darauf hin, dass wahrgenommene Gedächtnisprobleme keineswegs bagatellisiert werden sollten, sondern durchaus Indikatoren für andere behandlungsbedürftige Krankheiten wie Ängste oder Depressionen sein können: "They can be reassured that they are unlikely to develop dementia, and the other causes of memory loss should be addressed."

Die AutorInnen kündigen weitere Forschungen zu den von ihnen entdeckten Zusammenhängen u.a. im Längsschnitt und mit hirnphysiologischen Methoden an. Dabei ist das Ergebnis an mehr Personen über eine längere Zeit nach dem Auftreten erster Gedächtnisprobleme zu bestätigen oder einzuschränken. Zusammen mit der mittlerweile weltweit mehrfach gemachten Beobachtung, dass das individuelle Risiko an Demenz zu erkranken bzw. die Inzidenz seit Jahren sinkt (der Eindruck das Demenzrisiko explodiere, beruht auf der durch die vorübergehende demografische Entwicklung größer werdenden Anzahl älterer Personen und damit der höher werdenden Prävalenz der Erkrankung), zeigen diese Ergebnissen, dass der verbreitete Fatalismus und Alarmismus im Kontext von Demenz überzogen ist.

Die Studie Anosognosia Is an Independent Predictor of Conversion From Mild Cognitive Impairment to Alzheimer's Disease and Is Associated With Reduced Brain Metabolism von Philip Gerretsen, Jun Ku Chung, Parita Shah, Eric Plitman, Yusuke Iwata, Fernando Caravaggio, Shinichiro Nakajima, Bruce G. Pollock und Ariel Graff-Guerrero ist 2017 online im"The Journal of Clinical Psychiatry" erschienen. Ein Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.10.17


Psychische Störungen in Bayern und anderswo: Kein Anstieg der Häufigkeit in den letzten 10-15 Jahren und soziale Ungleichheit

Artikel 2581 Wer sich mit psychischen Störungen oder Erkrankungen beschäftigt und nicht sofort in den großen Chor von der "dramatisch anwachsenden" Epidemie psychischer Erkrankungen einstimmen will, findet in einem aktuellen Bericht des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege eine gute Grundlage für die problemangemessene Debatte über Umfang, Arten, Entwicklungstendenzen und Hilfsmöglichkeiten dieser Erkrankungsarten.

Die gründliche und kompakte Aufarbeitung des Wissens über die Häufigkeit psychischer Störungen, die organisatorischen und inhaltlichen Schwierigkeiten der Informationsgewinnung, die Eckdaten zur Versorgungssituation in Bayern und die exemplarischen Vertiefungen zu den Depressionen in verschiedenen Lebenslagen, den Depressionen im Kinder- und Jugendalter und die Information, Beratung und Begleitung - in Bayern und darüber hinaus, führt zu folgenden Kernergebnissen:

• Der Anteil der Erwachsenen, die sich seelisch belastet fühlen, liegt in Bayern unter dem Bundesdurchschnitt.
• Mehr als ein Viertel der Erwachsenen in der Altersgruppe 18 bis 79 Jahre in Deutschland leidet im Laufe eines Jahres an einer klinisch relevanten psychischen Störung.
• Im Vordergrund stehen Angststörungen, affektive Störungen und somatoforme Störungen.
• Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
• Die untere Sozialstatusgruppe weist selbst in Bayern ein um 70 % höheres Erkrankungsrisiko auf als die obere Sozialstatusgruppe.
• Psychische Störungen sind in den letzten 10-15 Jahren entgegen der oft beschworenen explosiven Entwicklung nicht häufiger geworden - weder außerhalb noch in Bayern.
• Etwa 2,3 Mio. Menschen in der Altersgruppe ab 20 Jahren hatten 2014 in Bayern eine ambulante Diagnose aus der Gruppe der psychischen Störungen.

Der 84 Seiten umfassende Bericht zur psychischen Gesundheit von Erwachsenen in Bayern Schwerpunkt Depression ist online kostenfrei abrufbar.

Bernard Braun, 12.10.17


Weniger Stress mit dem was "Stress" sein könnte: elf Risikobereiche psychischer Belastungen

Artikel 2487 In der immer intensiver geführten Debatte über die tatsächliche oder auch nur vermeintliche Zunahme psychischer Erkrankungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitationsbedürftigkeit und Frühberentung, spielen eine oft unter dem schlagwortartigen Begriff "Stress" zusammengefasste Fülle von psychischen Belastungen und deren Gefährdungspotenzial eine große Rolle. Hinzu kommt, dass auch am Entstehen und dem Verlauf eher körperlicher Erkrankungen wie der Herz- und Muskel-Skelett-Erkrankungen psychische Fehlbelastungen (mit-)beteiligt sind. Dies ist mit ein Grund, dass die Identifikation psychischer Belastungen seit einiger Zeit in den gesetzlich vorgeschriebenen betrieblichen Gefährdungsanalysen und -beurteilungen neben den traditionellen physikalischen und ergonomischen Faktoren vorgeschrieben ist (siehe dazu u.a. die Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation. Ein trotz all dieser Debatten seit Jahren bekanntes Problem ist, dass nur zwischen 6% (2010) und 20% (2008/09) und vielleicht aktuell ein etwas höherer Prozentsatz der Betriebe in Gefährdungsbeurteilungen psychische Belastungen berücksichtigten (siehe dazu u.a. D. Beck, G. Richter, M. Ertel, M. Morschhäuser: Gefährdungsbeurteilung bei psychischen Belastungen in Deutschland. Verbreitung, hemmende und fördernde Bedingungen
2012
).

Ein weiteres für mögliche präventiven Bemühungen wichtiges Problem ist, genauer zu wissen, was sich hinter "dem Stress" verbirgt, welche Einzelfaktoren also psychisch belastend wirken, zu bestimmten Erkrankungen führen und beeinflusst werden müssen oder können.
Daran ändert ein gerade veröffentlichter Bericht etwas, der auf der Basis systematischer Reviews und wenn möglich von Meta-Analysen thematisch ähnlicher Einzelstudien beabsichtigt, "das Gefährdungspotential psychischer Arbeitsbelastungen einschätzen zu können und damit einen Hinweis zu geben, welche Arbeitsbelastungen in Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigt werden sollten".

Danach sind besonders die folgenden elf psychischen Arbeitsbedingungen/-belastungen gesundheitsgefährdend: die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität (hoher Job Strain), die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität bei gleichzeitig geringer sozialer Unterstützung (iso-strain), hohe Arbeitsintensität (Job demand), geringer Handlungsspielraum (Job control), (Ungleichgewicht zwischen erlebter beruflich geforderter Leistung und dafür erhaltener Belohnung/Wertschätzung(Effort-Reward-Imbalance), Überstunden, Schichtarbeit (vor allem Abend- und Nachtschichten sind als gesundheitsgefährdend einzustufen), geringe soziale Unterstützung, Rollenstress, Bullying/aggressives Verhalten am Arbeitsplatz und Arbeitsplatzunsicherheit.

Worauf diese Beurteilungen basieren und zahlreiche weitere Details enthält der iga-Report 31 "Risikobereiche für psychische Belastungen" der an der Universität Halle-Wittenberg arbeitenden Arbeitspsychologin Renate Rau unter Mitarbeit von Michael Blum und Laura-Marie Mätschke. Er umfasst 46 Seiten und ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 26.11.15


Sind Messies psychisch krank? Jedenfalls wird ihre Häufigkeit erheblich überschätzt und das Risiko ist ungleich verteilt.

Artikel 2305 Die wichtige Frage, ob zwanghaftes Horten oder eine Sammelwut als teilweise sozial assoziiertes oder durch einmalige Lebensereignisse verursachtes Verhalten von Menschen wirklich eine behandlungsbedürftige psychische Störung ist und Messies Kranke sind, bleibt mit der hier vorgestellten Studie letztlich unbeantwortet. Deren Wissenschaftler nehmen sich aber die in der neuesten Ausgabe der Klassifikation psychischer Störungen und Erkrankungen, "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5)" neu aufgenommene so genannte "hoarding disorder" vor und untersuchen dann die Erkrankungshäufigkeit in einer Bevölkerungsgruppe von 1.698 in London wohnenden Personen im Alter zwischen 16 und 90 Jahren und wen dies besonders betrifft.

In einer ersten Befragungswelle bezeichneten sich auf eine entsprechende Frage 201 dieser Personen als Messies. 99 von ihnen erklärten sich dann noch zu einem psychiatrischen Interview entlang der im DSM-5 genannten Krierien für diese psychische Störung in ihrer häuslichen Umgebung bereit. Damit konnte die gerade bei psychischen Erkrankungen und im Rahmen von Selbstbewertungen des Zustands leicht mögliche Über- oder Fehlbewertung von Symptomen u.a. durch Augenschein überprüft werden. Von mancher krankhaften Sammelwut blieb dann nur noch eine gewisse häusliche Unordnung oder Übermöblierung übrig.

Genau waren es nach diesen Interviews und der Fremdwahrnehmung der häuslichen Umbebung nur noch 19 Individuen, die nach den Diagnosekriterien des DSM-5 tatsächlich Messies waren. Dies entspricht einer gewichteten Prävalenz von 1,5%.
Die Messies waren älter und öfter unverheiratet, hatten auch überdurchschnittlich viele physische Erkrankungen oder andere mentale Störungen und hatten in ihrem bisherigen Leben schon häufiger Leistungen im Zusammenhang mit mentalen Störungen in Anspruch genommen. Lediglich ein Drittel der Messies hatten in den letzten Jahren Hilfe gesucht. Unter denjenigen, die in der ersten Befragungswelle verneinten, Messi zu sein, fanden sich nach einem Besuch in der häuslichen Umgebung doch eine Reihe von Personen, die nach den DSM-5-Kriterien an dieser Störung litten.

Auch wenn damit geklärt ist, dass die Häufigkeit des auch "Messi-Syndrom" genannten Verhaltens selbst von potenziell Betroffenen extrem überschätzt wird, sollte noch wesentlich gründlicher als bisher darüber nachgedacht werden, ob es sich wirklich um eine möglicherweise psychiatrisch behandlungsbedürftige Erkrankung handelt oder lediglich um eine mehr oder weniger starke Abweichung von einer sozialen Ordnungs- oder Ordentlichkeitsnorm.

Der Aufsatz Epidemiology of hoarding disorder von Nordsletten AE et al. ist am 24. Oktober 2013 als Beitrag in der Fachzeitschrift "British Journal of Psychiatry" vor Drucklegung veröffentlicht worden. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 18.11.13


Ausgeprägte Interessenkonflikte bei der Erarbeitung des DSM-V

Artikel 2127 Was eine psychiatrische Diagnose ist und was nicht, entscheiden Experten. Die Definitionsmacht liegt hier weitgehend bei der American Psychiatric Association (APA). Im Jahr 1952 erschien die erste Version ihres Diagnosekataloges "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM). Im Mai 2013 soll die fünfte Version erscheinen. Da sich die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation im psychiatrischen Bereich am DSM orientiert, prägt der DSM die Psychiatrie weltweit.

Über die sich abzeichnende hochproblematische Ausweitung der psychiatrischen Diagnosekategorien habe wir berichtet (Medikalisierung der emotionalen Höhen und Tiefen - Neu ab 2013 im "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder" Link)

In einer Pressemitteilung zur Berufung der Steuerungsgruppe im Juli 2007 erklärte die APA, dass die Patienten ein Anrecht auf ein Manual hätten, das auf dem Stand der Wissenschaft und frei von Interessenkonflikten sei. Alle Mitglieder müssten ihre finanziellen Verbindungen zur Industrie offenlegen. Im Jahr 2007 und den Folgejahren durfte das Einkommen aus Industriequellen nicht mehr als 10.000 Dollar betragen mit Ausnahme von Studiensponsoring.

In einem Beitrag in PLoS Medicine untersuchten die amerikanischen Wissenschaftler Lisa Cosgrove und Sheldon Krimsky, inwieweit die Öffentlichkeit darauf vertrauen kann, dass die APA in der Erarbeitung des DSM-V ihrem Anspruch auf Objektivität und Freisein von finanziellen Interessenkonflikte gerecht wird.

Die Steuerungsgruppe besteht 29 Mitgliedern, von denen 19 (71%) einen finanziellen Interessenkonflikt (financial conflict of interest - FCOI) angeben.

Die 13 Arbeitsgruppen mit insgesamt 141 Mitgliedern sind verantwortlich für die Überarbeitung der diagnostischen Kategorien und für die Aufnahme neuer Störungen in eine diagnostische Kategorie. In den meisten Arbeitsgruppen stellen Mitglieder mit FCOI die Mehrheit. Am stärksten ausgeprägt sind die FCOI in den Arbeitsgruppen, die sich mit Krankheitsbildern befassen, die an erster Stelle mit Medikamenten behandelt werden. Mit anderen Worten: die Mehrheit der Arbeitsgruppen, die sich mit der Überarbeitung und der Definition der jeweiligen Störungen befassen, stellen Experten, welche finanzielle Beziehungen zu den Firmen haben, die Medikamente für genau diese Störungen herstellen, so z.B.
• 12 von 18 Experten in der Arbeitsgruppe Affektive Störungen
• 12 von 14 Experten in der Arbeitsgruppe Psychotische Störungen
• 7 von 7 Experten in der Arbeitsgruppe Schlaf-Wach-Störungen.

Bereits im Jahr 2006 hatte Lisa Cosgrove über die Interessenkonflikte in der DSM-IV-Gremien berichtet (Link). Da es zur Zeit der Erarbeitung des DSM-IV noch keine Verpflichtung zur Offenlegung von Interessenkonflikte gab, suchte man im Internet nach Publikationen, in denen die Interessenkonflikte erklärt werden mussten und fand heraus, dass 95 der damaligen 170 Arbeitsgruppen-Mitglieder (65%) finanzielle Beziehungen zur Industrie pflegten, in den Arbeitsgruppen Affektive Störungen und Psychotische Störungen jeweils 100%.

Die Autoren erkennen es als Fortschritt an, dass die APA mittlerweile die Offenlegung von Interessenkonflikten für Mitglieder des Steuerungskomitees und der Arbeitsgruppen verpflichtend vorschreibt, weist jedoch auf folgende Lücken hin:

• Eine Begrenzung der Einnahmen aus Industriequellen auf 10.000 Dollar pro Jahr sowie des Aktienbesitzes auf 50.000 Dollar ist willkürlich. Die Vorstellung, dass Interessenkonflikte erst oberhalb dieser Grenzen entstehen ist falsch.
• Industriegelder für Studien müssen nicht genannt werden, obwohl die Abhängigkeit der Studienergebnisse vom Sponsor ("funding effect") hinlänglich bekannt ist (wir berichteten).
• Die Mitglieder müssen die Geldbeträge, die sie von der Industrie erhalten, nicht nennen.
• Die Mitgliedschaft in sog. speakers' bureaus ist nicht explizit anzugeben sondern kann in der Kategorie "Vortragshonorare" verbucht werden. Speakers' bureaus sind Agenturen, die der Industrie Wissenschaftler als Referenten vermitteln. Die Kontrolle über die Inhalte liegen zumeist auf Seiten der Firma. Da es sich bei dieser Vortragstätigkeit um reines Marketing handelt, empfiehlt die Association of American Medical Colleges ihren Mitgliedern, mit diesen Agenturen nicht zu kooperieren (wir berichteten).
Tatsächlich gab kein einziges DSM-V- Arbeitsgruppen-Mitglied diese Art von Verbindung an, obwohl eine Internetrecherche der Autoren über die Jahre 2006 bis 2011 ergab, dass 15% der 141 Mitglieder an anderer Stelle angaben, Mitglied eines Speakers' Bureau oder eines Advisory Boards zu sein.


Die Autoren ziehen das Fazit, dass die bislang getroffenen Regeln nicht dazu ausreichen, die neue Version des psychiatrischen Diagnosemanuals vor der Einflussnahme der Industrie zu schützen, so wie es die APA zumindest verbal anstrebt ("… transparent process of development for the DSM, and …an unbiased, evidence-based DSM, free
from any conflicts of interest'').

Die Autoren empfehlen:
• Alle Arbeitsgruppenmitglieder sollten frei sein von finanziellen Interessenkonflikten
• Personen, die an Speakers Bureaus teilgenommen haben, sollen nicht an Arbeitsgruppen teilnehmen.
• Für den Fall, dass nicht ausreichend Personen mit der erforderlichen Expertise zu finden sind, die keinen Interessenkonflikt haben, sollen Personen mit Beziehungen zur Industrie in die Beratungen einbezogen werden, ohne jedoch an den Entscheidungsprozessen teilzunehmen.


Cosgrove L, Krimsky S. A Comparison of DSM V and DSM 5 Panel Members' Financial Associations with Industry: A Pernicious Problem Persists. PLoS Med 2012;9:e1001190 Volltext


Cosgrove L, Krimsky S, Vijayaraghavan M, Schneider L. Financial Ties between DSM-IV Panel Members and the Pharmaceutical Industry. Psychotherapy and Psychosomatics 2006;75:154-60 Abstract


Pressemitteilung der APA 23.7.2007: APA Names DSM-V Task Force Members Download

David Klemperer, 20.5.12


"Ja, wo explodieren sie denn?" - Cui bono oder Grenzen der Anbieter- "Epidemiologie" von Übergewicht und psychischen Krankheiten

Artikel 2067 Egal, ob es um die Entwicklung von alten, neuen, somatischen oder psychischen Krankheiten geht: Unterhalb von "Explosion" oder Epi-/Pandemie scheint es keine Entwicklungsdynamik mehr zu geben. Die maßgeblichen Propagandisten und schlussendlich auch Nutznießer dieser "Explosionen" sind die Angehörigen einer Allianz von traditionellen aber auch alternativen Therapeuten, Herstellern der passenden Arzneimittel, Berichterstattungs- und Präventionsexperten, Weiterbildungsanbietern und einem stetig wachsenden Heer von Gesundheitswirtschaftsbetreibern, denen verständlicherweise eine 100-Prozent-Prävalenz am liebsten wäre. Dass dieser Zustand weder neu noch seine kritische Charakterisierung besonders böswillig ist, zeigen zwei etwas ältere kritische Anmerkungen zu den damaligen Ausdrucksformen dieser Art anbieter- oder angebotsinduzierten Epidemiologie.

Der Medizinhistoriker Roy Porter, spricht gegen Ende seiner großen Geschichte des Heilens davon, dass ein "wachsendes medizinisches Establishment angesichts einer immer gesünderen Bevölkerung dazu getrieben wird …, normale Ereignisse wie die Menopause zu medikalisieren, Risiken zu Krankheiten zu machen und einfache Beschwerden mit ausgefallenen Prozeduren zu behandeln. Ärzte und 'Konsumenten' erliegen zunehmend der Vorstellung, dass jeder irgendetwas hat, dass jeder und alles behandelt werden kann." (Porter, R. [2000]: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Heidelberg: 717)

Die mindestens bereits vor rund 10 Jahren gestartete Springflut psychischer Erkrankungen kommentierte der angesehene Psychiater Klaus Dörner 2002 im "Deutschen Ärzteblatt" so: "Der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um "gesund leben" zu können. … Das Sinnesorgan Angst, zuständig für die Signalisierung noch unklarer Bedrohungen, ist zwar unangenehm, jedoch vital notwendig und daher kerngesund; nur am falschen Umgang mit Angst (zum Beispiel Abwehr, Verdrängung) kann man erkranken. In den 70er- und 80er-Jahren jedoch hat man die Angst als Marktnische erkannt und etliche neue, selbstständige Krankheitseinheiten konstruiert - mit vielen wunderbaren Heilungsmöglichkeiten für die dafür dankbaren Patienten. … Nach dem Erfurter Amoklauf blieb einer Schülerin die Äußerung vorbehalten, das Schrecklichste seien eigentlich die Psychologen gewesen, die das Alleinsein mit sich selbst und/oder mit Freunden/Angehörigen mit den raffiniertesten Tricks zu verhindern versucht hätten." (Dörner Klaus (2002): Gesundheitssystem in der Fortschrittsfalle. In: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2462-2466 [Heft 38])

Zu den jüngsten besonders "dramatisch" "explodierenden Krankheiten" gehören das Übergewicht und die Fettsüchtigkeit sowie die psychischen Erkrankungen.

Zwei Längsschnittanalysen aus den USA und mehreren europäischen Ländern zeigen aber für beide Krankheitskomplexe für unterschiedlich lange Zeiträume vor der Gegenwart eher stagnative oder sogar leicht implodierende Tendenzen.

Drei Wissenschaftlerinnen der US-"Centers for Disease Control and Prevention" haben die Entwicklung der Prävalenz von Übergewichtigkeit und des Body Mass Index bei us-amerikanischen Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen für die Jahre 1999 bis 2010 mit den Daten des "National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES)" genauer untersucht.

Sie kommen dabei zu folgenden Ergebnissen:

• Nach einer kräftigen Zunahme der Prävalenz von Übergewichtigkeit bei Kindern in den 1980er und 1990er Jahren gab es zwischen 1999/2000 und 2007/2008 keinen signifikanten weiteren Anstieg. Von allen Kindern und Heranwachsenden zwischen 2 und 19 Jahren waren in beiden Jahreszeiträumen 16,9% übergewichtig oder fettleibig. Bei der Betrachtung von Untergruppen zeigen sich aber bei männlichen Kindern und Heranwachsenden sowohl bei der Veränderung der Übergewichtigkeit als auch des Body Mass Index (BMI) leichte aber statistisch signifikante Zunahmen - nirgends aber für Mädchen und junge Frauen.
• Die alters- und ethno-adjustierte Prävalenz von Übergewichtigkeit und Fettleibigkeit hat sich 2009/2010 mit 35,5% bei erwachsenen Männern und 35,8% bei erwachsenen Frauen nicht signifikant gegenüber 1999 verändert. Damals betrugen die Prävalenzwerte 35,7% und ebenfalls 35,8%. Ähnlich sah es bei der Entwicklung des BMI aus. Auch hier wichen aber Untergruppen vom Gesamttrend ab. So nahm die Übergewichtigkeit bei nicht-hispanischen schwarzen Frauen und mexikostämmigen AmerikanerInnen signifikant zu.

Eine internationale Forschergruppe um den Dresdener Psychiater Hans Ulrich Wittchen hat sich 2005 und 2010 u.a. mit der Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung der EU-27-Länder, der Schweiz, Islands und Norwegens beschäftigt.

Zu den Hauptergebnissen im Jahr 2010 gehört, dass etwas mehr als jeder dritte EU-Bürger mindestens einmal in einem Jahr an einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung leidet. Die häufigsten Erkrankungsformen sind Angststörungen (14,0 % der Gesamtbevölkerung), Schlafstörungen (7,0 %), unipolare Depressionen (6,9 %), psychosomatische Erkrankungen (6,3 %), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (> 4 %), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (5 % aller Kinder und Jugendlichen), und Demenzen (1 % bei 60-65 Jährigen bis 30 % bei Personen über 85 Jahren.
Depressionen, Demenzen, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall sind zusammen für 26,6 % der gesellschaftlichen Gesamtbelastung durch Krankheiten in der EU verantwortlich. Dabei beschäftigen sich die ForscherInnen nicht mit den u.a. von Dörner geäußerten Zweifeln am Krankheitswert mancher Angststörung etc.
Die ForscherInnengruppe stellt in beiden Jahren fest, dass höchstens ein Drittel aller Betroffenen in der EU irgendeine Form professioneller Aufmerksamkeit oder eine Therapie erhalte. Zur verbreiteten Unterversorgung gehört auch, dass eine Behandlung meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn beginnt und oft nicht den minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie entspricht.

Bei der Prävalenz sieht es beim Zeitvergleich zunächst nach einer kräftigen Zunahme aus: 2005 wurde sie auf 27,4 % und 2010/11 auf 38,2 % geschätzt. Doch bereits im Satz und Abschnitt nach dieser Schätzung rücken die ForscherInnen den Sachverhalt doppelt zurecht: "The 2005 report estimate was based on a restricted number of 13 diagnostic groups, restricted to age groups 18-65, and highlighted to be an extremely conservative estimate. The present report adds a total of 14 additional diagnoses, now more appropriately reflecting the true size of mental disorders across all age groups. No indications were found for increasing or decreasing rates of mental disorders from 2005 to 2011 when exactly the same diagnoses are considered (27.4% in 2005 vs. 27.1% in 2011). Thus, the apparent increase in prevalence is entirely due to including additional diagnoses." (668)

Auch hier zeigen sich also bei allem Ernst der Unterdiagnostik, Fehl- oder Unterversorgung von psychisch Kranken in praktisch allen EU-Ländern keine Anzeichen für eine stattgefundene oder sich hörbar ankündigende "Explosion" der Prävalenz psychischer Erkrankungen.

Allen in ihrer Performanz vergleichbaren Behauptungen oder "plausiblen" Annahmen über die Entwicklung anderer Krankheiten sollte nach diesen beiden Großbeispielen grundsätzlich mit Skepsis und Zweifeln begegnet werden - bis methodisch anspruchsvolle empirische Belege vorliegen. Zusätzlich verdient die kritische Auseinandersetzung mit Behauptungen, deren Härte lediglich durch die gebetsmühlenartige Wiederholung durch die unterschiedlichen, massiv interessierten aber zum Teil durchaus ehrenhaften Angehörigen der oben genannten Allianz mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Eine Langfassung des Aufsatzes "Prevalence of Obesity and Trends in Body Mass Index Among US Children and Adolescents, 1999-2010" von Ogden CL, Carroll MD, Kit BK und Flegal KM ist im Onlinebereich des "Journal of the American Medical Association (JAMA)" am 17. Januar 2012 veröffentlicht und bisher kostenlos erhältlich.
Dies gilt auch für den Aufsatz "Prevalence of Obesity and Trends in the Distribution of Body Mass Index Among US Adults, 1999-2010" derselben Autorinnen.

Der ECNP/EBC REPORT 2011 "The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010" von H.U. Wittchen et al. ist in der Fachzeitschrift "European Neuropsychopharmacology" (2011 [21]: 655-679) erschienen und komplett kostenlos über die Website der TU-Dresden erhältlich.

Bernard Braun, 24.1.12


Ein Fall von Über- und Fehlversorgung: Antidepressiva haben bei "minor depression" keinen größeren Nutzen als Placebos!

Artikel 1893 Je nach definitorischer Abgrenzung leiden 2,5 % bis 9,9 % der Bevölkerung und 5 % bis 16 % der primärärztlich versorgten Personen an einer so genannten "minor depression". Dabei handelt es sich um eine in bestimmten Zeitintervallen wiederkehrende aber dann nur kurz anhaltende depressive Störung und entsprechend manische und depressive Episoden kurzer Dauer. Die Erkrankung führt zu psychischem Leiden, einer signifikanten Verschlechterung der Gesundheit und hat eine beachtliche negative Wirkung auf die Lebensqualität. "Minor depression" ist zudem ein starker Risikofaktor für das Entstehen einer "major depression", bei der die Erkrankten wesentlich länger anhaltend und schwerer leiden und eingeschränkt sind. 10 bis 25 % der Personen mit einer "minor depression" entwickeln innerhalb von 1 bis 3 Jahren nach der Erkrankung an einer "minor depression" auch die schwerere Depressionsform.

Nicht zuletzt diese Gefahr führte dazu, dass Personen mit der an sich "leichteren" Form einer Depression häufig antidepressive Arzneimittel und Benzodiazepine verordnet werden, die eigentlich für die Behandlung der "schweren" Form der Depression gedacht sind.
Ob dies wirklich einen Nutzen für die Erkrankten hat und/oder das Hineinwachsen in einer "major depression" verhindert wurde bisher erst in einer Handvoll randomisierter kontrollierter Studien untersucht. Ein systematischer Review und eine Metaanalyse der Effekte dieser Arzneimittel im Vergleich mit denen von Placebos stand aber fast erwartungsgemäß immer noch aus.

Italienische Wissenschaftler beendeten nun diesen Zustand und legten entsprechende Ergebnisse aus 6 RCTs vor. Deren Gesamtergebnisse sehen so aus:

• Bei Benzodiazepinen oder Tranquilizern fanden die Wissenschaftler trotz aufwändiger Suche in allen Standardquellen (z.B. in der Cochrane Library) keine Studie, die den Effekt dieser Arzneimittel mit dem Effekt von Placebos verglichen hatte. Der systematische Review kommt daher für diese Arzneimittel zu keiner Bewertung und Empfehlung. Vorsorglich weisen die Wissenschaftler aber auf das große Potential unerwünschter Wirkungen der meist notwendigen längeranhaltenden Behandlung mit Benzodiazepinen hin (z.B. Suchtabhängigkeit). Um zu einer positiven Nutzenbewertung zu kommen, müsse ihr nachgewiesener gesundheitlicher Nutzen schon extrem und eigentlich unvorstellbar hoch sein.
• Für Antidepressiva gibt es placebokontrollierte Interventionen. Diese zeigen in sämtlichen Studien für die Wirkung der beiden eingesetzten Mittel oder Substanzen keinen statistisch signifikanten Unterschied (RR=0,94). Ebenfalls kein signifikanter Unterschied existiert zwischen beiden Interventionstypen was das subjektive Annehmen (acceptability) der Arzneimittels oder des Placebos (RR=1,06) bei Patienten anbelangt.

Auch wenn die Studienautoren darauf hinweisen, dass sowohl die zum Teil geringe Anzahl von Patienten (drei Studien hatten weniger als 50 TeilnehmerInnen) als auch die bei allen 6 berücksichtigten Studien relativ kurze Nachuntersuchungszeit wichtige Beschränkungen für ihren Review darstellen, sind sie sich sicher, dass der unreflektierte Einsatz von Antidepressiva bei Patienten mit "minor depression" eine Form von Über- und/oder Fehlversorgung darstellt. Die Einnahme solcher Arzneimittel kann ohne gesundheitliche Nachteile für die Patienten unterlassen werden: "Doctors should still shift away from drug intervention as resources may be better spent elsewhere in the health system." Psychotherapeutische Interventionen haben beispielsweise bereits einen spezifischen Nutzen bei depressiven Patienten nachgewiesen und über weitere vergleichbare Ansätze sollte verstärkt nachgedacht werden.

Der Aufsatz "Efficacy of antidepressants and benzodiazepines in minor depression: systematic review and meta-analysis" von Barbui C, Cipriani A, Patel V, Ayuso-Mateos JL und M. van Ommeren ist im renommierten Fachjournal "British Journal of Psychiatry" (2011 Jan; 198:11-16) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.1.11


Psychische Erkrankungen: Viel "Epidemie" und relativ wenig evident wirksame Präventionsmaßnahmen in der Arbeitswelt

Artikel 1880 Egal, ob es um Arbeitsunfähigkeit, Maßnahmen zur Rehabilitation oder auch Frühberentung geht, so genannte psychische Erkrankungen schieben sich seit mehreren Jahren scheinbar unaufhaltsam auf die ersten Plätze. So ernst man das Geschehen hinter den Zahlen im Einzelfall nehmen muss, so wichtig und überfällig sind aber differenziertere Betrachtungen der "Epidemie" psychischer Erkrankungen. Dies sollte u.a. beinhalten:

• Das Aufdröseln dessen, was zur Flut der "psychischen Erkrankungen" zusammengefasst wird. Hier geht es sowohl um Depressionen, Ängste, Burnout, Neurosen etc. als auch im quantitativ nicht unerheblichen Maße um Suchterkrankungen wie den Alkoholismus.
• Ein Teil des scheinbar neuen Problembergs entsteht nicht aktuell, sondern existierte objektiv und subjektiv im schamhaften Verborgenen bereits immer. Die aktuelle Entwicklung ist also zum Teil ein Entdeckungs- und Akzeptanzphänomen. Statt einer Depression sprach man vor 20 Jahren lieber über ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom.
• Zu fragen ist aber auch, ob ein Teil der psychischen Erkrankungen nicht Ausdruck der auch sonst verbreiteten Medikalisierung von Lebenslagen oder natürlichen Reaktionen ist oder auch hier z.B. neue Medikamente eine "Krankheit" oder Therapeuten "Patienten" suchen und finden. Der anerkannte Psychiater Klaus Dörner warnte im "Deutschen Ärzteblatt" bereits 2002 mit folgenden Beobachtungen und Kommentaren vor einer solchen Entwicklung: "Seit den 90er-Jahren ist die Depression weltweit als unzureichend vermarktet erkannt. Eine Art Rasterfahndung nach unentdeckten Depressiven, wovon immer einige Menschen real profitieren, die meisten jedoch durch zusätzliche Etikettierung in ihrer Vitalität Schaden nehmen, hat zum Beispiel in den USA dazu geführt, dass sich von 1987 bis 1997 die Zahl der wegen Depression Behandelten von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht hat; ent-scheidend dafür war die suggestive Aufklärungskampagne und aggressive Werbung für Antidepressiva." Und: "Ein Selbstversuch, den jeder wiederholen kann: Ich habe zwei Jahre lang aus zwei überregionalen Zeitungen alle Berichte über Forschungen zur Häu-figkeit psychischer Störungen (zum Beispiel Angst, Depression, Essstörung, Süchte, Schlaflosigkeit, Traumata) gesammelt: Die Addition der Zahlen ergab, dass jeder Bundesbürger mehrfach behandlungsbedürftig ist. Die meist von bekannten Professoren stammenden Berichte versuchten in der Regel, dem Leser zunächst ein Erschrecken über den hohen Prozentsatz der jeweiligen Einzelstörungen zu suggerieren, um ihn dann wieder zu entlasten, weil es heute dagegen die zauberhaftesten Heilmethoden gäbe, fast immer in der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie; denn hier verspricht die Kooperation der Konkurrenten den größten Gewinn."

Egal, wie häufig psychische Erkrankungen wirklich neu entstehen und versorgt werden müssen, gilt aber auch bei ihnen, dass sie nicht unvermeidbar sind, also präventiv verhindert oder ihr Eintritt hinausgezögert werden kann. Und sicher ist auch, dass dabei die Bedingungen der Arbeitswelt eine wichtige fördernde und hemmende Rolle spielen.

Ein 2010 erschienener Forschungsbericht hat daher für Telekommunikationsunternehmen systematisch Faktoren zu identifizieren versucht, "die das psychische Befinden positiv oder negativ beeinflussen oder die Wiedereingliederung nach krankheitsbedingter Abwesenheit erleichtern." Als Erkenntnisquellen dienten mehrere Literaturreviews und qualitative Interviews mit Unternehmensvertretern. Die wichtigsten Funde der Literaturreviews lauteten:

• Dem Problemberg stehen zum Teil lückenhafte Erkenntnisse oder Beweise über mögliche Ursachen gegenüber. Die Evidenz vieler Maßnahmen ist lückenhaft oder schlecht. Viele der in den Betrieben durchgeführten Praxismodelle sind nie evaluiert worden.
• Als Faktoren mit negativem Effekt auf das psychische Wohlbefinden wurden identifiziert: Arbeit-sanforderungen wie hohe Anforderungen, geringer Entscheidungsspielraum, geringe soziale Unterstützung und geringe Kontrolle, Geringe Arbeitszufriedenheit, Monotonie, Rollenunklarheit und -konflikte, schlechte Kommunikation und großes Ungleichgewicht zwischen Anstrengung und Belohnung, Erlebtes Fehlen von Unternehmensgerechtigkeit und Führungsstile.
• Positiv wirken sich dagegen folgende Faktoren auf das psychische Wohlbefinden aus: In Sommerurlaub gehen, optimierte Aufgaben- und Jobgestaltung, multimodale Ansätze für Interventionen bei schlechtem psychischem Befinden unter Berücksichtigung der Faktoren Eigenverantwortung, Engagement und Eignung, Einsatz psychologischer Interventionen bei Störungen des psychischen Wohlbefindens, Flexible Arbeitszeiten und Wertschätzung der Belegschaft.
• Für die Wirksamkeit von Bedingungen, welche die Wiedereingliederung nach krankheitsbedingter Abwesenheit begünstigen, lag zwar nur eine vergleichsweise geringe Evidenz vor, als potenziell positiv gelten aber: Programme zur stufenweisen Rückkehr an den Arbeitsplatz und/oder psychologische Rehabilitation, die Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Kontakts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, systematische Ursachenanalysen und mögliche Anpassungen im Arbeitsumfeld.

In den acht genauer untersuchten Unternehmen gab es "Beispiele guter Praxis", wobei ihre Wirksamkeit oder ihre Effizienz mangels Evaluation nicht gesichert ist.

Der u.a. von der WHO und der EU-Kommission geförderte 108 Seiten umfassende Forschungsbericht 603-00944 "Gute Arbeit, gute Gesundheit" von Joanne O. Crawford, Phil George, Richard A. Graveling, Hilary Cowie und Ken Dixon ist im Juni 2010 in mehreren Sprachen, darunter auch in deutscher Sprache, erschienen und kostenlos erhältlich (ein bisschen aufwändig: auf Evidence based reports und dann auf die deutsche Fassung klicken).

Bernard Braun, 25.11.10


Medikalisierung der emotionalen Höhen und Tiefen - Neu ab 2013 im "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder" (DSM)

Artikel 1776 Seien Sie nicht zu eruptiv und richtig über etwas ärgerlich, nicht allzu verträumt und träge oder horten sie bloß nicht alte Zeitungsausschnitte und Zeitschriften. Sie könnten sonst ab 2013 von Psychiatern, die sich an der dann frisch erschienenen Ausgabe des von der renommierten und mächtigen "American Psychiatric Association (APA)" herausgegebenen und weltweit verbreiteten und genutzten DSM mit den Krankheitsetiketten "intermittent explosive disorder", "cognitive tempo disorder" oder "hoarding disorder" versehen und für behandlungsbedürftig gehalten werden. Und dazu gibt es dann auch sofort oder in naher Zukunft eine meist medikamentöse Therapie antidepressiver, antipsychotischer oder sedierender Art. Deren unerwünschten Wirkungen, nicht selten eine Erhöhung des Selbstmordrisikos, sind dann häufig das einzige wirkliche gesundheitliche Problem.

Dies alles wird noch umfassender eintreffen, wenn die Absicht der Entwickler der fünften Ausgabe des DSM (DSM-V) umgesetzt wird, dort analog zu den physiologischen Risikofaktoren oder Surrogatparametern wie hohem Blutdruck oder Blutzucker, auch für den psychischen oder Verhaltensbereich so genannte "risk syndromes" aufzunehmen. Diese könnten als Frühwarnzeichen für künftige ernste Probleme der mentalen Gesundheit interpretiert und als Startzeichen für eine frühe Behandlung genutzt werden.

Wie einflussreich die APA und ihr Handbuch ist, deutet sie mit der Feststellung "representing 38,000 physician leaders in mental health" selbstbewusst an.

Wer sich die "Küche" genauer ansehen will, aus der möglicherweise 2013 die genannten "psychiatric disorders" oder "mental illnesses" den Weg in die Praxen und die nächsten Krankenkassenberichte über die weiter wachsende Inzidenz und Prävalenz psychischer Erkrankungen finden, kann dies auf einer speziellen Website der APA für die Weiterentwicklung des DSM zum DSM-V tun.

Dort werden unter der Überschrift "Proposed Draft Revisions to DSM Disorders and Criteria" Bezeichnungen und Kriterien für die möglicherweise in der nächsten DSM-Ausgabe enthaltenen "disorders" vorgestellt, die von so genannten "DSM-5 Work Groups" erarbeitet wurden. Hier finden sich dann die bereits zitierten aber auch ernsthaftere psychische Störungen wie "Schizophrenia and Other Psychotic Disorders" oder "Substance-Related Disorders" aufgelistet.

Und als ob die Etikettierung einer menschlichen Lebensäußerung als Krankheit nicht erst als solche wissenschaftlich belegt werden müsste, hängt das weitere Schicksal der ausdrücklich als noch "not final" bezeichneten Krankheitenliste zunächst davon ab, ob und welche Kommentare es zu ihr gibt: "These are initial drafts of the recommendations that have been made to date by the DSM-5 Work Groups. Viewers will be able to submit comments until April 20, 2010. After that time, this site will be available for viewing only."

Ein Kritiker dieser Art der Medikalisierung von normalem Leben und dieses Verfahrens, der Psychiatrieexeperte Christopher Lane, bezeichnet deren wissenschaftliche Untermauerung als "very shaky to non-existent".

Einerseits ist die offene Vorbereitung auf und Verständigung über die nächsten Medikalisierungs-, Pathologisierungs- oder Psychiatrisierungsschübe zu begrüßen - auch wenn es sich dabei um die typisch klandestine Internetoffenheit handelt. Wenn jene LeserInnen, die sich darüber aufregen, noch vor dem 20. April 2010 heftige Beiträge auf der Website platzieren wollen, seien sie hiermit gewarnt: daraus kann schnell eine "explosive disorder" werden!!

Trotzdem sollten die künftigen Gelegenheiten, und dazu gehört dann spätestens die Veröffentlichung des DSM-V im Jahr 2013, der Dokumentation psychischer Erkrankungen genutzt werden, gründlicher und hartnäckiger nach der wissenschaftlichen Evidenz der immer längeren und verzweigteren Symptom- und Syndromkataloge zu fragen und tatsächliche von angeblichen behandlungsbedürftigen Erkrankungen zu trennen.

Die Vorschlags-Liste der potenziell nächsten psychischen Erkrankungen samt der jeweiligen per Link erreichbaren Begründungen ist interaktiv noch bis zum 20.4.2010 zugänglich, danach nur noch als Katalog.

Bernard Braun, 8.4.10


Im mittleren Lebensalter geschieden, verwitwet oder Single? Dann ist im Alter das Alzheimer-Risiko deutlich erhöht

Artikel 1601 Personen, die im mittleren Lebensalter, also etwa mit 50, nicht mit einem Partner zusammen sind, weisen ein deutlich höheres Risiko auf, im späteren Lebensalter (mit 65-79 Jahren) an Demenz zu erkranken. Wer lange verheiratet war oder eine feste Beziehung hatte und dann im mittleren Lebensalter Witwe/r wurde, hat beispielsweise ein fast 8mal so hohes Risiko einer späteren Demenz-Erkrankung. Dies hat jetzt eine methodisch überaus fundierte finnische Verlaufsstudie gezeigt, die bei knapp 2000 Personen über einen sehr langen Zeitraum hinweg (1972 bis 1998) Daten erhoben hat.

Soziale Netzwerke und ein kommunikativer, sozial aktiver Lebensstil, so legen es einige epidemiologische Studien nahe, können aufgrund des intellektuellen und kommunikativen "Trainings" vor Demenz-Erkrankungen schützen. Leider handelte es sich bei den meisten dieser Untersuchungen um retrospektive Studien mit Daten über frühere Lebensbedingungen und Ereignisse. Solche durch Rückschau gewonnenen Befragungs-Daten können jedoch täuschen. Darüber hinaus haben viele Studien nur einen recht kurzen Untersuchungszeitraum von einigen Jahren. Und hier liegt die Schwierigkeit einer eindeutigen Klärung der Kausalität unmittelbar auf der Hand: Waren die Studienteilnehmer anfänglich sozial isoliert und inaktiv und hat dies zur späteren Demenz geführt? Oder waren sie zuvor schon in einem Demenz-Frühstadium und daher nicht in der Lage zu umfangreichen sozialen Aktivitäten?

Die jetzt in der Zeitschrift "British Medical Journal (BMJ)" veröffentlichte Studie basiert auf Stichproben von über 30 Tausend Teilnehmern, die in Finnland für mehrere medizinische Studien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht worden sind. Aus diesem Teilnehmerkreis wurde eine Teilstichprobe gewählt, rund 2000 Männer und Frauen, die im Jahr 1972 durchschnittlich etwa 50 Jahre alt waren bzw. mit einer gewissen Streuung auch ein wenig jünger oder älter. Für diese Gruppe und diesen Zeitpunkt lag eine Reihe von Daten vor, die in die spätere Analyse einflossen: Familienstand bzw. feste Partnerschaft, Bildungsniveau, Geschlecht, Rauchverhalten, BMI, Blutdruck, Berufstätigkeit, psychische Störungen.

In Verbindung gesetzt wurden diese Daten mit anderen Informationen, die dann etwa zwei Jahrzehnte später erhoben worden waren, also zu einem Zeitpunkt als die Studienteilnehmer im Durchschnitt etwas älter als 70 waren. Dazu gehörten insbesondere wieder Angaben zum neuen Familienstand, Untersuchungsergebnisse zu psychischen Erkrankungen (darunter kognitive Beeinträchtigungen sowie Alzheimer-Erkrankungen), sowie ferner auch Ergebnisse genetischer Analysen. Als Ergebnis dieser statistischen Analysen zeigte sich dann:

• Insgesamt und über alle Gruppen hinweg gilt die Tendenz: Wer im mittleren Lebensalter einen Partner hat, erkrankt später seltener an Alzheimer und zeigt auch seltener Anzeichen eines Nachlassens kognitiver Leistungen. Bei Singles, Witwern/Witwen und Geschiedenen ist über alle Untergruppen hinweg das Erkrankungsrisiko doppelt so hoch.
• Studienteilnehmer, die schon früh (also etwa mit 50) Witwe oder Witwer wurden, zeigten ein Demenzrisiko das knapp acht mal so hoch lag wie bei anderen, die den Partner nicht frühzeitig durch Tod verloren hatten.
• Bei Hinzuziehung genetischer Faktoren zeigte sich: Witwer, die Träger des APOE3-Gens waren (ein Genvariante, die für die Entstehung von Alzheimer mitverantwortlich gemacht wird) wiesen sogar ein 25mal so hohes Erkrankungsrisiko auf.
• Recht deutlich zeigen sich Geschlechtsunterschiede, ganz gleich, welche Gruppen man betrachtet: Im mittleren und auch im späteren Alter allein, zunächst mit Partner und dann allein. In allen Fällen lag das Risiko einer späteren Alzheimer-Erkrankung bei Männern, die im mittleren Alter allein waren, deutlich höher (zum Teil fast doppelt so hoch) wie bei Frauen.
• Vergleichbare Befunde wie für das Risiko der Alzheimer-Erkrankung ergaben sich auch für kognitive Beeinträchtigungen, die mit Testverfahren gemessen worden waren.

Die Befunde hatten auch in multivariaten Analysen Bestand, wenn der Einfluss anderer Faktoren (Bildungsniveau, Berufstätigkeit, Geschlecht, Rauchen, BMI, Blutdruck usw.) mitberücksichtigt wurde. Zur Erklärung ihrer Befunde diskutieren die Wissenschaftler ein Modell "sozio-genetischer Verletzbarkeit": Danach bewirkt der vorzeitige Verlust eines Partners Stresserfahrungen und Gefühle von Trauer und Einsamkeit, die ihrerseits wiederum das Immunsystem negativ beeinträchtigen und so die Entwicklung von Demenzerkrankungen vorantreiben.

Volltext der Studie: Krister Hakansson et al: Association between mid-life marital status and cognitive function in later life: population based cohort study (BMJ, Published 2 July 2009, doi:10.1136/bmj.b2462)

Gerd Marstedt, 8.7.09


Das Vorurteil der durchweg gewalttätigen "Verrückten" lässt sich anhand empirischer Daten nicht bestätigen

Artikel 1484 In Thrillern wie "Das Schweigen der Lämmer" oder "Sieben" erschauern wir im Kino noch ein bisschen mehr, wenn Gewalttäter auch noch "verrückt" sind. Auch in den Medien gehen Gewalttaten und psychische Störungen oft Hand in Hand. Eine deutsche und eine Schweizer Studie haben aufgrund einer Analyse von Tageszeitungs-Artikeln gezeigt, dass psychisch Kranke in der überwiegenden Zahl der Fälle als aggressiv und gewalttätig dargestellt werden (vgl.: Michael Eink: Oh Gott, wieviel Verrückte laufen frei herum?).

Die epidemiologische Forschung über Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und Gewalttaten kam bislang zu keinen einheitlichen Befunden, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Teilnehmerzahl der jeweiligen Studien eher überschaubar war. Eine neue US-amerikanische Längsschnittuntersuchung mit über 34 Tausend Teilnehmern hat nun neue Befunde erbracht. Die zentrale Erkenntnis der Studie heißt: Psychische Erkrankungen für sich allein genommen zeigen keine signifikanten Effekte für Gewalttätigkeiten, der Schizophrene oder Depressive ist nicht aggressiver oder krimineller als jeder Normalbürger. Dann allerdings, wenn sich bei psychisch Erkrankten zusätzliche, problematische Bedingungen ergeben wie u.a. Drogen- oder Medikamentenmissbrauch, Ehescheidung oder Arbeitsplatzverlust, steigt das Risiko für Gewalttaten.

Die Studie basiert auf einer Längsschnitt-Untersuchung bei 34.653 Teilnehmern ("National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions (NESARC)"), die primär durchgeführt wurde, um Hintergründe des Alkoholkonsums und Alkoholmissbrauchs zu erfassen. In zwei Erhebungs-Wellen, 2001-2003 und 2004-2005, wurde bei den Teilnehmern eine Vielzahl von Daten erfasst: Sozialer und familiärer Hintergrund, psychische Störungen, Drogen, Gewalttaten und aggressives Verhalten, negative Lebenserfahrungen wie Scheidung oder Arbeitsplatzverlust. Anhand der Informationen aus der ersten Erhebung wurde dann überprüft, ob sich drei oder vier Jahre später in der zweiten Erhebung auffällige Zusammenhänge zu Gewalttaten nachweisen ließen.

Im Rahmen multivariater Analysen, also bei gleichzeitiger Berücksichtigung einer Vielzahl von Einflussfaktoren wurde dann deutlich, dass eine Häufung von Gewalt für die erfassten psychischen Erkrankungen Schizophrenie, Depression und bipolare Störung (früher: "manisch-depressiv") nicht nachweisen ließ. Erst wenn weitere Faktoren bei psychisch erkrankten Untersuchungsteilnehmern hinzukamen, stieg das Risiko von Gewalt. Die dabei bedeutsamsten Hintergrundfaktoren waren: junges Lebensalter, männliches Geschlecht, frühere Gewalttaten, Ehescheidung, als Kind missbraucht, Eltern kriminell, im letzten Jahr arbeitslos oder selbst Opfer von Gewalt geworden, Drogenmissbrauch.

Hier ist ein Abstract der Studie: Eric B. Elbogen, Sally C. Johnson: The Intricate Link Between Violence and Mental Disorder. Results From the National Epidemiologic Survey on Alcohol and Related Conditions (Arch Gen Psychiatry. 2009;66(2):152-161.)

Gerd Marstedt, 10.2.09


Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder "Heimkehrertrauma": Liegt die "Hardthöhe" im Tal der Ahnungslosen?

Artikel 1478 Es bedurfte erst des am 2. Februar 2009 in der ARD ausgestrahlten Fernsehfilms "Willkommen zu Hause" um die ersten realistischen Zahlen der an einer kriegsbedingten PTBS erkrankten in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten aus den Verantwortlichen des immer noch auf der Bonner Hardthöhe residierenden Bundesverteidigungsministeriums herauszulocken und über ein bereits seit dem Vietnamkrieg in den USA dokumentiertes und diskutiertes Erkrankungsbild bei in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelten Soldaten offen zu diskutieren. Die Zahl der PTBS-Fälle bei diesen Bundeswehrsoldaten stieg nach offiziellen Angaben von 55 im Jahr 2006 über 130 in 2007 auf 226 in 2008 (laut Süddeutscher Zeitung vom 3. Februar 2009).

Offensichtlich saßen die ministerialen Strategen lange ihrer eigenen Propaganda vom "friedlichen Einsatz" auf, bei dem die Soldaten eigentlich nur Entwicklungshelfer in Uniform sind und "Deutschland am Hindukusch" verteidigen. "Kriegsbedingte" oder wie man dies seit dem Balkankrieg nennt kollaterale Schäden bei Bundeswehrangehörigen - unmöglich!!

Wer nicht warten will bis das vom Bundesverteidigungsministerium eigens dafür angekündigte "Kompetenz- und Forschungszentrum" der Bundeswehr die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten auch für die im Bundeswehr-Kriegseinsatz befindlichen jungen Deutschen zusammengetragen hat, sollte sich lieber gleich oder parallel in der umfänglichen und bemerkenswert realistischen us-amerikanischen Fachliteratur umsehen.

Diese kann auf die Erfahrungen mit mehreren massiven militärischen Interventionen der USA in Vietnam, am Golf, im Irak und eben auch in Afghanistan zurückgreifen in denen Hunderttausende wenn nicht gar Millionen von US-Amerikanern über Jahre und Jahrzehnte in brutale und assymmetrische Kriege verwickelt waren und körperlich wie seelisch litten.

Das eigens für die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Belange von Ex-Soldaten in den USA eingerichtete staatliche Department of Veterans Affairs (VA) gehört zu den Hauptauftraggebern mehrerer großer Studien und Reports über die physischen und psychischen Folgen der Teilnahme an diesen Kriegen. In einer mehrbändigen Serie beschäftigt sich das "Committee on Gulf War and Health: Physiologic, Psychologic, and Psychosocial Effects of Deployment-Related Stress" im 2008 erschienenen Band 6 unter der Überschrift "Gulf War and Health: Physiologic, Psychologic, and Psychosocial Effects of Deployment-Related Stress" auf 360 Seiten vor allem mit der seit 1980 in das "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III)" aufgenommenen Erkrankung des "posttraumatic stress disorder (PTSD)".

Akribisch und sehr differenziert und zurückhaltend listet das Komitee, dem auch das US-"Institute of Medicine (IOM)" angehört, die wissenschaftliche Evidenz für eine Assoziation zwischen dem Aufenthalt in einer kriegerischen Zone und den PTSD-Symptomen auf. So heißt es beispielsweise im "exekutive summary" des Buches:

• "Evidence from available studies is sufficient to conclude that there is a causal relationship between deployment to a war zone and a specific health effect in humans."
• "Evidence from available studies is sufficient to conclude that there is a positive association. That is, a consistent positive association has been observed between deployment to a war zone and a specific health effect in human studies in which chance and bias, including confounding, could be ruled out with reasonable confidence."
• "Evidence from available studies is suggestive of an association between deployment to a war zone and a specific health effect, but the body of evidence is limited by the inability to rule out chance and bias, including confounding, with confidence. For example, at least one high-quality study reports a positive association that is sufficiently free of bias, including adequate control for confounding, and other corroborating studies provide support for the association (corroborating studies might not be sufficiently free of bias, including confounding). Alternatively, several studies of lower quality show consistent positive associations, and the results are probably not due to bias, including confounding."

Der gesamte Report kann, wie viele anderen Publikationen der "National Academies press" auch kostenlos online gelesen werden. Wem dies zu zu augenbelastend ist, kann außerdem ein 29 Seiten umfassendes Summary samt Inhaltsangabe kostenlos als PDF-Datei herunterladen.

Neben dem evidenten Zusammenhang von kriegerischen Einsätzen und PTBS oder PTSD haben sich die amerikanischen Experten auch schon über andere Zusammenhänge Gedanken gemacht. Im Band 7 der Reihe "Gulf War and Health" geht es um "Long-Term Consequences of Traumatic Brain Injury" und seinen langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen.

Auch hier ist der Zugang zur Online-Lektüre des gesamten, 2008 erschienenen Buches und weiteren inhaltlichen Kurzfassungen kostenlos.

Bei allen gute Ideen zur besseren Vorbereitung, gezielten Untersuchung und spezifischen Behandlung von psychisch traumatisierten Soldaten vor künftigen oder nach vergangenen kriegerischen Einsätzen ist zu hoffen, dass auch primärpräventive Forderungen, derartige Kriegseinsätze künftig am besten zu unterlassen, nicht mehr länger als pazifistisches Gutmenschentum abgetan werden.

Bernard Braun, 3.2.09


Psychische Erkrankungen nehmen zu? Eine Auswertung von 44 Studien bringt keine Belege für diese weit verbreitete These

Artikel 1390 Unlängst warnte die Europäische Union: "Jeder vierte Europäer ist psychisch krank". "Psychische Erkrankungen nehmen zu", hatte es schon 2004 in einem für die DAK erstellten Bericht von Manfred Zielke und Klaus Limbacher "Fehlversorgung bei psychischen Erkrankungen" geheißen. Aufgezeigt wird dort, dass "seit 1997 die Krankheitstage infolge von psychischen Erkrankungen bei gleichzeitigem Rückgang des Krankheitsgeschehens insgesamt zunehmen" und dass der "Anteil von krankheitsbedingten Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen dramatisch steigt". Auch andere Krankenkassen verkünden die Hiobsbotschaft: "Psychische Erkrankungen steigen weiter an". Gibt es tatsächlich eine "Epidemie" psychischer Erkrankungen und kann man die Befunde von Gesundheitsreporten der großen Krankenkassen auf diesen Nenner bringen?

Ein Forschungsteam der Universität Münster hat die zuletzt immer wieder in den Schlagzeilen auftauchende Meldung von der Zunahme psychischer (oder psychiatrischer) Erkrankungen aufgegriffen und anhand von insgesamt 44 schon veröffentlichten, methodisch hochwertigen Studien neu überprüft. Auch die Münsteraner Wissenschaftler räumen ein, dass es eine Reihe von Indikatoren gibt, die diese These zu bestätigen scheinen: "Der Anteil von psychiatrisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstagen oder aber der Anteil von psychischen Störungen an Erwerbsminderungsberentungen ist in Deutschland und darüber hinaus seit einiger Zeit stetig gestiegen. Ebenso deutlich angestiegen ist die Behandlungsprävalenz sowie die Verschreibungshäufigkeit für psychopharmakologische Präparate, insbesondere für Antidepressiva."

Zentrales Fazit der Auswertung von 44 Studien ist dann jedoch, dass kein einheitlicher Trend erkennbar ist. Einige Studien finden eine Zunahme, andere finden sinkende Quoten, wieder andere eine weitgehende Konstanz. Es "konnte kein eindeutiger Trend erkannt werden, der darauf schließen lässt, dass die Häufigkeit psychischer Störungen in der Bevölkerung westlicher Länder in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg anhaltend zugenommen hat. Möglicherweise war ein Anstieg der Prävalenz und Inzidenz in den ersten Dekaden unseres Beobachtungszeitraums vorhanden, dieser mögliche Trend hat sich jedoch offenbar nicht weiter fortgesetzt."

Die Wissenschaftler sehen ihre Befunde auch bestätigt durch andere Indikatoren, wie beispielsweise Längsschnittdaten über Suizidraten oder den Alkoholkonsum. Auch hier zeigt sich, dass etwa bis Anfang der 80er Jahre für diese Indikatoren steigende Werte gefunden werden, danach jedoch absinkende oder zumindest gleich hohe Quoten. Dass andererseits etwa in Statistiken zur Arbeitsunfähigkeit oder Frühverrentung zunehmende Quoten psychischer Erkrankungen gefunden werden, erklären die Wissenschaftler daraus, dass vormals als normale erlebte Befindlichkeitsprobleme und durchaus geläufige Emotionen neuerdings als psychiatrische Symptome klassifiziert werden. Als Hinweis hierauf bewerten sie etwa den Befund, dass die Rate der Personen in der amerikanischen Bevölkerung, die nach eigenem Erleben schon einen 'Nervenzusammenbruch' erlebt hat, zwischen den 1950er- und den 1990er-Jahren erheblich angestiegen ist. Damit ist es wohl zu einer größeren 'Entstigmatisierung' psychischer Störungen gekommen, vor allem der Depression und dieser Trend verstärkt auch die Bereitschaft, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Schlussbemerkung der Wissenschaftler ist: "Die 'gefühlte' Zunahme psychischer Störungen bildet offenbar etwas anderes ab als eine tatsächliche Zunahme der Inzidenz und Prävalenz psychischer Störungen."

Von der Studie ist leider nur ein Abstract kostenlos verfügbar: Richter, Dirk; Berger, Klaus; Reker, Thomas: Nehmen psychische Störungen zu? Eine systematische Literaturübersicht{Psychiatrische Praxis 2008; 35: 321-330}

Durchaus lesenswert und im Volltext verfügbar ist die in der Zeitschrift "Psychiatrische Praxis", Heft 07, Oktober 2008 veröffentlichte "Debatte Pro und Kontra": Spießl, Hermann; Jacobi, Frank: Nehmen psychische Störungen zu?

Gerd Marstedt, 9.11.08


Allzu patente Kurzfragebögen sind für die Entdeckung, Behandlung und den Behandlungserfolg von Depressionen nutzlos

Artikel 1190 Wer träumt nicht manchmal von einem unaufwändigen, einfach einzusetzenden und dann auch noch hochwirksamen Instrument, um Krankheitsrisiken identifizieren und quantifizieren zu können und zum krönenden Schluss auch noch erfolgreiche Lösungen erreichen zu können!?

In den Fußspuren des Kurzfragebogens zur Lebensqualität SF ("short form")36 oder dessen noch kürzere Variante dem SF 12 gibt es mittlerweile 6 Fragen-Fragebögen mit denen jeder Arzt fast nebenbei das Depressionsrisiko seiner PatientInnen eingrenzen können soll.

So verständlich das Interesse von ForscherInnen und PraktikerInnen im Gesundheitswesen an verständlichen, kurzen, preisgünstigeren und bei den Befragten akzeptierten Frageinstrumenten auch ist, so wichtig ist die Frage, ob damit wirklich noch die genannten Ziele erreicht werden oder der Anteil von Fehlmessungen kritisch hoch ist.

Damit beschäftigten sich nun in der neuesten Ausgabe des "Canadian Medical Association Journal (CMAJ)" (2008; 8. April: 178-186) die britischen Wissenschaftler Simon Gilbody, Trevor Sheldon und Allan House am Beispiel von Screening- und Fallidentifizierungs-Instrumenten für Depressionen in der normalen, d.h. nicht psychiatrisch spezialisierten ärztlichen Versorgung.
Dieser Fokus ist deshalb wichtig, weil bei einer bekannten Prävalenz von 5-10% depressiv Erkrankter in der Bevölkerung ungefähr die Hälfte dieser Fälle in der primärärztlichen ambulanten Praxis oder in Allgemeinversorgungs-Krankenhäusern übersehen werden und dann meist nur mit erheblicher Verzögerung behandelt werden.

Dazu führten sie einen systematischen Cochrane-Review der randomisierten kontrollierten Studien durch, in denen "case-finding or screening instruments for depression" auf ihre Wirksamkeit bei der Entdeckung, dem Management und den Ergebnissen für Patienten mit Depressionen hin untersucht wurden. Dies waren 16 Studien mit insgesamt 7.576 Patienten.

Die Ergebnisse sind für diejenigen Akteure welche sich allein vom Einsatz derartiger Instrumente positive Wirkungen erhoffen, desillusionierend: "If used alone, case-finding or screening questionnaires for depression appear to have litle or no impact on the detection and management of depression by clinicians. Recommendations to adopt screening strategiesa using standardized questionnaires without organizational enhancements are not justified."

Als Beispiel für Wirkungen auf das Management der Depression wurde die Verordnung von antidepressiven Medikamenten betrachtet und nicht zuletzt wurde in 7 Studien auch untersucht, ob der Einsatz derartiger Instrumente Auswirkungen auf das Ergebnis der Behandlung von Depressionen gehabt hat. Auch hier: Fehlanzeige.

Wie bereits angedeutet, steigt die Wahrscheinlichkeit einer positiven Wirkung von Screeninginstrumenten, je spezifischer sie sind, je weniger individuellen Rechenaufwand damit gewonnene Informationen vom Arzt verlangen und je mehr sie in komplexere Diagnose- und Therapiekonzepte eingebunden sind. Dazu zählen beispielsweise aktive Unterstützung durch einen Case Manager, individualisierte Behandlungsalgorithmen oder regelmäßige Konsultation mit einem Psychologen oder Psychiater.

Der Aufsatz "Screening and case-finding instruments for depression: a meta-analysis" lässt von der CMAJ-Homepage komplett und kostenfrei herunterladen.

Bernard Braun, 10.4.2008


"Epidemie" psychischer Erkrankungen im Spiegel der Gesundheitsreporte von Krankenkassen - ein Überblick

Artikel 0540 Bei seit Jahren fast kontinuierlich sinkendem Krankenstand, stiegen die Fälle von gemeldeter Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Störungen ebenso kontinuierlich an. Dies zeigen eine Reihe von voneinander unabhängigen Gesundheitsberichte verschiedener gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland.
Eine vergleichende Analyse der Arbeitsunfähigkeitsberichte der AOK, Barmer Ersatzkasse, BKK, DAK, IKK und Techniker Krankenkasse für das Jahr 2005 zeigt, dass psychische Erkrankungen bei diesen Krankenkassen an die dritte bis fünfte Stelle aller Ursachen für Arbeitsunfähigkeit gerückt sind. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht jede psychische Erkrankung zu Arbeitsunfähigkeit führt oder auch aus Rücksicht auf den oder die Erkrankte von einer psychischen Diagnose abgesehen wird, also AU-Analysen die spezifische Erkrankungslast eher untererfassen, bestätigen die Ergebnisse andere Untersuchungen. So macht nach einem WHO-Bericht aus dem Jahre 2006 mindestens jede vierte Person in ihrem Leben eine psychische Krankheitsepisode durch und der Bundesgesundheitssurvey zeigte im Jahre 1998, dass 32 % der 18- bis 65-Jährigen von einer oder mehreren psychischen Störungen betroffen waren. Alles in allem werden nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 2002 fast 10 % der Gesamtausgaben für Gesundheit für die Behandlung psychischer und Verhaltensstörungen ausgegeben.

In der bereits angesprochenen und in Heft 2/2006 des "Psychotherapeutenjournal" (S. 123-129) veröffentlichten Analyse "Psychische Erkrankungen im Fokus der Gesundheitsreporte der Krankenkassen" von Julia Lademann, Heike Mertesacker und Birte Gebhardt vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen werden die unterschiedlich differenzierten Resultate der verschiedenen Gesundheitsberichte ausführlich dargestellt.
Sofern die Analysen so differenziert durchgeführt wurden, zeigt sich eine Dominanz affektiver (z.B. Depression) und neurotischer Störungen. Alle betrachteten Krankenkassen berichten über ein höheres Ausmaß von entsprechenden Krankheitsfällen und -tagen bei Frauen. Auffällig ist auch der bei mehreren Kassen beobachtete überproportionale Anstieg psychischer Erkrankungen bei jüngeren Menschen zwischen 15 und 35 Jahren. Zu den durchgängigen Mustern gehört ferner eine besondere Betroffenheit von Angehörigen der Dienstleistungsberufe und von Arbeitslosen.

Psychische Störungen führen aber nicht nur zu mehr Arbeitsunfähigkeit, sondern auch zu einer höheren Inanspruchnahme stationärer Behandlung, psychotherapeutischer Angebote und spezifischer Arzneimittelverordnungen. Hier zeigen die Auswertungen der Daten der genannten Kassen z.B. einen enorm hohen (43 % aller Fälle) Anteil der Krankenhauseinweisungen wegen Substanzmissbrauch (vor allem Alkohol) bei den männlichen Versicherten.
Der Überblick der Bremer Autorinnen zeigt auch die Einigkeit der verschiedenen Gesundheitsberichte über den multifaktoriellen Hintergrund dieser Entwicklung.

Der Beitrag schließt mit einem kurzen Überblick über einige von den genannten Krankenkassen gestarteten Programme zu neuen Versorgungsansätzen bei der Behandlung psychischer Störungen. Gefordert werden aber auch Programme, die sich den speziellen Ursachen der psychischen Erkrankungen von jungen Menschen, Frauen oder Angehörigen personaler Dienstleistungsberufe widmen. Die vorhandenen Programme sollten nach Ansicht der Autorinnen auch gründlich evaluiert werden.

Der Vollständigkeit halber und teilweise auch zur Bestätigung und Vertiefung des von Lademann et al. aus den Berichten anderer Kassen zusammengestellten Kenntnisstandes, sei auch auf weitere zu ähnlichen Ergebnissen kommende Berichte verwiesen: In Frage kommen beispielsweise der GEK-Gesundheitsreport 2004 mit dem Schwerpunkt Gesundheitsstörungen durch Alkohol oder der GEK-Gesundheitsreport 2001 mit dem Schwerpunkt Psychische Störungen.

Hier können Sie den Übersichtsartikel "Psychische Erkrankungen im Fokus der Gesundheitsreporte der Krankenkassen" von Julia Lademann, Heike Mertesacker und Birte Gebhardt herunterladen.

Bernard Braun, 4.2.2007


Psychische Erkrankungen in Europa - eine "stille Epidemie"!?

Artikel 0369 Nachdem sich in Deutschland wie in anderen vergleichbaren Ländern in Krankheitsberichten seit Jahren ein Trend der Zunahme psychischer Erkrankungen bei den Krankschreibungen aber auch der stationären Aufenthalte und Frühberentungen abzeichnet, liefert jetzt eine aktuelle zwischen Dezember 2005 und Januar 2006 durchgeführte Befragung der Europäischen Kommission im Rahmen des "Eurobarometers" zu "Mental Well-being" wichtige Zusatzinformationen über den Umfang, die Ursachen und Folgen derartiger Erkrankungen.

Das Wichtigste in Kürze:
• Rund 25 % aller Europäer haben danach mindestens einmal in ihrem Lebene ein psychisches Problem.
• 21 % aller Befragten waren in den letzten vier Wochen aufgrund psychischer Probleme krankgeschrieben.
• Die Beeinträchtigung ihrer Beschäftigung ist bei psychisch Kranken auch wesentlich höher als bei Menschen mit einer körperlichen Behinderung: Während 20 % der psychisch Kranken noch einer Beschäftigung nachgeht, sind es 65 % bei den körperlich Kranken.
• Entsprechend hoch sind die ökonomischen Verluste durch die psychischen Erkrankungen: 3 bis 4 % des Bruttoinlandsprodukts.
• Eine Reihe von Vorurteilen gegen psychisch Kranke (z.B. sie seien selbst an ihrer Erkrankung schuld oder sie stellten eine Gefahr für andere dar) sind weit verbreitet.
• Dies könnte schließlich mit dazu beitragen, dass nur rund die Hälfte der so Erkrankten sich zur Behandlung an einen Arzt oder andere Experten wendet, der Rest aber Familienmitglieder oder Freunde aufsucht.

Hier findet sich die PDF-Datei des fast 100 Seiten umfassenden Special Eurobarometer-Berichts "Mental Well-being"

Bernard Braun, 5.12.2006


Depression - Broschüre des BMBF informiert über neuere Forschungsbefunde

Artikel 0367 Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Depression. Rund 11.000 Menschen begehen hierzulande jährlich Selbstmord, 40-50% von ihnen sind Depressions-Patienten. Bei mehr als 50 Prozent der Patienten wird die depressive Erkrankung und damit oft auch die Selbstmordgefährdung jedoch nicht erkannt. Aufgrund der epidemiologischen Bedeutung hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung jetzt eine sehr umfassende Broschüre zum Thema herausgegeben: "Es ist, als ob die Seele unwohl wäre... Depression - Wege aus der Schwermut. Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis."

Auf 72 Seiten informiert die Broschüre, die auch viele Tabellen mit Forschungsergebnissen, Diagramme und Grafiken enthält, über unterschiedlichste Aspekte des Themas Depression: Krankheitssysmptome, Epidemiologie, neue Forschungsergebnisse zur Ätiologie, medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungsformen, aktuelle Depressionsforschung in Deutschland. Dabei wird auch auf laienmedizinische Fragen eingegangen wie: "Vom Einfluss der Hormone: Depression durch zu viel Stress?", "Sind Depressionen erblich?" oder "Gibt es Suizid-Anzeiger, biochemische Suizid Warnhinweise?"

Download der Broschüre (72 Seiten, 1.07 MB): Es ist, als ob die Seele unwohl wäre... Depression - Wege aus der Schwermut. Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis

Gerd Marstedt, 5.12.2006


Psychische Störungen: Frauen häufiger betroffen als Männer

Artikel 0211 Wie häufig treten psychische Störungen in Deutschland und den Ländern der EU auf? Wie hoch ist das Risiko, irgendwann im Leben an einer psychischen Störung zu leiden? Wie viele der Betroffenen werden behandelt? Wie hoch sind Belastung und Kosten im Zusammenhang mit psychischen Störungen in der EU? Dies sind nur einige der Fragen, zu denen jetzt in zwei englischsprachigen Berichtsbänden Ergebnisse veröffentlicht wurden. Im Bericht finden sich erstmals gesicherte Daten zur aktuellen Situation der psychischen Gesundheit in Europa. Ausgewertet wurden die Daten von insgesamt 150.000 Betroffenen aus 27 Studien. Hans-Ulrich Wittchen, Professor der Klinischen Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden stellte am 1.12.2005 anlässlich des 1. Deutschen Präventionskongresses die Bestandsaufnahme zur psychischen Gesundheit in Europa vor. Die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammengefasst lauten:

• Jedes Jahr leiden in der EU 27% (83 Millionen) Männer und Frauen unter psychischen Störungen; einige chronisch, einige episodisch, einige nur einmalig für einige Wochen.
• Im Laufe des Lebens erkrankt jeder zweite zumindest einmal an einer psychischer Störung.
• Bei den meisten Störungen sind Frauen (33%) häufiger betroffen als Männer (22%), Ausnahmen: Alkohol-, Substanzstörungen und psychotische Störungen.
- Viele psychische Störungen beginnen vor dem 20. Lebensjahr und bleiben über die gesamte Lebenspanne bestehen
• Wann immer eine Störung auftritt, gibt es eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Diagnose (= Komorbidität).
• Bedeutsame Unterschiede zwischen den EU-Ländern finden sich nicht.
• Es gibt wenig Anhaltspunkte für erhöhte Raten psychischer Störungen im letzten Jahrzehnt (außer Depression und Drogengebrauch).
• Psychische Störungen sind nahezu ausnahmslos mit Beeinträchtigungen der sozialen Rollen verbunden (schulische/berufliche Leistung, Elternschaft, soziale Kontakte, intime Partnerschaften). Schwere Beeinträchtigungsprofile wurden bei ungefähr einem Drittel gefunden.
• Die gesamten indirekten Kosten sind immens und übersteigen bei weitem die direkten Kosten im Gesundheitswesen.
• Pro Jahr bleiben zwei Drittel aller psychischen Störungen unbehandelt; nur einer von vier Betroffenen (26%) erhält zumindest eine minimale Intervention (z.B. eine kurze Beratung, ein kurzes Gespräch mit dem Hausarzt).
• Wenn eine psychische Störung erkannt wird, wird am häufigsten mit Psychopharmaka behandelt, Psychotherapie wird nur selten als alleinige Behandlung angeboten.
• Unterbehandlung ist besonders häufig bei Kindern und jungen Erwachsenen, bei Angststörungen und Substanzstörungen zu beobachten.

Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie liegt als PDF-Datei vor: Psychische Störungen in Deutschland und der EU - Größenordnung und Belastung. Der Aufsatz bietet einen guten Überblick über aktuelle empirische Studien zur Verbreitung psychischer Störungen und Erkrankungen (Alkohol- und Drogenabhängigkeit, Depressionen, Phobien usw.).

Gerd Marstedt, 9.12.2005


Jeder vierte Europäer ist psychisch krank - warnt die EU

Artikel 0158 In vielen Tageszeitungen tauchte jetzt eine ähnliche Meldung auf: "Jeder vierte EU-Europäer ist psychisch krank. Mehr als 27 Prozent aller Erwachsenen in der EU bekämen jedes Jahr entsprechende Probleme, teilte die Brüsseler Behörde mit. Am häufigsten träten dabei Depressionen und Angststörungen auf. Psychische Erkrankungen seien die Hauptursache für die rund 58.000 Selbsttötungen jährlich in der EU. Das übertreffe die Zahl der Verkehrstoten." Zwischen den EU-Staaten gebe es erhebliche Unterschiede, so reiche die Selbstmordrate von 44 pro 100.000 Personen in Litauen bis zu 3,6 pro 100.000 Menschen in Griechenland. Hintergrund der Pressemeldung war die Vorstellung einer EU-Veröffentlichung "Grünbuch psychische Gesundheit", das die EU-Kommission in Brüssel vorstellte. Depressionen und Angststörungen seien die am weitesten verbreiteten Krankheiten, erläuterte ein Sprecher. Die Zahl der Selbstmorde sei in der EU derzeit höher als die der Verkehrstoten.

Mit dem Grünbuch will die Kommission eine politische Debatte darüber anstoßen, wie dem Problem psychischer Störungen auf EU-Ebene besser begegnet werden kann. Die Kommission schlägt verschiedene Maßnahmen vor, darunter einen Dialog mit den Mitgliedsstaaten über einen Aktionsplan zur psychischen Gesundheit. Auch über ethische Fragen wie die Grundrechte psychisch kranker und geistig behinderter Menschen soll beraten werden und mit Hilfe eines neuen Informationssystems will die Kommission Daten sammeln, Trends beobachten und bewährte praktische Methoden ermitteln. Kurzum: Die Maßnahmen der Kommission zielen auf eine Entwicklung von Maßnahmen.

Die mitgeteilten Daten zur Verbreitung psychischer Erkrankungen sind im Übrigen nicht neu. Sie basieren auf einem schon 2004 vorgestellten Dossier "The State of Mental Health in the European Union", das (in englischer Sprache) auf 86 Seiten sehr detaillierte Statistiken und Diagramme zur Epidemiologie psychischer Erkrankungen in der EU darstellt, darunter: Verbreitung psychischer Störungen und psychiatrischer Erkrankungen, Selbstmorde, Alkohol-, Tabak- und Drogenprobleme, Einfluss von Risikofaktoren wie Armut, Migration, Arbeitslosigkeit. Auch gesundheitspolitische Maßnahmen und Indikatoren zur medizinischen Versorgung werden ansatzweise erläutert.

Gerd Marstedt, 19.10.2005


Psychische Erkrankungen führen immer häufiger zur Arbeitsunfähigkeit

Artikel 0003 Der Trend zu niedrigen Krankenständen setzt sich nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) weiter fort. Bei den fast 10 Millionen AOK-Mitgliedern ging der Krankenstand auch im Jahr 2004 deutlich zurück und erreichte mit 4,5% den niedrigsten Wert seit mehr als 10 Jahren. Trotz insgesamt sinkender Krankenstände nehmen aber die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen zu. Die Zahl der Krankmeldungen nahm auch im Jahr 2004 erheblich ab. Gegenüber dem Vorjahr war ein Rückgang um 8,9% zu verzeichnen. Im Durchschnitt waren die AOK-Mitglieder 16,4 Tage krank geschrieben. Im Jahr zuvor waren es noch 17,7 Tage gewesen. In Ostdeutschland fiel der Krankenstand mit 4,3% noch niedriger als im Westen aus. Dort lag er bei 4,5%.

Psychische Erkrankungen haben in den letzten Jahren vermehrt zu Arbeitsausfällen geführt. Allein im Jahr 2004 stieg die Anzahl der dadurch bedingten Ausfalltage um 10%. Frauen sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als Männer. Bei ihnen stellen diese nach den Muskel- und Skeletterkrankungen und Atemwegserkrankungen mittlerweile die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Fehlzeiten dar. In den letzten Jahren haben allerdings psychische Erkrankungen bei Männern stark zugenommen (Anstieg der AU-Fälle um 82% im Zeitraum von 1994 - 2003), so dass sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit der Erkrankungen verringert haben. Überdurchschnittlich viele Erkrankungstage aufgrund psychischer Erkrankungen sind im Gesundheitswesen, im Versicherungsgewerbe und in der öffentlichen Verwaltung zu verzeichnen. Bei den psychischen Erkrankungen dominieren Depressionen und neurotische Erkrankungen. Dazu gehören beispielsweise Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Reaktionen auf schwere Belastungen und psychosomatische Erkrankungen.

Weitere Infos:   Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO)

Gerd Marstedt, 6.7.2005