Home | Patienten | Gesundheitssystem | International | GKV | Prävention | Epidemiologie | Websites | Meilensteine | Impressum

Sitemap erstellen RSS-Feed

RSS-Feed
abonnieren


Sämtliche Rubriken in "Prävention"


Präventionspolitik, Präventionsprogramme

Betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz

Maßnahmen, Projekte zur Gesundheitsförderung

Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung, Sport usw.)

Wellness, Gesundheit als Lifestyle

Früherkennung, Screening

andere Themen



Alle Artikel aus:
Prävention
Maßnahmen, Projekte zur Gesundheitsförderung


Alkoholmindestpreis senkt Alkoholkonsum

Artikel 2698 Gesundheitswissenschaftlich ist gut belegt, dass die Schäden von Alkoholkonsum am effektivsten durch Maßnahmen reduziert werden, die auf den Preis, die Verfügbarkeit und das Marketing von Alkohol zielen. Nach bisherigen Erfahrungen führen Preiserhöhungen zu geringerem und Preissenkungen zu höherem Konsum (wir berichteten: Alkohol: höhere Preise - weniger Probleme). Gezielter soll der Mindestpreis für die Einheit Alkohol ("alcohol minimum unit pricing", MUP) wirken, der in erster Linie den Konsum riskant Konsumierender und Jugendlicher mindern soll. Die Englische Regierung hatte daher die Einführung des Mindestpreises beschlossen, war dann aber vor der Alkoholindustrie und den großen Lebensmittelketten eingeknickt (wir berichteten).

Die schottische Regierung war mutiger und hat zum 1. Mai 2018 den Mindestpreis für die Einheit Alkohol eingeführt. Das entsprechende Gesetz war bereits 2012 verabschiedet worden. Die Verzögerung ergab sich daraus, dass sich erst der Europäische Gerichtshof mit dem Gesetz befassen musste und letztlich der UK Surpreme Court in seinem Urteil die Maßnahme für verhältnismäßig erklärte und damit eine Klage der Scotch Whisky Association abwies.

Infolge des Gesetzes wurde der Mindestpreis für eine Einheit Alkohol (in den UK 8 Gramm) zum 1.5.2018 auf 50 Pence (€ 0,55) festgesetzt.

Eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern hat die ersten Auswirkungen auf das Konsumverhalten in Schottland in den 34 Wochen von Mai bis Ende Dezember 2018 untersucht. Die Daten lieferte eine Paneluntersuchung, in der das Einkaufsverhalten einer großen und repräsentativen Stichprobe von Haushalten erhoben wird. Für die Studie wurden 290.000 Alkoholeinkäufe von 5325 Haushalten in Schottland und zum Vergleich 2,83 Mio. Einkäufe in 54.807 Haushalten in Nordengland und 800.000. Einkäufe in 10.040 Haushalten in England für die Jahre 2015 bis 2018 ausgewertet. Nordengland wurde als Vergleich gewählt, weil die Bevölkerung der schottischen sozioökonomisch ähnlich ist.

Aufgrund der mehrfachen Erhebung der Daten in einem zeitlichen Längsschnitt und dem Vorhandensein von 2 Vergleichsregionen handelt es sich um eine sog. "controlled interrupted time series analysis".

Erfasst wurde Veränderungen der Alkoholpreise im Einzelhandel, die Mengen Alkohol, die im Einzelhandel gekauft wurden und die wöchentlichen Ausgaben für Alkoholeinkäufe.

Mit Einführung des Mindestpreises stieg der Preis um 6,4 Pence bzw. 7,9% für ein Gramm Alkohol. Der wöchentliche Einkauf sank um 9,5 g Alkohol pro Erwachsenen im Haushalt.
Die Ausgaben für Alkoholeinkäufe stiegen leicht, aber statistisch nicht signifikant. Der Anstieg der Ausgaben war höher in Haushalten mit niedrigerem Einkommen und in den Haushalten mit den größten Alkohol-Einkaufsmengen.

Der Einkauf von Bier, Spirituosen und Cider sank am stärksten, also von relativ billigen Getränken (Eigenmarken von Spirituosen, starkem Cider). Den größten Effekt zeigte die Preiserhöhungen in Haushalten mit gleichzeitig niedrigem Einkommen und hohen Ausgaben für Alkohol.

Die Autoren schlussfolgern, dass die Einführung des Mindestpreises erfolgreich darin war, die von schottischen Haushalten insgesamt gekaufte Alkoholmenge zu reduzieren. Die Nachfrage nach billigem Alkohol sank stärker. Die Haushalte mit den größten Einkaufsmengen reduzierten ihre Einkäufe am stärksten.

Dieser ersten vorläufigen Auswertung wird eine umfassende Evaluation durch NHS Health Scotland im Jahr 2023 folgen, in der neben Veränderungen des Alkoholkonsums auch Gesundheitsparameter erfasst werden.
Für diesen Bericht werden zahlreiche kleinere und insbesondere auch qualitative (befragende) Studien durchgeführt, für die erste Ergebnisse bereits verfügbar sind (Website Public Health Scotland - Overview of evaluation of MUP).


O'Donnell A, Anderson P, Jané-Llopis E, Manthey J, Kaner E, Rehm J. Immediate impact of minimum unit pricing on alcohol purchases in Scotland: controlled interrupted time series analysis for 2015-18. BMJ. 2019;366:l5274. Link

David Klemperer, 25.5.20


Wie wirkt sich ein Unterschied von einem Jahr beim Kita-Besuch auf die Persönlichkeitseigenschaften und auf Gesundheit aus?

Artikel 2621 Das 1996 eingeführte Recht von Eltern auf einen Kindertageseinrichtungs-Platz (Kitaplatz) für ihre dreijährigen Kinder hat laut einer im April 2018 veröffentlichten Langzeitstudie mehr und vor allem längerfristigere und u.U. auch lebenslange positive Wirkungen auf nichtkognitive Persönlichkeitseigenschaften der Kinder als bisher angenommen.

Auf Basis der Daten des "Nationalen Bildungspanels (NEPS)" untersuchten WissenschaftlerInnen des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)" eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften von 4.579 Jugendlichen in der neunten Schulklasse, die früher oder später als mit drei Jahren einen Kitaplatz bekommen und genutzt hatten.
Beim Vergleich stellte sich heraus, dass Jugendliche, die Ende der 1990er Jahre als Kleinkind ein Jahr früher einen Kita-Platz erhielten als andere, in der neunten Schulklasse signifikant kommunikativer und durchsetzungsfähiger sind und mehr aus sich heraus gehen (Extraversion). Diese nichtkognitiven Fähigkeiten gelten als wichtig für den späteren Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg sowie den späteren Erwerbsstatus und das Einkommen. Alles zusammen beeinflussen sie als soziale Ressourcen unmittelbar und mittelbar die gesundheitliche Entwicklung.
Die AutorInnen berücksichtigten schließlich noch das richtige Argument bzw. den Einwand, dass auch die Persönlichkeitseigenschaften der Eltern Einfluss auf die Persönlichkeit ihrer Kinder haben. Sie kommen in weiteren Berechnungen aber zu dem Schluss, dass "der positive Einfluss des frühen Kita-Besuchs auf die Extraversion (der Kinder) auch dann bestehen bleibt, wenn der Einfluss durch die Persönlichkeitseigenschaften der Eltern herausgerechnet wird."

Und auch die zwischenzeitliche Vorverlegung der Altersgrenze für den Kita-Besuch auf unter drei Jahren, verändert nach Meinung der AutorInnen nichts an den Unterschieden bei den Fernwirkungen eines früheren oder späteren Beginns des Kita-Besuchs.

Jenseits einiger immer noch laufenden familienpolitischen Debatten fordern die AutorInnen im Lichte ihrer Ergebnisse, dass der "Zugang zu früher Kinderbetreuung … grundsätzlich allen Kindern und ihren Eltern gewährt werden (sollte)". Dies sollte aber möglichst kostenlos möglich sein.

Die 10 Seiten umfassende Studie Früher Kita-Besuch beeinflusst Persönlichkeitseigenschaften bis ins Jugendalter von Maximilian Bach, Josefine Koebe und Frauke Peter ist im DIW-Wochenbericht Nr. 15 2018 erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.4.18


Wie viel kostet durch Luftverschmutzung an Hauptverkehrsstraßen verursachtes Asthma von Kindern? Beispiel Los Angeles County

Artikel 2427 Nicht dass gesundheitliche Probleme erst dann wahr- und ernstgenommen werden sollten, wenn sie etwas kosten und man die mit ihnen verbundenen Kosten kennt. Für präventive Interventionen ist aber oft die Kenntnis der Kosten für bestimmte Erkrankungen und der hinter den Kosten stehenden Ursachen der entscheidende Anstoß.
Dies trifft auch für eine Studie zu, welche die Kosten der nachgewiesenermaßen kausal die Entstehung von Asthma bei Kindern fördernden Luftverschmutzung im Umkreis von Hauptverkehrsstraßen im Los Angeles County untersuchte.

Eine schweizerisch-amerikanische Forschergruppe bestimmte als erstes die BewohnerInnen, die in diesem County in einem Umkreis von bis zu 75 Meter neben einer Hauptverkehrsstraße leben. Danach kalkulierten sie wie hoch in diesem Bereich die durch die Exposition gegenüber der Gesamtluftverschmutzung und den Stoffen Ozon und Stickstoffdioxid entstehenden Kosten für asthmakranke Kinder im Jahr 2007 waren.

Die Ergebnisse einer Reihe von detaillierten Berechnungen und Schätzungen lauteten allein für diese südkalifornische Region folgendermaßen:

• Die der Gesamtluftverschmutzung sowie den Ozon- und Stickdioxidbelastungen zurechenbaren Kosten für die Familien, ihre Krankenversicherungen und die Öffentlichkeit betrugen 643 Millionen US.-Dollar. Zum Beispiel kostet die Routinebehandlung eines an Asthma erkrankten Kindes rund 3.000 US-Dollar pro Jahr.
• Eine Beseitigung der Luftverschmutzung in der nächsten Umgebung von Hauptverkehrsstraßen und dabei auch der Reduktion der Ozon- und Stickdioxidlevels auf das Niveau von Gemeinden mit sauberer Umgebungsluft, würde die asthmabezogenen Ausgaben schätzungsweise um 293 Millionen US-Dollar reduzieren.
• Da in Los Angeles 32% der Kinder in einer staatlichen Krankenversicherung versichert sind, könnten mit dem durch eine Reduktion der Luftverschmutzung ersparten Geld zusätzlich 33.700 Kinder pro Jahr krankenversichert werden oder zusätzlich 2.358 Kinder einen ganztägigen Vorschulplatz erhalten. Den gesellschaftlichen Nutzen einer Vorschulerziehung für diese Kleinkinder schätzen Ökonomen auf 49 bis 132 Millionen US-Dollar jährlich.

Auch wenn die Straßendichte im Großraum Los Angeles besonders hoch ist, kommt man bei der Betrachtung der gesamten USA unschwer zu potenziell einsparbaren mit Luftverschmutzung an Verkehrsstraßen assoziierten Kosten für die Behandlung asthmakranker Kinder in Multi-Milliardenhöhe.

Von dem im November 2014 im "Journal of Allergy and Clinical Immunology" (Volume 134, Issue 5: 1028-1035) erschienenen Aufsatz Cost of near-roadway and regional air pollution-attributable childhood asthma in Los Angeles County von Sylvia Brandt et al. gibt es kostenlos das Abstract.

Bernard Braun, 17.11.14


Zum gesundheitlichen Nutzen einer längeren hellen Abendzeit für Kinder. Nachdenkenswertes vor der Abschaffung der Zeitumstellung.

Artikel 2419 So sicher wie das Amen in der Kirche, werden in vielen Ländern zweimal pro Jahr in weltweit 70 Ländern die Uhren umgestellt und wird ebenso sicher über den Nutzen für die Energiebilanz aber auch die gesundheitlichen Effekte dieser Umstellung diskutiert.
Der am 23. Oktober 2014 auf der Website "Spektrum der Wissenschaft" veröffentlichte Überblicksartikel "Schadet die Zeitumstellung wirklich der Gesundheit? kommt zu einem durchwachsenen Urteil: die erhoffte Energiersparnis findet höchstwahrscheinlich nicht statt, dauerhafte und gravierende gesundheitliche Nachteile gibt es wahrscheinlich nicht und gesundheitliche Vorteile nur mittelbar und weit verstreut (z.B. weniger Autounfälle in Minnesota). So bleiben am Ende die "EU-weite Einheitlichkeit" und die "Bedeutung für den Binnenmarkt" als entscheidende Gründe für die Fortexistenz der Zeitumstellerei übrig: "Deutschland dürfe nicht zu einer Zeitinsel werden. Dementsprechend wird die Sommerzeit wohl noch eine Zeit lang bleiben - bis sich alle Staaten vielleicht einmal gemeinsam auf die Abschaffung einigen."

Dass diese Quintessenz des zitierten aktuellen Überblicks eventuell vorschnell ist und es doch noch unerwartete positive Effekte der Verlängerung der Tageslichtzeit am Abend gibt, lässt sich den Ergebnissen einer ebenfalls gerade veröffentlichten internationalen Studie über die Zusammenhänge körperlicher Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen mit der Anzahl heller Abendstunden entnehmen.
Dazu führten WissenschaftlerInnen der "London School of Hygiene and Tropical Medicine" und der Universität Bristol mit einem Bewegungsmessgerät erhobene Daten der körperlichen Aktivität von 23.188 5- bis 16-jährigen Kindern aus 15 Studien in neun europäischen (ohne Deutschland) und außereuropäischen Ländern zur "International Children's Accelerometry Database" zusammen.

Zwei Ergebnisse sind für die Debatte über einen für größere Bevölkerungsgruppen spürbaren gesundheitlichen Nutzen der Zeitumstellung bedeutend:

• Die Anzahl heller Abendstunden ("evening daylight") "seems to play a causal role in increasing activity in a relatively equitable manner".
• Die durch die Verlängerung der hellen Abendzeit im Durchschnitt um zwei Minuten pro Tag verlängerte körperliche Aktivität der Kinder wirkt auf den ersten Blick wenig. Dieser Eindruck verbessert sich aber im Lichte der insgesamt 33 Minuten, die sich die StudienteilnehmerInnen überhaupt pro Tag bewegten. Die Verlängerung der Bewegungszeit in den für die Bewegung von Kindern "kritischen Stunden" am Abend ließ sich im Übrigen bei allen soziodemografischen Subgruppen der Kinder nachweisen und zeigt sich auch nach der Adjustierung wichtiger persönlicher Merkmale und Wetterbedingungen.
• Die bisher gezeigten Assoziationen zwischen der Länge der hellen Abendstunden und den Bewegungsaktivitäten von Kindern werden noch durch die Analyse des Verhaltens von 439 Kindern unmittelbar vor und nach den beiden Zeitumstellungen erhärtet. Dieselben Kinder wurden an den Tagen an denen es länger hell war sofort aktiver.

Trotz der selber breit vorgestellten Limitationen der Studie sollten die beobachteten Effekte als ein positiver Public-Health-Beitrag zum Erhalt und zur Sicherung der Gesundheit einer großen Bevölkerungsgruppe bei künftigen Pro- und Contra-Debatten zur Zeitumstellung berücksichtigt werden.

Der Aufsatz Daylight saving time as a potential public health intervention: an observational study of evening daylight and objectively-measured physical activity among 23,000 children from 9 countries von Anna Goodman, Angie S Page und Ashley R Cooper ist am 23. Oktober 2013 in der Zeitschrift "International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity" (11 (1): 84) erschienen und ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 27.10.14


Biomedizinisches Korrelat zur sozialen Ungleichheit von Gesundheit

Artikel 2366 Zumindest in den Gesundheits- und Teilen der Sozialwissenschaften sind die Auswirkungen des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit der Menschen seit etlichen Jahren bekannt und wichtiger Teil der epidemiologischen Forschung. Auch das Robert-Koch-Institut als Bundesbehörde .... untersucht regelmäßig die Zusammenhänge zwischen Auftreten und Häufigkeit von Erkrankungen und Einkommen, Bildungsstand und anderen sozialen Determinanten.

Anders als es die gängige gesundheitspolitische Debatte glauben macht, sind die gesellschaftlichen Faktoren für Gesundheit und Krankheit mittlerweile hinlänglich bekannt und vielfach belegt. Eine Vielzahl von Modellen und Erklärungsansätzen versucht, diese offenkundigen Zusammenhänge einzuordnen und mögliche Wirkmechanismen zu erkennen. So ist biomedizinisch nachvollziehbar, dass Dauerstress ohne entsprechende körperliche Betätigung über einen dauerhaften Reiz des sympathischen Nervensystems Bluthochdruck verursachen kann oder wie ungünstige Ernährung zusammen mit Bewegungsmangel zu Fettleibigkeit und darüber zur Zuckerkrankheit beitragen kann.

Mittlerweile wächst darüber hinaus die Erkenntnis, dass ungünstige sozioökonomische Bedingungen bereits auf der Ebene der Körperzellen wirken. In ihrem kürzlich in der Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlichten Artikel Social disadvantage, genetic sensitivity, and children's telomere length beschreiben die us-amerikanischen ForscherInnen Mitchell, Hobcraft, McLanahan, Rutherford-Siegel, Berg, Brooks-Gunn, Garfinkel und Notterman Veränderungen in den Körperzellen, die Folge sozialer Benachteiligung zu sein scheinen. Eine wichtige Rolle kommt dabei offenbar den Telomeren zu. Diese bestehen aus sich wiederholenden DNA-Sequenzen am Ende eines Chromosoms schützen dieses als eine Art Schutzhüllen vor dem Verfall bzw. dem Abbau, dienen also dem Erhalt des Erbmaterials im Inneren der Zellen. Die Telomere unterliegen zeitlebens einem Umbauprozess und ihre Länge nimmt natürlicherweise mit zunehmender Lebensdauer ab.

Inzwischen liegen etliche Untersuchungen vor, die neben dem wichtigen Einfluss der Beschaffenheit der Telomere auf den Alterungsprozess auch Auswirkungen auf die Immunabwehr - so zum Beispiel die Studie von Heidinger, Blount, Boner, Griffiths, Metcalfe und Monaghan Telomere length in early life predicts lifespan in der Wissenschaftszeitschrift Procedures of the National Academy of Science Nr. 109 (5), S. 1743-1748 - und die Entstehung chronischer Erkrankungen belegen, so zum Beispiel die beiden Studien The Relationship between Telomere Length and Mortality in Chronic Obstructive Pulmonary Disease (COPD) von Lee, Sandford, Connett, Yan, Mui, Li, Daley, Anthonisen, Brooks-Wilson, Man und Sin im online Journal PLoS ONE 7(4): e35567 und Telomeres and Cardiovascular Disease - Does Size Matter? der beiden spanischen Kardiologen Antonio Serrano und Vicente Andrés in Circulation Research Nr. 94 (5), S. 575-584.

Die Verkürzung der Telomere lässt sich bei Vorliegen von Stressoren bereits im Kindes- und Jugendalter nachweisen. Beispielhaft sei hier auf die Artikel von Theall, Brett, Shirtcliff, Dunn und Drury mit dem Titel Neighborhood disorder and telomeres: Connecting children's exposure to community level stress and cellular response in Social Science and Medicine Nr. 85, S. 50-58, der kostenfrei als Volltext zum Download zur Verfügung steht, und von Shalev, Moffitt, Sugden, Williams, Houts, Danese, Mill, Arseneault und Caspi Exposure to violence during childhood is associated with telomere erosion from 5 to 10 years of age: A longitudinal study in Molecular Psychiatry 18 (5): 576-581, von dem nur das Abstract kostenfrei zum Download zur Verfügung steht.

Nun zeigt die im April 2014 publizierte gemeinsame Studie der ForscherInnen verschiedener us-amerikanischer Universitäten, dass die Telomer-Länge nicht nur als Biomarker für den physiologischen Alterungsprozess und für chronischen Stress geeignet zu sein scheint. Denn bei Personen, die unter sozial benachteiligenden Bedingungen leben ist - ebenso wie bei Depression -bereits im Jugendalter eine Verkürzung der Telomere zu beobachten. Die Messung der Telomerlänge erfolgte über eine real-time Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR), einem häufig verwandten, quantitativen molekularbiologischen Verfahren. Anders als die meisten anderen Untersuchungen basierte diese Studie nicht auf weißen Blutkörperchen, sondern auf einfacher zu gewinnenden Speichelzellen.

Dabei verglichen sie die Telomerlänge von 40 schwarzen us-amerikanischen Jungen ab neun Jahren, die in die Fragile Families and Child Wellbeing Study (FFCWS) eingeschlossen sind, einer Längsschnittsbeobachtungsstudie von Haushalten in den USA. Die eine Hälfte der Kinder wuchs unter besonders schwierigen Verhältnissen auf, während die andere Hälfte unter günstigeren sozio-familiären Bedingungen groß wurde.

Es zeigte sich, dass das Aufwachsen unter benachteiligten Bedingungen mit einer durchschnittlich 19-prozentigen Verkürzung der Telomerlänge einherging (P = 0,02), während andererseits Verdoppelung des Verhältnisses zwischen Haushaltseinkommen und Bedarf, das in der eingeschlossenen Gruppe zwischen 0,7 und 2,7 variiert, mit einer 5-prozentigen Zunahme der Telomerlänge korrelierte. Auch das Ausbildungsniveau der Mütter hat Einfluss auf die Telomerlänge, die bei Kindern von Frauen mit mindestens High-School-Abschluss die Telomere 32 (P=0,006) und bei solchen mit höherer Bildung sogar 35 Prozent (P=0,005) länger waren. Häufie Veränderungen der Familienstruktur bzw. -konstellation wiederum waren mit einer 40-prozentigen Verkürzung der Telomerlänge assoziiert.

Dieses Ergebnis liefert nicht nur Hinweise auf gesellschaftlich bedingte morphologische Veränderungen auf Zellebene, die ein wichtiges Bindeglied bei der Erklärung der Auswirkungen sozialer Determinanten auf Gesundheit und Krankheit darstellen. Es dürfte auch wichtiger Hinweise für die Epigenetik und das Zusammenspiel zwischen Erbfaktoren und Umwelteinflüssen liefern. Dieser konzeptionell neue Ansatz für das Verständnis von Erbfaktoren und genetischen Regulationen befasst sich mit Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf strukturellen Formationen und Veränderungen des Erbmaterials beruhen. Neben den wesentlichen epigenetischen Modifikationen - nachträgliche Änderungen bestimmter DNA-Basen (DNA-Methylierung), Veränderungen des Chromatins (Histon-Modifikationen) und RNAi vermittelte Mechanismen - verdichten sich die Hinweise, dass auch Telomer-Veränderungen für Entwicklungs- und Erkrankungs-Prozesse mitverantwortlich sind.

Die für MedizinerInnen, Sozial- und GesundheitswissenschaftlerInnen und andere Interessierte gleichermaßen relevante Studie von Colter Mitchell und KollegInnen steht kostenfrei als Volltext zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 15.6.14


Wie handlungsanregend sind zusätzlich 0,008 QALY's/Kopf/Leben oder wie überzeugt man Nicht-Ökonomen von Gesundheitsprogrammnutzen?

Artikel 2230 Initiatoren und Finanziers von alten oder neuen kurativen oder präventiven gesundheitsbezogenen Maßnahmen und Angebote fordern und nutzen für Entscheidungen über die Verwendung knapper Ressourcen neben gesicherter Evidenz ihrer Wirksamkeit zunehmend auch (gesundheits-)ökonomische Bewertungen oder Indikatoren.
Dies gilt auch für die Motivation und "Überweisung" von körperlich inaktiven Personen mit Risikofaktoren für schwerere Erkrankungen (z.B. Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes) durch ihre Hausärzte, z.B. Fitnessklubs aufzusuchen und dort an einem maßgeschneiderten Übungsprogramm teilzunehmen. In einem "Health Technology Assessment"-Bericht (Pavey T. et al. (2011): The clinical effectiveness and cost-effectiveness of exercise referral schemes (ERS): a systematic review and economic evaluation. (15 (44): 1-254 oder den entsprechenden Forumsbeitrag) fanden die AutorInnen in den sieben bewerteten randomisierten kontrollierten Studien Evidenz für den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit von ERS - auch wenn sie sie selber als "very limited" bezeichneten. Im Vergleich mit Personen oder Patienten, die wie üblich z.B. nur mit verbalen Hinweisen auf Bewegungsmöglichkeiten behandelt wurden, war die Wahrscheinlichkeit, dass ERS-Empfänger körperlich aktiv wurden, um 11% höher. Dieser Unterschied war aber statistisch nicht signifikant.

Die gesundheitsökonomischen Eckwerte für ERS gab der HTA-Bericht so an: Die Mehrkosten pro Kopf betrugen 169 britische Pfund und der Zugewinn an "quality-adjusted life-year (QALY)" beträgt pro Nutzerkopf und pro gesamter Lebenszeit 0,008. Damit kostet ein ganzes QALY für inaktive Personen ohne eine medizinische Erkrankung 20.876 £. Die Kosten für ein QALY sinken bei inakiven übergewichtigen Personen auf 14.618 £, bei inaktiven Personen mit Bluthochdruck auf 12.834 £ und bei Personen mit einer Depression auf 8.414 £.

Die Frage, die sich zwei britische Gesundheitsökonomen nun in einem im Januar 2013 veröffentlichten Aufsatz stellten, ist, ob sich mit den aus der klassischen Kosten-Nutzenanalyse (cost-utility analysis [CUA]) stammenden Werten wie dem beschwerdefreien Lebensjahrezugewinn von 0,008 Jahre Gesundheitspolitiker oder gar gesundheitsferne Kostenverwalter dazu bewegen lassen, Geld für ERS auszugeben. Nachdem sie diese Frage verneinen und in der spröden und technischen Charakteristik von Kostenwerten einen Hauptgrund für die Startschwierigkeiten wichtiger gesundheitsbezogener Leistungen sehen, schlagen sie als Lösung das gesundheitsökonomische Alternativkonzept der so genannten "cost-consequence analysis (CCA)" vor.

Der Argumentationsgang der CCA beginnt mit den für eine Kohorte von 100.000 Personen geschätzten Gesamtausgaben von 22 Millionen £ für die Leistungen der Gesundheitsanbieter und 12 Millionen £ von den TeilnehmerInnen noch zusätzlich zu finanzierenden Mitgliedsbeiträgen etc.. Der Nutzen wird in der CCA in "natürlichen Einheiten" ("natural units")dargestellt. So werden durch ERS im Vergleich zu normal Behandelten zusätzlich 3.900 von 100.000 Personen körperlich aktiv, 51 Fälle von schweren Herz-Kreislauferkrankungen, 16 Schlaganfälle und 86 Fälle Erkrankungen am Altersdiabetes werden verhindert. Insgesamt nimmt die Anzahl von QALY's um rund 800 Jahre zu. Insgesamt trägt das ERS-Programm dazu bei, dass zusätzlich 152 Personen erkrankungsfrei bleiben. Am Ende einer noch wesentlich längeren Liste von sinnlich fassbarem und vermittelbarem Nutzen des Programms gibt es aber auch Nachteile der Intervention: So steigt das Risiko von Muskel- und Skelettverletzungen oder schmerzhaft behindertem Gang um das Vierfache.

Im Resumée der britischen Ökonomen ist die CUA weiterhin eine Art "common currency" für die Berechnung und Darstellung der Wirtschaftlichkeit von Interventionen. Da deren Ergebnisse aber erfahrungsgemäß oft nur "little resonance with stakeholders from the non-health sector" haben und wenig Überzeugungsimpluse und Handlungsanreize liefert, könnten die Ergebnisse einer CCA hier überzeugen und initiieren helfen.
Dies gilt selbst dann auf jeden Fall für andere nachweisbar wirkungsvollere Intervention und Therapien, wenn man am Nutzen von ERS wegen der oben genannten schwachen Evidenz zweifelt und daher auch keinen Nicht-Ökonomen davon überzeugen will.

Der materialreiche und ideenreiche Aufsatz Applying economic evaluation to public health interventions: the case of interventions to promote physical activity von Paul Trueman und Nana Kwame Anokye ist im "Journal of Public Health" (2013, Vol. 35, No. 1: 32-39) erschienen und als "open access"-Beitrag komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 24.2.13


Was tun Betriebe um die sozialen Folgen des "drohenden" Mangels an leistungsfähigen Erwerbstätigen zu verhindern? 2011: zu wenig!

Artikel 2175 Der zukünftig "drohende" wachsende Anteil älterer, leistungsgeminderter aber wirtschaftlich immer wichtiger werdenden Arbeitskräfte und der "Fachkräftemangel" beherrschen seit geraumer Zeit die Schlagzeilen mancher beschäftigungs- und gesundheitspolitischen Debatten. Ohne mehr qualifizierte, gesunde und bis zum gesetzlichen Rentenalter leistungsfähigen Beschäftigten scheint der Wohlstand in Deutschland massiv gefährdet.
Was von diesen Erwartungen zu halten ist bzw. wie ernst sie von ihren Verkündern genommen und praktisch angepackt werden, zeigt nun schlaglichtartig ein 2012 veröffentlichter Forschungsbericht des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit.
Dessen Ergebnisse stammen aus dem IAB-Betriebspanel, in dem 15.283 repräsentative Betriebe regelmäßig zu wichtigen Aspekten ihrer Betriebsstruktur und -politik befragt werden.

Danach werden zumindest im Jahr 2011 ältere ArbeitnehmerInnen in den 15.036 Betrieben, die ältere ArbeitnehmerInnen beschäftigen, kaum bzw. speziell gefördert:

• So wurden von den Älteren deutschlandweit 9% in die allgemeine betriebliche Weiterbildung einbezogen. Spezielle Weiterbildung für Ältere bot nur 1% aller Betriebe mit MitarbeiterInnen dieses Alters an. Individuell angepasste Leistungs- und Arbeitsanforderungen wurden in 4% der Betriebe angeboten. In Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bezogen nur 4% aller Betriebe ältere MitarbeiterInnen ein. Altersgemischte Teams, eine immer wieder als wirksam nachgewiesene Maßnahme, gab es in 6% der Betriebe.
• Selbst den beim Angebot betrieblicher Gesundheitsförderung für ältere Beschäftigte führenden Branchen Bergbau und öffentliche Verwaltung sind hier nur 12% bzw. 21% der Betriebe aktiv.
• Die AutorInnen des Berichts heben außerdem Folgendes hervor: "Entgegen den Erwartungen bieten Betriebe mit einer eher älteren Belegschaft Maßnahmen für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer nicht häufiger an als andere Betriebe. … Der unerwartet geringe durchschnittliche Anteil von Maßnahmebetrieben bei Betrieben mit einer eher älteren Belegschaft hängt mit dem fast völligen Fehlen solcher Maßnahmen bei Kleinstbetrieben zusammen. Gerade bei den Kleinstbetrieben gibt es einen relativ hohen Anteil an Betrieben mit einer eher älteren Belegschaft."
• Ihr Fazit zu diesem Bereich lautet daher: "Die deutliche Veränderung der Beschäftigtenstruktur hin zu einem höheren Anteil älterer Arbeitnehmer scheint (noch) keine nennenswerten personalpolitischen Probleme generiert zu haben. Andernfalls müsste ein deutlich höherer Anteil von Betrieben altersspezifische Aktivitäten durchführen. Den Betrieben ist es offensichtlich auch ohne spezifische Maßnahmen gelungen, ihren betrieblichen Alltag mit älter gewordenen Belegschaften zu meistern. Dies wirft die Frage auf, ob die Befürchtungen der letzten Jahre möglicherweise übertrieben waren. Es könnte jedoch auch sein, dass durch die noch sehr verhaltene Praxis Hypotheken aufgebaut werden, die später von den betroffenen Arbeitnehmern eingelöst werden müssen - z. B. in Form von gesundheitlichen Folgeschäden (und damit verbundenen Belastungen der Sozialsysteme)."
• Generell stellen die VerfasserInnen aber schließlich auch noch fest, dass "die vorliegenden Ergebnisse … insgesamt auf einen eher mäßigen Problemdruck durch unbesetzte Fachkräftestellen hin(deuten). Insgesamt ist die Nachfrage nach Fachkräften und damit einhergehend der Umfang unbesetzter Fachkräftestellen 2011 stark angestiegen. Im Zeitverlauf sind das aktuell aber doch stark konjunkturabhängige Größen."

Die insgesamt informativen und lesenswerten 107 Seiten des "IAB-Forschungsbericht 13/2012" "Fachkräfte und unbesetzte Stellen in einer alternden Gesellschaft. Problemlagen und betriebliche Reaktionen" von Sebastian Bechmann, Vera Dahms, Nikolai Tschersich, Marek Frei, Ute Leber und Barbara Schwengler sind komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 2.11.12


Soziale Ungleichheiten der Gesundheit - Erfahrungen und Lehren aus 13 Jahren Labour-Regierung

Artikel 2125 13 Jahre hatte die Labour-Regierung Zeit, die selbst gesteckten Gesundheitsziele zu erreichen: die Gesundheit der in der Gesellschaft am schlechtesten Gestellten verbessern und die Gesundheitslücke ("health gap") verkleinern - dies erklärte die 1997 gewählte Labor-Regierung zu einem Schlüsselelement ihrer Gesundheitsstrategie.

Eine Reihe von Publikationen (siehe Literaturverzeichnis) setzte sich in letzter Zeit mit der Bilanz der Strategie auseinander, teils im Zusammenhang mit der Marmot-Review, in der eine erneuerte Strategie für die Jahre nach 2010 vorgestellt wird (auf die hier allerdings nicht eingegangen werden kann).

Als die Labour Party im Jahr 1997 nach 27 Jahren konservativer Vorherrschaft wieder die Regierung übernahm, schienen die Vorzeichen für eine erfolgreiche Strategie zur Minderung der sozialen Ungleichheiten der Gesundheit günstig, denn England war in vielen Belangen Vorreiter in der Befassung mit Fragen von sozialer Lage und Gesundheit gewesen.

Wegweisendes wurde geleistet
• in der Aufarbeitung von Daten zur Abbildung der sozialen Ungleichheiten der Gesundheit
• in der Durchführung von Studien (z.B. Geburtskohorten 1946, 1958, 1970, Whitehall-Studien)
• in der Aufarbeitung des Wissens in Berichten für die Politik (Black Report 1980, Acheson Report 1998 und - gegen Ende der 13 Jahre Regierung - Marmot Review 2010)

Die konservative Regierung hatte im Jahr 1980 den wegweisenden Black-Report regelrecht in der Schublade verschwinden lassen, ihm dadurch aber paradoxerweise eine hohe Publizität im öffentlichen Raum verschafft.

Die Labour-Regierung ließ sich 1998 durch den Acheson Report mit frischen Informationen und Vorschlägen versorgen und gründete darauf ihre Strategie, die sie in 2 Berichten darlegte:
• 1999 Reducing health inequalities: an action report
• 2002 Cross Cutting Review of Health Inequalities.

Die konkreteste Form erhielt die Strategie 2003 in dem Bericht "Tackling health inequalities: A Programme for Action". Hier legte die Regierung den Ministerien Zuständigkeitsgrenzen hinweg 82 Verpflichtungen auf ("departmental commitments"), die insgesamt mit mehr als 30 Milliarden Pfund Haushaltsmitteln hinterlegt waren.

Die Strategie baute auf 2 übergeordnete Ziele,
• Minderung der Lücke ("gap") in der Lebenserwartung zwischen den Regionen um 10%
• Minderung der Ungleichheit in der Kindersterblichkeit zwischen den Klassen um 10%.

Für das Monitoring wurden 12 nationale Indikatoren ("National Headline Indicators") gebildet, die sich auf Ernährung, Bildung, Obdachlosigkeit, Wohnen, Grippeimpfung, Schulsport, Rauchen, Teenageschwangerschaften und Mortalität an den "major killer diseases" beziehen (Annex C, S. 65-67).
Die vier großen Überschriften zu den 82 Verpflichtungen lauteten:
• Supporting families, mothers and children
• Engaging communities and individuals
• Preventing illness and providing effective treatment and care
• Addressing the underlying determinants of health
Die darunter gefassten Aufgabenbereiche sind im Annex B des Papiers im Einzelnen benannt (S. 58-64). Viele der Maßnahmen zielten auf die einkommensschwache Gruppen oder auf benachteiligte Regionen.

Der Verlauf bzw. die Ergebnisse wurden in mehreren Berichten festgehalten:
• Zwischenberichte zum Stand der Entwicklung 2005 und 2007 sowie eine 10-Jahresbilanz ("Tackling health inequalities: 10 years on"), die im Sinne "halbvolles Glas" zu einer eher positiven Bewertung gelangte
Bericht des Gesundheitsausschusses des Unterhauses, der im Sinne von "halbleeres Glas" die selben Daten eher negativ bewertete mit einer Reihe berechtigter kritischer Anmerkungen.

Hier einige kurz gefasste Ergebnisse, Erfahrungen, und Lehren:
• Die Lebenserwartung stieg im Landesdurchschnitt im Vergleich der Zeiträume 1995-1997 und 2005-2007 um 3,1 Jahre für Männer sowie 2,1 Jahre für Frauen. In den benachteiligten Regionen (sog. "spearhead group" von lokalen Verwaltungseinheiten) stieg die Lebenserwartung der Männer um 2,9 und der Frauen um 1,9 Jahre.
• Die Kindersterblichkeit fiel landesweit von 5,6 auf 4,7 pro Tausend, in den benachteiligten Regionen von 6,3 auf 5,4.

Auf diese Ergebnisse gibt es zwei zutreffende Sichtweisen:
• Die Ziele zur Minderung der sozialen Ungleichheit der Gesundheit wuden verfehlt.
• Die Gesundheit der Bevölkerung hat sich in diesem 10-Jahreszeitraum deutlich verbessert. Auch die benachteiligten Gruppen haben deutlich gewonnen, bei der Lebenserwartung allerdings etwas weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt. Ohne die Strategie dürfte die Gesundheit eher noch weiter auseinandergedriftet sein.

Unabhängig davon, welche Sichtweise man bevorzugt, ist festzuhalten, dass die Strategie einige grundlegende Schwächen hatte.
Die Fokussierung auf zwei Ziele im Zusammenhang mit der Mortalität führt dazu, dass Determinanten und Maßnahmen in Bereichen wie Obdachlosigkeit, Kinderarmut und Brennstoffmangel wegen ihrer geringen Auswirkungen auf die Mortalität für den Erfolg der Strategie nicht zählen. Insgesamt kritisiert insbesondere Mackenbach, dass der Abgleich von Zielen und Maßnahmen (policies) bei weitem nicht optimal gewesen sei. Dies sei ein Ergebnis davon, dass das Programm ein Kompromiss aus Wissenschaft und politischer Opportunität gewesen sei; die Politik habe die 39 Empfehlungen und 123 Unterpunkten des Acheson Report als eine Art Einkaufsliste betrachtet, aus der heraus sie die Punkte auswählte, die am besten in ihre bereits vorhandenen Konzepte passten.

Viele der 82 Verpflichtungen sind zwar erfüllt worden - eine eindrucksvolle Darstellung findet sich im Zwischenbericht 2007 (Tackling Health Inequalities: 2007 Status Report on the Programme for Action) auf den Seiten 64-69. Offensichtlich hätten die Maßnahmen jedoch (noch) effektiver, intensiver und zielgenauer sein müssen. Zur Zielerreichung sind grundlegende Veränderungen in der Verteilung von Ressourcen erforderlich. Hierfür reichten die 82 Verpflichtungen und die 20 Milliarden Pfund nicht aus.

Ausgeblieben ist insbesondere eine gerechtere Verteilung der materiellen Ressourcen. Einkommensungleichheit gilt als eine der wesentlichen Determinanten für die Ungleichheit der Gesundheit. Eine radikale Umverteilung der Einkommen zugunsten der schlechter Gestellten war aber nicht Teil des Wahlprogramms der Labour Party.

Insgesamt konnte die Strategie nicht umfassend auf wissenschaftliche Evidenz gegründet werden, weil diese für die meisten Maßnahmen nicht vorlag. Auch während der 13 Jahre wurden die Gelegenheiten, hochwertige Evidenz zu generieren, nicht konsequent genutzt.


Zusammenfassend ist festzuhalten:
In England wurde die bislang umfassendste Strategie zur Minderung der sozialen Ungleichheit der Gesundheit in Form eines Regierungsprogramms implementiert und über einen Zeitraum von 13 Jahren durchgeführt.
Im Ergebnis wurden (Teil-) Erfolge erzielt. Die "Gesundheitslücke" zu verkleinern ist aber offensichtlich sehr viel schwieriger, als es sich die meisten Wissenschaftler und Politiker bis dahin vorgestellt hatten. Für stärkere Effekte sind zumindest erforderlich: ein noch höheres Maß an politischer Entschlossenheit, als es die Labour-Regierung gezeigt hat, eine bessere Abstimmung von Zielen und Maßnahmen, mehr Wissen über das was funktioniert, also mehr Evidenz und ein Mandat des Wählers an die Regierung, das weiterreichende Maßnahmen erlaubt, wie z.B., eine Minderung der Einkommensungleichheit.
Dies erfordert, wie im Marmot-Bericht ("Fair Society, Healthy Lives") festgestellt wird, eine starke soziale Bewegung, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Für weniger ist eine Minderung der sozialen Ungleichheit der Gesundheit offensichtlich nicht zu haben.


Berichte des Department of Health (Auswahl)
1999 Reducing health inequalities: an action report Website

2002 Tackling health inequalities - cross-cutting review Website

2003 Tackling health inequalities: A Programme for Action Website

2008 Tackling health inequalities: 2007 Status Report on the Programme for Action Website

2009 Tackling health inequalities: 10 years on Website


Berichte zur Politikberatung
• 1980 Inequalities in Health: Report of a Research Working Group. (The Black Report) Website

• 1998 Independent Inquiry into Inequalities in Health Report (Acheson Report) Website

• 2010 Fair Society, Healthy Lives. A Strategic Review of Health Inequalities in England Post-2010 (The Marmot Review) Link


Bericht des Unterhauses
House of Commons. Health Committee - Third Report. Health Inequalities Website, Bericht als PDF Donnload
Erwiderung der Regierung Website


Mackenbach JP. Can we reduce health inequalities? An analysis of the English strategy (1997-2010). Journal of Epidemiology and Community Health 2011;65:568-75 Abstract


Eine Interessante Diskussion über die Marmot Review und die Politik der Labour-Regierung mit insgesamt 9 Beiträgen findet sich in der Oktober-Ausgabe 2011 der Zeitschrift Social Science and Medicine. Link
Hierzu auch ein 12-minütiges Videostatement von Michael Marmot auf YouTube Link

David Klemperer, 16.5.12


Ärztliche "Überweisungen" von bewegungsarmen Personen in Bewegungsprogramme sind fast wirkungslos

Artikel 2116 Die in Deutschland vorgedachte oder bevorstehende Einführung eines speziellen "Rezepts" mit dem niedergelassene Ärzte bewegungsarmen und übergewichtigen Patienten körperliche Aktivitäten "verordnen" können, ist mit der Hoffnung verbunden, dass damit mehr Wirkung erzielt werden kann als mit gar keiner speziellen Behandlung oder dem einfachen ärztlichen Ratschlag, sich doch mal mehr zu bewegen.

Die Ergebnisse eines systematischen Reviews und einer Metaanalyse von acht randomisierten kontrollierten Studien mit 5.190 TeilnehmerInnen dämpfen allerdings die Erwartungen gewaltig. In diesen Studien wurden die Effekte gezielter Beratung und "Überweisungen" zu professionellen Anbietern von Programmen zur Förderung der körperlichen Aktivität (überwiegend 10 bis 12 Wochen in der Freizeit laufende Programme) auf die Dauer der körperlichen Bewegung, die körperliche Fitness, das Übergewicht, den Blutdruck und ähnliche Körperwerte, das psychische Wohlbefinden ("well-being") oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei überwiegend sitzend Arbeitenden untersucht.

Bei der Dauer von wenigstens mäßig intensiven körperlichen Aktivitäten von mindestens 90-150 Minuten pro Woche zeigte sich zunächst 6 und 12 Monate nach Beginn entsprechender Studien eine im Vergleich zu den wie gewohnt behandelten Personen um 16% höhere Chance für die überwiesenen Personen diese Marke zu erreichen. Nachdem aber bei den überwiesenen Personen der nicht geringe Anteil der Abbrecher mit berücksichtigt wurde, gab es keine signifikanten Unterschiede mehr. Dies gilt insgesamt auch für die körperliche Fitness und die genannten Körperwerte. Die Studien, welche die Wirkungen der "Bewegungsübungen auf Rezept" auf Ängste oder depressive Zustände untersuchten, zeigen kein einheitliches Bild. Die Heterogenität der Ergebnisse zu den Wirkungen auf die Lebensqualität war so groß, dass keine Metaanalyse durchgeführt werden konnte.
Beim Vergleich der Effekte von "Bewegung auf Rezept" mit einem aus motivierender Beratung und Trainer-Bewegungsprogramm bestehendem alternativen Angebot für körperliche Aktivitäten fanden die britischen Metaanalytiker bei keinem der ausgewählten Indikatoren signifikante Unterschiede. Dies gilt auch dann, wenn zusätzlich zur Überweisung noch verhaltensverändernde Angebote in Anspruch genommen werden.

Dass mit dem Thema "Bewegung auf Rezept" auch sachkundiger und seriöser als in Deutschland umgegangen werden kann, zeigt das Beispiel des britischen "National Health Service (NHS)". Dort hat das "National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)", eine Art "Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)", dem NHS empfohlen, diese Leistung wegen der unzulänglichen Evidenz nicht oder lediglich probehalber innerhalb einer quantitativ begrenzten kontrollierten Nutzenstudie einzuführen.

Im Vergleich mit dem von den Reviewern als nahezu wirkungslos bewerteten einfachen ärztlichen Ratschlag empfiehlt der Verfasser eines Editorials den Allgemeinärzten trotzdem, den Patienten mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko gezielt Bewegungsprogramme zu empfehlen und sie dort hin zu überweisen - wohlwissend, dass der erwartbare Nutzen gering ist. In jedem Fall empfiehlt es sich aber selbst dann, wenn man diesem Rat folgt, die vorhandenen Ressourcen hauptsächlich für die Entwicklung wirkungsvollerer Interventionen als für die "Bewegung auf Rezept" zu nutzen.

Von der Studie gibt es entweder das Abstract oder auch den gesamten Text kostenlos: Pavey TG et al. (2011): Effect of exercise referral schemes in primary care on physical activity and improving health outcomes: Systematic review and meta-analysis. BMJ 2011 Nov 6; 343:d6462.

Vom Editorial Promoting physical activity in primary care. von Williams NH. (BMJ 2011 Nov 6; 343:d6615) gibt es kostenlos lediglich das Abstract.

Bernard Braun, 18.4.12


GKV-Präventionsbericht 2011: Nimmt man ein Glas, das klein genug ist, kann man davon reden es sei halb voll …

Artikel 2100 Die Tatsache, dass die GKV auch 2010 mehr als 300.000.000 Euro für präventive Leistungen ausgegeben hat und dabei auch immer mehr sinnvolle und evidenzbasiert nützliche Angebote finanziert wurden, ist gut.

Gut ist im Detail,

• dass für Maßnahmen, die sich an das Gesundheitsverhalten einzelner Menschen richteten, nur noch ca. 240 Mio. Euro für 2 Mio. Kursteilnahmen investiert wurden. Die Ausgaben gingen im Vergleich zum Vorjahr parallel zu der Zahl der Inanspruchnehmer um 6% zurück.
• dass die Krankenkassen fast 23 Millionen Euro für Settingprojekte (z.B. in Kindergärten und Schulen) bezahlten. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Ausgabensteigerung um 22%. Sie führten Gesundheitsförderungsmaßnahmen in insgesamt 30.000 Settings durch. Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einem Zuwachs von 49%. 2,4 Mio. überwiegend junge Menschen wurden mit den Maßnahmen direkt erreicht.
• dass die Krankenkassen für Maßnahmen in der betrieblichen Gesundheitsförderung insgesamt über 42 Millionen Euro ausgaben. Hierdurch konnten fast 6.500 Betriebe - 21% mehr als im Vorjahr und 660.000 Beschäftigte erreicht werden.
• und wegen der Aufgabe von Gesundheitsförderung auch etwas zum Ausgleich sozialer Ungleichheit beizutragen, ist es besonders gut, dass 7% der betreuten Betriebe, in denen die Krankenkassen die betriebliche Gesundheitsförderung unterstützten, einen hohen Anteil an "Ungelernten" aufweisen.

Bei der Lektüre der Mitteilung, dass in fast drei Vierteln der gemeldeten Projekte eine Evaluation der Maßnahmen durchgeführt wurde, stellt sich allerdings die Frage, ob die dabei am häufigsten gewählte Form der Zufriedenheitserhebung in den Zielgruppen eine wirklich verlässliche Messgröße ist. Andere Erhebungen z.B. zur Ergebnisqualität wären wünschenswert und sind auch möglich.

Dass die seit 2008 kontinuierlich von 339,8 Millionen Euro auf 302,5 Millionen Euro sinkende Summe aller Ausgaben und der Rückgang der Ausgaben je Versicherten von 4,83 Euro auf 4,33 Euro auch noch als Zeichen dafür bewertet werden, "dass die Krankenkassen der Prävention einen hohen Stellenwert beimessen", wirkt bei der im Vergleich zu den sonstigen Ausgaben der GKV schon immer mickrigen Summe aber weniger gut oder sogar ärgerlich. Man muss schon etwas suchen, wenn man Leistungen finden will für die vergleichbar "hohe" Beträge ausgegeben werden. Zur Erinnerung ein paar Posten aus dieser Preisklasse: Von den 2010 insgesamt 175,6 Mrd. Euro schweren Ausgaben der GKV flossen etwas weniger als in den Präventionsbereich, nämlich 290 Millionen Euro in Kuren für Mütter und Väter und etwas mehr, nämlich 370 Millionen Euro in den Medizinischen Dienst der GKV und Gutachterhonorare. Allein für das teuerste Arzneimittel, das monoklonale Antikörper-Präparat Humira, das u.a. zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis und von Morbus Crohn eingesetzt wird, gab die GKV 2010 mit 414,4 Millionen Euro weit mehr aus als für die gesamte Prävention. Und allein der Zuwachs der Ausgaben für einige Arzneimittelgruppen war von 2009 auf 2010 höher als alle Ausgaben für Prävention.

Und wenn im Bericht stolz und zu Recht hervorgehoben wird, dass die GKV pro Kopf für Prävention mit 4,33 Euro mehr als den gesetzlich vorgesehenen Orientierungswert/Ausgabenrichtwert für das Jahr 2010 von 2,86 Euro je Versicherten ausgab, fragt sich doch, warum die Kassenvorstände und ihre Verwaltungsräte nicht angesichts des 2012 angehäuften Berges von Versichertenbeiträge nicht noch etwas mutiger den Stellenwert von Prävention erhöhen!? Wann, wenn nicht jetzt sind die Bedingungen dafür eigentlich gut?

Den vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) herausgegebenen 124-seitigen Präventionsbericht 2011: Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung: Primärprävention und betriebliche Gesundheitsförderung Berichtsjahr 2010 von Nadine Schempp, Katja Zelen und Harald Strippel gibt es komplett kostenlos.

Bernard Braun, 17.3.12


Wirksamkeit der Maßnahmen zur Sturzprophylaxe älterer Personen "an sich" und tatsächliche Beteiligung im Alltag

Artikel 2098 Zwölf Monate nach dem Beginn von Studien, in denen Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen angeboten und auf ihre Wirksamkeit untersucht werden, hält sich wahrscheinlich nur die Hälfte der im häuslichen Umfeld und ein Drittel der in Pflegeheimen oder Krankenhäusern lebenden älteren TeilnehmerInnen an diese Maßnahmen. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer ergänzenden Analyse der Ergebnisse und Umstände der in zwei Cochrane-Reviews untersuchten randomisierten kontrollierten Studien über Maßnahmen zur Sturzprophylaxe.

Stürze sind eine der häufigsten und bis hin zum vorzeitigen Tode folgenreichsten Ereignisse im Leben älterer Personen. Entsprechend wichtig sind sämtliche wirksamen Angebote oder Interventionen für die Sturzprophylaxe im häuslichen Umfeld aber auch im Bereich der Pflegeheime. Dem entspricht, dass sich zwei Cochrane-Reviews der vorliegenden randomisierten kontrollierten Interventionsstudien getrennt damit beschäftigen, für den Nutzen welcher Maßnahmen es eine robuste Evidenz gibt.

• Die systematische Betrachtung der 111 Studien von Maßnahmen für die noch zu Hause lebenden älteren Personen hebt besonders körperliches Bewegungstraining und Tai Chi als hochwirksame Interventionen zur Prävention von Stürzen hervor. Die häusliche Sicherheit oder der Entzug bestimmter psychotroper Medikamente haben dagegen nur beschränkte präventive Evidenz. So kann beispielsweise die Nichtverschreibung bestimmter Medikamente zwar die Rate der Stürze reduzieren aber nicht das Sturzrisiko.
• Die systematische Betrachtung von 41 Studien über Maßnahmen für ältere Menschen, die in Pflegeheimen oder Krankenhäusern leben, führte insgesamt eher zu negativen Ergebnissen. In einzelnen Studien zeigten sich aber die Wirksamkeit eines vielseitigen und angeleiteten körperlichen Trainings bei Personen im Krankenhausumfeld und die Wirksamkeit der Einnahme von Vitamin D bei BewohnerInnen von Pflegeheimen.
• Keine Rolle spielten in beiden Cochrane-Reviews - und im Übrigen auch in manch anderen dieser methodisch hochwertigen Analysen -drei für den Präventionsalltag relevante inhaltliche Umstände, nämlich die grundsätzliche Beteiligung älterer Personen an solchen Interventionen, ihr Engagement in den angebotenen Maßnahmen und der Grad mit dem sie sich an die vorgeschriebenen Maßnahmen halten bzw. die Adhärenz oder Compliance. Diese Umstände können zu dem sehr praktischen Phänomen führen, dass unabhängig davon, wie wirksam einzelne Maßnahmen nachweisbar sein mögen, die populationsbezogene Wirksamkeit bedeutend karger ausfällt, wenn die Beteiligung älterer Menschen an solchen Maßnahmen gering ist oder sie sich nicht an die vorgeschriebenen Prozeduren halten.

Zwei ergänzende Untersuchungen der reviewten RCTs zeigen nun, wie viele der ursprünglich zur Teilnahme an diesen Studien ausgewählten und eingeladenen Personen der Einladung überhaupt gefolgt sind (Rekrutierungsrate), wie viele der TeilnehmerInnen ihre Teilnahme innerhalb der ersten 12 Monate abgebrochen haben, wie verlässlich sich die TeilnehmerInnen an die vorgeschriebenen Maßnahmen gehalten haben und wie sich das auf die Anzahl der TeilnehmerInnen auswirkt, die sich an die wirksamen Maßnahmen zur Sturzprävention halten und damit Nutznießer deren Wirksamkeit sind.

Betrachtet man für die noch im häuslichen Umfeld lebenden älteren Personen ihre Rekrutierungsrate von 70%, ihre Abbruchquote von 10% und ihre Adhärenzrate von 80%, halten es die Reviewer für möglich, dass sich nach 12 Monaten Präventionsalltag nur die Hälfte der ursprünglichen TeilnehmerInnen treu an die Interventionen und Maßnahmen der Sturzprävention halten.

Betrachtet man ferner dieselben Indikatoren für die älteren Personen in institutionellen Settings, liegt deren Rekrutierungsrate bei 49%, steigt ihre Abbruchquote auf 16% und halten sich ebenfalls durchschnittlich 80% (bei Schwankungen zwischen 11% und 93%) an die vorgeschriebenen Maßnahmen in den Studienprotokollen. Dies bedeutet, dass sich nach 12 Monaten wahrscheinlich nur noch ein Drittel der Pflegeheimbewohner an die wirksamen Maßnahmen hält oder diese in ihrem realen Leben umsetzen.

Beide Ergebnisse sind sowohl für die künftige Konzeption von RCTs bedeutsam, die sich um eine höhere Beteiligung ihrer ursprünglich vorgesehenen Teilnehmerschaft, ein höheres Engagement und eine größere Therapietreue der dann teilnehmenden Personen kümmern müssen. Wichtig sind diese Erkenntnisse aber auch für die Anbieter von Sturzpräventionsprogrammen und ihr Ziel, die Inzidenz von Stürzen möglichst kräftig zu senken. Ohne Berücksichtigung der jetzt identifizierten und quantifizierten Prozesse könnten sich manche Versprechungen oder Erwartungen als so unrealistisch erweisen, dass diese Maßnahmen rasch an Akzeptanz verlieren.

Bei den beiden Cochrane-Reviews handelt es sich um:

Gillespie LD, Robertson MC, Gillespie WJ, Lamb SE, Gates S, Cumming RG, Rowe BH. Interventions for preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 2.

Cameron ID, Murray GR, Gillespie LD, Robertson MC, Hill KD, Cumming RG, Kerse N. Interventions for preventing falls in older people in nursing care facilities and hospitals. Cochrane Database of Systematic Reviews 2010, Issue 1..

Die beiden zusätzlichen Analysen der Gesamtwirksamkeit der untersuchten Interventionen sind:

Nyman Samuel R., Christina R. Victor (2011): Older people's participation in and engagement with falls prevention interventions in community settings: an augment to the cochrane systematic review. in "Age Ageing" (2012; 41(1):16-23). Der Aufsatz ist in der im August 2011 vorveröffentlichten Online-Version komplett kostenlos erhältlich.

• Nyman SR, Victor CR. (2011): Older people's recruitment, sustained participation, and adherence to falls prevention interventions in institutional settings: a supplement to the Cochrane systematic review. In: Age Ageing; 40(4): 430-6. Zu dem Aufsatz ist kostenlos sowohl das Abstract und auch der komplette Text kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 14.3.12


Aufwändigere Intervention für mehr körperliche Aktivitäten bei 75+Jährigen auch 1 ½ Jahre nach Interventionsende wirksam!

Artikel 2042 Die Entwicklung wirksamer Interventionsformen zur Verbesserung der körperlichen Aktivität von älteren Erwachsenen und die u.a. dadurch angestrebte Prävention von Behinderung sind wichtige Public Health-Ziele. Zu den wichtigsten bekannten Hindernissen auf dem Weg zu diesen Zielen gehören die zeitliche Begrenztheit der erwünschten Effekte und die Gefahr, bestimmte Zielgruppen mit den gewählten Interventionsmethoden zu verfehlen. Vielfach scheuen daher Krankenkassen oder Anbieter derartiger Leistungen, diese für ältere Personen anzubieten.

Eine Gruppe finnischer GesundheitswissenschaftlerInnen hat sich dagegen in den Jahren 2003 bis 2005 mit einer 632 Personen umfassenden Gruppe im Alter von 75 bis 81 Jahren in einer randomisierten kontrollierten Studie die Wirkung einer mehrstufigen bewegungsbezogenen Intervention über zwei Jahre angeschaut. Die TeilnehmerInnen waren vor Studienbeginn noch relativ mobil, hatten keine schweren physischen oder psychischen Erkrankungen aber verhielten sich auch so immobil oder bewegungsarm, dass sie ein Risiko für damit assoziierte Beeinträchtigungen oder Behinderungen aufwiesen.

Die Intervention in der Interventionsgruppe bestand aus einem "face-to-face"- Treffen mit Physiotherapeuten und Bewegungsexperten und aus Telefonkontakten und -beratungen, die für 2 Jahre alle vier Monate stattfanden. Ziel der Beratungen war, die Beteiligung der TeilnehmerInnen an sportlichen Aktivitäten zu erhöhen und körperliche Bewegung zur Gewohnheit werden zu lassen.

Nach Ablauf der 2 Interventionsjahre war der Behandlungseffekt im Bereich von Wasser-Aerobic und Fitnesslauf in der Interventionsgruppe signifikant um das 1,5-Fache (odds ratio=2,49) oder um 58% (odds ratio=1,58) höher als in der Kontrollgruppe. Auch bei den Fitnessübungen und dem Gewichtetraining gab es absolute Vorteile für die TeilnehmerInnen aus der Interventionsgruppe, die aber statistisch nicht signifikant waren.

Eine weitere Untersuchung der Interventionswirkungen, die anderthalb Jahre nach Beendigung der zweijährigen Intervention stattfand, fand immer noch einen evidenten Interventionseffekt. Der Anteil aller TeilnehmerInnen, der weiter in einem der in der Studie ausgewählten Bereiche körperlich aktiv blieb, sank zwar, fiel aber nicht unter das Ausgangsniveau. Differenziert betrachtet, verschwand der Interventionseffekt aber lediglich bei den Personen, die Wasser Aerobic und Fitnesslaufen betrieben. Die Anzahl der StudienteilnehmerInnen, die Gewichtetraining betrieben oder sich gewohnheitsmäßig aktiver bewegten, war gegenüber den Kontrollgruppenangehörigen auch 18 Monate nach Beendigung der Telefonberatung etc. noch signifikant um das 1,3-Fache (OR 2,33) oder um 58% höher.

Subgruppenanalysen zeigten, dass Personen, die zu Beginn der Intervention körperlich mobil waren, eine höhere und länger anhaltende Wirkung der Intervention erfuhren. Ältere Personen mit manifesten Einschränkungen ihrer Mobilität brauchen wahrscheinlich mehr face-to-face-Beratungsgespräche als ihre mobileren AltersgenossInnen.

Von der Studie Effect of physical activity counseling on physical activity of older people in Finland von Minna Rasinaho et al., erschienen in der Fachzeitschrift "Health Promotion International" (online publiziert am 11. September 2011) ist ein Abstract kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 24.11.11


Befragung von Nutzerinnen einer Mutter-Kind-Kur: Hoher Bedarf, großer und nachhaltiger Nutzen und wie dieser erhöht werden kann!

Artikel 1955 "Versicherte haben … Anspruch auf aus medizinischen Gründen erforderliche Rehabilitationsleistungen in einer Einrichtung des Müttergenesungswerks oder einer gleichartigen Einrichtung; die Leistung kann in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme erbracht werden" (§ 41 SGB V)
Den Bedarf für solche Maßnahmen hat das Bundesfamilienministerium beziffert. Etwa 2,1 Millionen Mütter sollen demnach kurbedürftig sein. Trotzdem sinken die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Mütter-Kind- oder auch Vater-Kuren. Von 2009 auf 2010 sanken sie nach aktuellen Angaben des Müttergenesungswerks (MGW) um fast zehn Prozent von 316,7 Millionen auf 287,6 Millionen Euro. Dafür sorgt nach Meinung des MGW die in den letzten Jahren noch leicht angestiegene Erstablehnungsquote von durchschnittlich 34% im Jahr 2009. Dass diese Ablehnungen nicht nur aus berechtigten Gründen erfolgen, zeigt sich darin, dass in den rund 14.800 Widerspruchsverfahren mehr als die Hälfte der Ablehnungen unbegründet gewesen sind.

Nachdem sich nun auch noch der Bundesrechnungshof in die Überprüfung des Ablehnungs- und Bewilligungsgeschehen bei Mutter-Kindkuren (MKK) eingeschaltet hat (seitdem die GKV Steuerzuschüsse erhält, kann der Rechnungshof überprüfen wie in der GKV mit den Einnahmen umgegangen wird), wird die Debatte sicherlich noch eine Weile anhalten.

Wie bei vielen Finanzierungsdebatten verliert die Frage, welchen Nutzen die Versorgungsmaßnahmen haben und was man durch ihre Ablehnung qualitativ bewirkt, an Bedeutung. Sie wird bis auf wenige Ausnahmen kaum mehr gestellt und auch Antworten werden Mangelware.

Eine Ausnahme sind die Ergebnisse einer umfangreichen und tiefschürfenden Befragung von rund 500 versicherten Müttern (die sehr wenigen Väter wurden nicht in die Auswertung aufgenommen) der Handelskrankenkasse (hkk) Bremen, die 2009 eine stationäre MKK bewilligt und in Anspruch genommen hatten.

Zu den wichtigsten Informationen, die aus den 274 beantworteten Fragebögen gewonnen werden konnten, zählen

• der hohe gesundheitliche Bedarf, der die Mütter veranlasste, eine MKK zu beantragen: 47% der Mütter bezeichneten ihren Gesundheitszustand (physisch wie psychisch) vor Antritt der Kur als "mangelhaft" und weitere 14% als "schlecht". Die beste Schulnote für ihre Gesundheit war ein "befriedigend". Der gelegentlich geäußerte Verdacht, die MKK würde von eigentlich gar nicht bedürftigen Personen als eine Art Kurlaub in Anspruch genommen entbehrt also jeglicher Substanz.
• die proportionale Inanspruchnahme der MKK durch Mütter und Kinder aus unteren sozialen Schichten, d.h. der Bevölkerungsgruppe, die auch hier einen sehr hohen Bedarf hat.
• die hohe subjektiv wahrgenommene Wirksamkeit der MKK. Alles in Allem äußerten sich 75% der Teilnehmerinnen sehr zufrieden oder zufrieden. Unmittelbar nach der Heimkehr gaben 90% eine Verbesserung ihres vorherigen gesundheitlichen Zustands an. Und auch noch ein Jahr nach Ende der MKK bewerteten 30% der Teilnehmerinnen ihren Gesundheitszustand noch um eine Note besser als vor Beginn der MKK. Die Noote lag bei 43% um 2 Stufen über der vor Maßnahmebeginn.
• auch die Verbesserung bei objektiven Indikatoren des Gesundheitszustandes wie der Anzahl von Arztkontakten, ärztlichen Therapien und des Körperzustands. Weniger Veränderungen zeigten sich dagegen beim Gesundheitsverhalten der Mütter und im Bereich der eher psychischen Beeinträchtungen und
• positive gesundheitliche Effekte bei Kindern, sofern auch für sie altersgerechte Kurpläne erstellt werden.

Die Befragung förderte auch eine Reihe von meist einfach zu vermeidenden Schwachstellen und Defiziten der MKK zu Tage. Die Teilnehmerinnen nannten dabei vor allem folgende Details:

• Die Informationen über die Ziele und den angestrebten und gesicherten Nutzen sollten in verständlicher Form vor Antritt der MKK vorliegen. Dies gilt auch für Informationen über den Tagesablauf.
• Insgesamt plädieren die Mütter für die Vorlage eines Therapieplans. Ein Therapieplan erscheint den Müttern auch für ihre Kinder als vorteilhaft.
• Eines der größten Defizite sehen die Mütter in zu wenig Informationen oder Angeboten eines Nachsorgeprogramms. Dies wurde nur 17% angeboten und damit auch nur von sehr wenig Müttern in Anspruch genommen.

Der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Marstedt fasst den Nutzen der von ihm mit der Befragung evaluierten MKK so zusammen: "Die positiven gesundheitlichen und versorgungsökonomischen Effekte … der MKK (sind) sowohl in der Höhe als auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit so hoch wie bei vielen anderen weit häufiger in Anspruch genommenen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung."
Dass MKK zu Unrecht und wesentlich häufiger als viele andere GKV-Leistungen nicht bewilligt werden, sollten sich diejenigen Kassenverantwortliche, die glauben damit nutzlose Leistungen zu verweigern und wirtschaftlich zu handeln, nach der Lektüre der hkk-Mütterbefragung noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen.

Die Ergebnisse der Mütter, die eine MKK in Anspruch genommen haben, sind als 17 Seiten umfassender und materialreicher Teil 2 Mutter/Vater-Kind-Kuren: Erfahrungen der hkk-Versicherten des hkk-Reports "Aspekte der Versorgungsforschung 2011" veröffentlicht und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 3.6.11


14-Länder-Report: Warnhinweise auf Zigarettenpackungen sind den meisten Rauchern bekannt und viele von ihnen denken ans Aufhören!

Artikel 1950 14 Länder der "Zweiten" (z.B. Russland, Ukraine) oder "Dritten Welt" (z.B. Indien), die sich in dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geförderten "Framework Convention on Tobacco Control (FCTC)" zusammengeschlossen haben, einigten sich vor mehreren Jahren darauf, Tabakwarenverpackungen mit spezifischen Warnhinweisen zu bedrucken. Diese Hinweise sollten die schädigenden Wirkungen des Tabakkonsums beschreiben, von den nationalen Behörden zugelassen sein, mindestens 30% und besser noch bis zu 50% der sichtbaren Packungsoberfläche bedecken, klar und eindeutig in der Landessprache formuliert sein, mehrere wechselnde Texte verbreiten und vorzugsweise Bilder oder Pictogramme benutzen.

Um herauszubekommen, wie viele aktive RaucherInnen man mit diesen Hinweisen überhaupt erreicht und wie viele Personen sich dazu veranlasst fühlen, daran zu denken, das Rauchen aufzuhören, wurde in den 14 Ländern 2008 bis 2010 im Rahmen des "Global Adult Tobacco Survey (GATS)" Befragungen von heranwachsenden (15 Jahre und älter) und erwachsenen Rauchern maschinell produzierter Zigaretten durchgeführt.

Die Situation in diesen Ländern sah so aus:

• Die Raucherprävalenz betrug bei Männern zwischen 9,6% in Indien und 59,3% in Russland. Die Prävalenz des Rauchens von Frauen betrug in allen Ländern weniger als 25%, in Bangladesh, China, Ägypten, Indien, Thailand und Vietnam sogar unter 2%.
• In 12 der 14 Länder hatten 90% und mehr der Männer und in sieben Ländern 75% und mehr der Frauen innerhalb der letzten 30 Tage einen Warnhinweis auf der Zigarettenpackung bemerkt. In Indien und Mexiko hatten bei den Männern nur 78,4% oder 83,5% den Hinweis bemerkt.
• In sechs Ländern dachten darauf mehr als 50% über ein Ende ihres Raucherlebens nach. Mehr als 25% aller männlichen wie weiblichen Raucher taten dies in dreizehn der Länder. Und nur in Polen lag der Anteil unter der 25%-Marke.
• In Bangladesh, Mexiko, Phlippinen, Thailand und der Ukraine hatten Männer und Frauen oder beide im Alter von 65 und mehr Jahren die Warnhinweise wahrscheinlich deutlich weniger gelesen oder zur Kenntnis genommen. In zwei Ländern (Indien und Uruguay) dachten ältere Raucher am wenigsten über den Ausstieg aus dem Zigarettenkonsum nach.

Schade ist, dass auch hier nicht nachgefragt wird, ob aus dem Nachdenken übers Aufhören auch praktisch etwas geworden ist, also wirklich ein relevanter Teil Nichtmehrraucher herausgekommen ist.

Die Ergebnisse sind am 27. Mai 2011 unter dem Titel "Cigarette Package Health Warnings and Interest in Quitting Smoking - 14 Countries, 2008—2010" mit einem ausführlichen Tabellenanhang im "Morbidity and Mortality Weekly Report" (60(20);645-651) der us-amerikanischen CDC veröffentlicht worden und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 31.5.11


Selbst in den harten norwegischen Wintern wirkte sich das Rauchverbot in Gaststätten nicht negativ auf ihre Einnahmen aus!

Artikel 1890 Wer in den frostigen Tagen zum Jahreswechsel voller Mitleid frierende RaucherInnen vor Gaststättentüren stehen oder sitzen sah oder vielleicht irgendwo in Spanien einem Tapa-Restaurantbesitzer zuhörte, der sich über das am 1.1. 2011 in Kraft getretene EU-weit radikalste Rauchverbotsgesetz seines Landes existentiell erregte, neigt vielleicht leichter (wieder) dazu, die wirtschaftliche Zukunft des Gaststättengewerbes durch Rauchverbote und zumindest im Winter gefährdet zu sehen. Auch wenn die Rauchverbote immer deutlicher ihren gesundheitlichen Nutzen erkennen lassen (vgl. dazu einen von den Bremer Gesundheitswissenschaftlern Bernard Braun und Gerd Marstedt verfassten Überblick zum internationalen Forschungsstand Mitte des Jahres 2010 auf der Website der "Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung"), darf ein drohender Verlust von Arbeitsplätzen nicht a priori ignoriert werden. Er verdient zumindest empirisch untersucht und bestätigt oder verworfen werden.

Schon bisherige Studien u.a. für einige Bundesländer in Deutschland hatten gezeigt, dass die Verluste geringer waren als erwartet und öffentlich kommuniziert (vgl. dazu die ebenfalls von Bernard Braun und Gerd Marstedt Mitte 2010 verfasste "Zusammenfassung des Forschungsstandes in Deutschland: Wirtschaftliche Verluste im Gaststättengewerbe durch Rauchverbote geringer als befürchtet", die ebenfalls auf der Website der "Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung" kostenlos erhältlich ist).

Zwei norwegische Gesundheitsökonomen haben sich nun auf der Basis eines für Norwegen existierenden, zeitlich umfassendsten Datensätze (1999 bis 2007) über die wirtschaftliche Situation von Restaurants und Bars/Kneipen und eines seit Juni 2004 existierenden Rauchverbots ebenfalls mit den kurz- und vor allem auch langfristigen wirtschaftlichen Effekten eines Rauchverbots befasst. Angesichts der eingangs erwähnten rauhen Außenbedingungen muss hervorgehoben werden, dass es in Norwegen im Winter wie im Sommer deutlich kälter ist als in Deutschland, also die abschreckende Wirkung des Outdoor-Rauchenmüssens höher ist bzw. sein könnte. Diesen Faktor heben die Autoren auch als eine Besonderheit ihrer Studie hervor. In wärmeren Ländern gibt es nach ihren Angaben nämlich im Moment keine Untersuchung, die einen negativen oder positiven wirtschaftlichen Effekt von Rauchverboten im Gaststättengewerbe nachgewiesen hat - mit der möglichen Ausnahme von Spielhallen.

Die wesentlichen, methodisch aufwändig (siehe dazu den Aufsatztext) Ergebnisse der Wirkungsanalysen für die norwegische Gastronomie lauten:

• Ein Jahr nach der Einführung des Rauchverbots hatten die Einnahmen der Restaurants preisbereinigt und im Vergleich mit dem Jahr vor der Einführung um 2,5 % zugenommen. Dabei gaben allerdings die NorwegerInnen einen kleineren Anteil ihrer Konsumausgaben für Restaurantbesuche aus (Abnahme von 1,65 % auf 1,56 %).
• Beide Trends existierten inhaltlich auch in Bars und Kneipen (u.a. Zunahme der Einnahmen um 1,2 %). Auch wenn die Einnahmen von Restaurants und Bars weiter saisonal, d.h. überwiegend klimabedingt schwanken, lagen die Einnahmen langfristig und praktisch bei jeder der im Zweimonatsabstand durchgeführten Erhebungen über dem Niveau vor Einführung des Rauchverbots.
• Noch konkreter und trotz einiger methodischer Beschränkungen der Analyse: Trotz der unangenehmeren Bedingungen des zwangsweisen Outdoor-Rauchens lagen die Einnahmen der Gastbetriebe auch in den letzten harten norwegischen Wintern über dem immer schon niedrigeren Einnahmebetrag in früheren Wintern - obwohl die Raucher damals "gemütlich" an der Bar und an den Esstischen rauchen konnten.

Der Aufsatz "Do smoke-free laws affect revenues in pubs and restaurants?" von Hans Olav Melberg und Karl E. Lund ist gerade in der ökonomischen Fachzeitschrift "European Journal of Health Economics" (DOI 10.1007/s10198-010-0287-6) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 5.1.11


Gesundheitsförderung an deutschen Schulen: Positiveffekte setzen hohen Einsatz voraus

Artikel 1849 Das Gesundheitsförderungs-Projekt "gesund leben lernen" wird seit dem Jahr 2003 an insgesamt 62 Schulen und zwei Kitas in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt durchgeführt. In einer Veröffentlichung in der Zeitschrift "Prävention und Gesundheitsförderung" zieht die Forschungsgruppe "Versorgung und Qualität in der Prävention", angesiedelt am Institut und der Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), eine erste Bilanz. Zentraler Befund dieser Evaluation ist: "Wo das Projekt mit mehr Zeit und multimodalem Vorgehen umgesetzt wurde und auf günstige Rahmenbedingungen traf, verbesserten sich gesundheitsbezogene Strukturen und Prozesse, Schüler- und Lehrergesundheit. Im Mittel gewannen aber nur wenige Dimensionen signifikant, mit schwacher bis mittlerer Effektgröße." (S. 3)

Zu Projektbeginn wurde eine Bestandsaufnahme durchgeführt, danach konnte jede Schule ihren eigenen Weg gehen und aus dem Spektrum möglicher Maßnahmen zur Gesundheitsförderung auswählen: Verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen, Gesundheitstage, Umgestaltung des Schulgeländes, Fortbildungen für das Lehrerkollegium, Angebote zur Sucht- oder Übergewichtsprävention oder zur Stressbewältigung. Für das Projekt wurden zu Beginn keine konkreten und differenzierten Ergebnisindikatoren festgelegt. Die spätere Evaluation sollte jedoch überprüfen, ob Verbesserungen auf drei Ebenen erzielt wurden: (1) Organisations-Strukturen und Prozesse im Schulalltag (z.B. Partizipation, Ausstattung und Qualitätssicherung der Gesundheitsförderung), (2) Arbeitsbelastungen, Gesundheit und Gesundheitsverhalten, Ressourcen (Selbstwirksamkeit) der Lehrer, (3) vergleichbare gesundheitsbezogene Indikatoren bei Schülern.

"Das wünschenswerte Design einer cluster-randomisierten Studie", so erklären die Wissenschaftler, "war aus mehreren Gründen nicht durchführbar." Hierfür genannt werden unter anderem der höhere Kosten- und Zeitaufwand für die Einbeziehung von Kontrollgruppen sowie die befürchtete ablehnende Haltung von Schulen, die nur als Kontrollgruppe dienen sollten. Stattdessen wurde eine Beobachtungsstudie durchgeführt. Die Schulen wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um eine Überrepräsentierung von Schulen auszuschließen, die eine besonders hohe Motivation und Erfolgsaussicht aufweisen.

Die Studie begann 2003 mit 67 Schulen, 15 davon brachen aber in den ersten beiden Jahren ab. Schriftliche Fragebogen-Erhebungen fanden dann ab Ende 2004, ab Ende 2006 und schließlich ab Januar 2008 statt. Eingesetzt wurden 4 Fragebögen zur Abschätzung der Wirkungen. Darunter waren ein Instrument zur Erfassung gesund¬heitsförderlicher Strukturen und Pro¬zesse, ein Fragebogen für Lehrer, der unter anderem Alter, Geschlecht, Arbeitszufrieden¬heit, Ar¬beitsplatzbelastungen, soziale Unterstützung, Le¬bensqualität, psychisches Wohlbefinden, Tabak- und Alkoholkonsum und Selbstwirksamkeitserwar¬tung erfasste. Der Fragebogen für Schüler war ähnlich differenziert und umfangreich und thematisierte vergleichbare Indikatoren. Schließlich wurde auch ein Dokumentationsbogen für die durchgeführten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung eingesetzt.

Es zeigte sich, dass die Schulen erhebliche Ressourcen einsetzten. Im Durchschnitt wurden 160 Arbeitsstunden investiert und 18 Maßnahmen in knapp 3 Jahren durchgeführt. Allerdings wurde dabei eine große Heterogenität deutlich, die Streuweite variierte zwischen 0 und 711 Stunden sowie 1 bis 63 Maßnahmen. Die wesentlichen Ergebnisse der Evaluation waren folgende.

• "Ohne Fleiß kein Preis": Schulen mit deutlichen strukturellen Verbesserungen und auch gesundheitlichen Positiveffekten bei der Lehrergesundheit investierten im Mittel etwa doppelt so viel Zeit in das Projekt, führten erheblich mehr Einzelmaßnahmen durch und gestalteten diese differenzierter. Schulen, an denen sich speziell die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Lehrer verbesserte, hatten mehr als doppelt so viel Zeit investiert im Vergleich zu Schulen, wo dieser Indikator sich verschlechterte (276 versus 137 Stunden).
• Verbesserungen, was die Gesundheit der Schüler anbetraf, blieben aus oder waren überaus geringfügig, zum Beispiel stieg die Schulzufriedenheit um etwa 5%, körperliches Wohlbefinden und Selbstwerterleben lediglich um etwa 3%.
• Die Lehrer berichteten über eine deutliche Zunahme ihrer erlebten Arbeitsbelastung um 12% im Projektzeitraum.
• Die drei untersuchten Wirkungsebenen zeigten unterschiedlich große Effekte: Strukturverbesserungen zeigten sich deutlicher als Veränderungen des Gesundheitszustands. Die maximal erreichten Verbesserungen betrugen 35% für Strukturveränderungen, 12% für Verbesserungen der Lehrergesundheit, 3% für Verbesserungen der Schülergesundheit.
• Die Effekte waren in den einzelnen Schulen extrem unterschiedlich: Nur eine Schule erreichte Verbesserungen auf allen drei Ebenen. an 10 von 22 Schulen (45%) traten Erfolge auf mindestens 2 Ebenen ein, an ebenso vielen gingen Erfolge auf einer Ebene mit Rückgängen auf einer anderen einher.
Das "Projektziel einer Verringerung sozi¬al bedingter gesundheitlicher Ungleichheit" wurde nach Aussage des Forschungsteams erreicht. Wie groß ist dieser Effekt ist, wird in der Veröffentlichung jedoch leider nicht dargestellt.

Unter dem Strich lautet das Fazit: "Ein Fünftel der Schulen (n=15) gab das Projekt kurz nach Beginn auf, nur etwa ein Drittel der verbleibenden profitierte klar, und davon etwa die Hälfte auf mehr als einer Ebene (Strukturen, Lehrer- oder Schülergesundheit). Das Programm bot also kein für alle Einrichtungen mit Sicherheit erfolgreiches Vorgehen. Seine Wirksamkeit war von Rahmenbedingungen und einer intensiven Durchführung abhängig. Wo ungünstige Ausgangslagen bestanden (schlechte Ausstattung, geringes soziales Kapital im Schulumfeld, besonders hohe Eingangsbelastung), wo das Projekt mit geringem Einsatz durchgeführt wurde (punktuelle Maßnahmen relativ geringer Dosis) und wo die Veränderungen der Arbeitswelt Schule (erhöhte subjektive Arbeitsbelastung der Lehrkräfte) zusammentrafen, konnte das Projekt Gesundheitsverschlechterungen nicht aufhalten." (S. 10)

Das Forschungsteam weist in der Diskussion der Befunde noch einmal darauf hin, dass die weithin vermisste systematische und methodisch fundierte Evaluation von Gesundheitsförderungsmaßnahmen in der Schule nicht nur in wissenschaftlicher Perspektive ein Problem ist. Enttäuschungen der Schüler wie Lehrer, Verluste von Zeit und finanziellen Ressourcen stellen sich gehäuft dann ein, wenn in der Evaluation von Maßnahmen nicht unterschiedliche Ausgangsbedingungen und Vorgehensweisen unterschieden und stattdessen "gelungene und ungeeignete Interventionen 'in einen Topf geworfen' und zusammen beurteilt werden." (S. 11)

Von der Studie ist kostenlos leider nur ein Abstract verfügbar: T. Kliche, D. Hart, U. Kiehl, M. Wehmhöner, U. Koch: (Wie) wirkt gesundheitsfördernde Schule? Effekte des Kooperationsprojekts "gesund leben lernen" (Prävention und Gesundheitsförderung, Online First, DOI 10.1007/s11553-010-0243-4)

Gerd Marstedt, 10.9.10


Alkohol: höhere Preise - weniger Probleme

Artikel 1804 Zwei "natürliche Experimente" hatten gezeigt, dass der Konsum von Alkohol und die alkoholassoziierten Todesfälle vom Alkoholpreis abhängig sind (wir berichteten): deutliche Preissenkungen in Finnland ab 2004 führten zur Erhöhung von Konsum und Mortalität, deutliche Preiserhöhungen in Alaska in den Jahren 1983 und 2002 zur Minderung.

Eine englische Untersuchung befasste sich jetzt mit der Frage, wie sich unterschiedliche Muster der Preisgestaltung auf den Konsum und die Gesundheit unterschiedlicher Gruppen innerhalb der englischen Bevölkerung auswirken. Gestaltbar ist der Preis über Steuererhöhungen, Festlegen eines Mindestpreises für eine "Alkoholeinheit" (10 ml Äthanol), Verbot von Sonderangeboten sowie Kombinationen dieser Elemente.

Daten über den Alkoholkonsum standen aus Haushaltsbefragungen zur Verfügung. Den Anteil, den Alkohol an der Verursachung von 47 Krankheiten ausmacht ("attributable Fraktion"), errechneten sie aus systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen. Die Veränderungen des Alkoholkonsums für 18 Preisgestaltungen bestimmten sie mit dem Konzept der Preiselastizität. Als Preiselastizität wird "die prozentuale Veränderung der Nachfragemenge nach einem Gut, wenn eine Preisänderung bei diesem Gut um ein Prozent nach oben oder unten eintritt" bezeichnet (Duden Wirtschaft). Sie ist somit ein Maß für die Reaktion der Nachfrage auf Preisveränderungen. In England führt eine Erhöhung des Verkaufspreises um 10% zu einer Minderung des Konsums um 5% bei einem durchschnittlichen Konsumenten, entsprechend einer Preiselastizität von -0,5.

Aus den umfangreichen Ergebnissen seine hier Folgende genannt.
Allgemeine Preiserhöhungen bewirken eine Minderung des Konsums, der alkoholbedingten Mortalität und Morbidität sowie einen Gewinn an Lebensqualität (ausgedrückt in QALYs - quality adjusted life years).
Eine allgemeine Preiserhöhung in England um 10% mindert pro Jahr
• die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle um 1.460,
• die chronische Morbidität um 20,5 Fälle pro 1.000 Personen,
• die akute Morbidität um 5,8 Ereignisse pro 1.000 Personen.
Ein Mindestpreis von 0,7 Engl. Pfund für eine Alkoholeinheit in Verbindung mit einem Verbot von Sonderangeboten verhindert pro Jahr 7.150 Todesfälle sowie 100,2 chronische und 23,3 akute Krankheitsereignisse pro 1.000 Personen.
Der Konsum in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen mit schädlichem Gebrauch wird durch Preiserhöhungen bei Niedrigpreis-Alkoholika stärker gesenkt als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Berechnungen beruhen im Wesentlichen auf Daten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einem bestimmte Zeitraum erhoben wurden ("Querschnittdaten"). Die Autoren weisen darauf hin, dass die Ergebnisse mit Längsschnittdaten überprüft werden sollten.

Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt eine systematische Übersichtsarbeit, die im Februar 2010 im American Journal of Preventive Medicine erschien. Insgesamt wurden 78 internationale Studien eingeschlossen, die sich mit Effekten von Preiserhöhungen für Alkohol auf Konsum und Gesundheit befassten. Hier einige Ergebnisse:
• Gesamtkonsum in einer Gesellschaft - fast alle Studien bestätigen den Zusammenhang einer Minderung des Gesamtkonsums bei einer Erhöhung der Preise.
• Konsum bei Jugendlichen - höhere Preise gehen mit niedrigerem Konsum einher
• Verkehrsunfälle - höhere Preise senken die Zahl der Unfälle und die Zahl der Personen, die unter Alkoholeinfluss motorisiert am Straßenverkehr teilnehmen.
• Sterblichkeit an alkoholassoziierten Krankheiten - höhere Alkoholpreise stehen in Zusammenhang mit niedrigerer Mortalität an Leberzirrhose und einigen anderen Todesursachen.
• Gewalt - höhere Alkoholsteuer geht mit niedrigeren Raten z.B. an Körperverletzung und Vergewaltigung sowie Gewalt gegen Kinder einher.

Die hier dargelegten (und viele weitere) Studien zeigen, dass der Staat sowohl durch Handeln als auch durch Nicht-Handeln über das Preisniveau von alkoholischen Getränken den Konsum in der Bevölkerung beeinflusst. Für wissenschaftlich begründete politische Entscheidungen zur Alkoholprävention über die Preise dürfte die Datenlage mehr als ausreichend sein. Wie allerdings Politik zu diesem Thema in Deutschland funktioniert, beleuchtet der Beitrag in der ZEIT "Die Gesetzeshüter".


Purshouse RC, Meier PS, Brennan A, Taylor KB, Rafia R. Estimated effect of alcohol pricing policies on health and health economic outcomes in England: an epidemiological model. The Lancet 2010;375(9723):1355-64. Abstract

Elder RW, Lawrence B, Ferguson A, Naimi TS, Brewer RD, Chattopadhyay SK, et al. The Effectiveness of Tax Policy Interventions for Reducing Excessive Alcohol Consumption and Related Harms. American Journal of Preventive Medicine 2010;38(2):217-29. Abstract

Die Gesetzeshüter. Wie die deutschen Bierbrauer neue Gesetze gegen Alkoholmissbrauch verhindern und die Drogenbeauftragte der Bundesregierung entmachten. Die ZEIT, 14.5.2009, S. 17

David Klemperer, 18.5.10


Schweizer Studie: Mehr Schulsport wirkt sich gesundheitlich überaus positiv aus

Artikel 1793 Zwei zusätzliche Stunden Sportunterricht in der Woche - kann dies ein Mittel sein, um Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen? Ein jetzt in der renommierten englischen Fachzeitschrift "British Medical Journal" veröffentlichter Artikel über eine Schweizer Interventionsstudie macht deutlich, dass mehr Sport und Bewegung in der Schule sich gesundheitlich überaus positiv auswirken, wie an einer Reihe von Indikatoren (Körperfett, Fitness, Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen) deutlich wird. Ein Wermutstropfen bleibt gleichwohl: Das Körpergewicht der Schüler und der Body Mass Index nahmen nicht ab, sondern stiegen generell ein wenig an, allerdings in der Kontrollgruppe noch stärker als in der Interventionsgruppe.

Insgesamt 502 Schülerinnen und Schüler im Alter von etwa sieben bis elf Jahren nahmen an der Studie teil, die an 15 Schweizer Grundschulen im Aargau und Baseler Umland durchgeführt wurde. Ein "sozial-ökologisches Konzept" sollte auf seine Effektivität bei der Bekämpfung von Übergewicht und der Verbesserung körperlicher Fitness überprüft werden. Dazu wurden die teilnehmenden Kinder nach dem Zufallsprinzip einer Interventions- oder Kontrollgruppe zugewiesen. In der Kontrollgruppe wurde weiter nichts unternommen, der Schulunterricht lief wie gewohnt weiter und Teilnehmer wurden ganz bewusst nicht informiert, dass sie als Vergleichsgruppe dienen sollten.

In der Interventionsgruppe jedoch wurde einiges verändert:
• Der Sportunterricht wurde von drei auf fünf Unterrichtstunden (zu jeweils 45 Minuten) erhöht, und die zwei zusätzlichen Stunden wurden nicht von den gewohnten Klassenlehrern abgehalten, sondern von geschulten Sportlehrern.
• Der gesamte Unterricht wurde von Sportwissenschaftlern neu strukturiert. Lehrer sollten jetzt etwa 3-5mal am Tag kurze Pausen einlegen, um unterschiedliche motorische Übungen durchzuführen: Springen, auf einem Bein Balancieren, Kraftübungen, Koordinationsaufgaben und anderes mehr.
• Darüber hinaus bekamen die Kinder täglich andere sportliche Hausaufgaben, deren Ausübung jeweils etwa 10 Minuten dauerte und die mit den Übungen in den Unterrichtspausen vergleichbar waren: Aerobic, Krafttraining, Seilspringen, Treppen hinauf und wieder herunter hüpfen, auf einem Bein stehen und sich die Zähne putzen und ähnliches mehr.

Zur Messung der Interventionseffekte wurden als primäre Indikatoren herangezogen: Körperfett an bestimmten Hautpartien, körperliche Fitness, Ausmaß körperlicher Bewegung und Fragen zur wahrgenommenen Lebensqualität. Darüber hinaus wurden auch der Body Mass Index überprüft und ein Risikowert für kardiovaskuläre Erkrankungen gebildet (u.a. auf der Basis von Blutdruck, Blutzuckerwert, Hüftumfang, Cholesterinwerte).

Nach neun Monaten wurden diese Indikatoren dann in der Interventions-, aber auch in der Kontrollgruppe erhoben und mit den Daten zu Studienbeginn verglichen. Dabei zeigten sich in einer multivariaten Analyse, die auf statistischem Wege auch andere Einflussfaktoren (Alter, Geschlecht etc.) berücksichtigte, unterschiedliche Befunde:
• Positive Effekte zugunsten der Interventionsgruppe zeigten sich im Hinblick auf die Entwicklung von Körperfett an vier Hautpartien, die körperliche Fitness bei Aerobic-Übungen, das Ausmaß körperlicher Bewegung in der Schule. Ebenso verbesserten sich die Risikowerte für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Interventionsgruppe stärker als in der Kontrollgruppe.
• Keine Unterschiede hingegen zeigten sich für die Bewertung der körperlichen und psychischen Lebensqualität.
• Im Hinblick auf Veränderungen des Body Mass Index zeigte sich überraschender Weise, dass der Durchschnittswert in beiden Gruppen (allerdings nur geringfügig) gestiegen war, wobei der Anstieg in der Kontrollgruppe noch etwas höher ausfiel (+ 0,4 bzw. + 0,3 BMI).

Die Forscher führen dieses letzte, für sie unerwartete Ergebnis darauf zurück, dass in der Interventionsgruppe der zeitliche Umfang von Sport und Bewegung in der Freizeit zurückgegangen war, und zwar vermutlich aufgrund des zeitlich erweiterten Schulsports. Da sich jedoch eine Reihe anderer Indikatoren, wie das Ausmaß an Körperfett, die körperliche Fitness und sogar kardiovaskuläre Risikofaktoren durch die Maßnahmen sehr positiv verändert haben, sprechen sie zu Recht von einem Erfolg ihrer Studie. Unterstrichen wird dies durch Ergebnisse einer Befragung am Ende der Studie: 90% der Kinder und 70% der Lehrer wünschten sich eine Fortsetzung der Maßnahmen auch in kommenden Schuljahren.

Eine wichtige Frage bleibt allerdings für Wissenschaftler zukünftig noch zu klären, nämlich die, wie man in weiteren Interventionsstudien vermeiden kann, dass eine zeitliche Ausweitung von Sport und körperlicher Bewegung im Setting Schule wieder konterkariert wird durch eine Reduktion solcher Aktivitäten in der Freizeit.

Von der Veröffentlichung gibt es im BMJ kostenlos ein Abstract, aber auch den Volltext: Susi Kriemler et al: Effect of school based physical activityprogramme (KISS) on fitness and adiposity in primary schoolchildren: cluster randomised controlled trial, BMJ 2010;340:c785, doi:10.1136/bmj.c785
Abstract
Volltext (PDF)

Gerd Marstedt, 30.4.10


Sturzprävention: Benzodiazepinkonsum älterer Menschen durch einmalige Beratungsveranstaltung signifikant und dauerhaft senkbar.

Artikel 1781 Die Einnahme psychotropischer bzw. wesensverändernder Arzneimittel ist bei älteren Menschen weit verbreitet. In einer finnischen Studie mit 75 Jahre alten und älteren Personen, die in ihren eigenen vier Wänden wohnten, nahmen 37% mindestens eine derartiges Medikament ein, 12% sogar zwei und mehr. Jeder Dritte nutzte Schlafmittel oder angstlösende Arzneimittel, deren Hauptwirkstoff Benzodiazepin oder ein ähnlicher Stoff war. Benzodiazepine werden in der Regel über längere Zeit und regelmäßig eingenommen.

Alle psychotropische Arzneimittel erhöhen bei älteren Menschen das Risiko von Stürzen und Knochenbrüchen. Dem steht speziell bei Schlafstörungen ein marginaler Nutzen gegenüber und das Risiko unerwünschter Effekte wie beispielsweise der von Abhängigkeit oder behandlungsabhängiger Depressionen ist hoch.

Daher verwundert es nicht, dass in einer prospektiven randomisierten kontrollierten Studie mit 528 freiwilligen und rüstigen TeilnehmerInnen im 65+-Alter untersucht wurde, ob und wodurch die langfristige Einnahme von Benzodiazepinen und vergleichbarer Arzneimittel dauerhaft verringert werden kann.
Die präventive Intervention bestand zu Beginn der Studie in einer mündlichen Bestandsaufnahme der gesamten Medikation der TeilnehmerInnen durch einen Geriater, was auch die Beratung über die Zweckmäßigkeit der Einnahme von Benzodiazepinen und ggfls. auch die Verordnung anderer, für notwendig gehaltenen Arzneimittel umschloss. Im weiteren Verlauf der Studie erhielten die Angehörigen der Interventionsgruppe eine einstündige Informationsveranstaltung über die Benzodiazepine und ihre unerwünschten Wirkungen sowie über weitere Möglichkeiten der Sturzprävention angeboten. Deren erklärtes Ziel war die Beendigung, die Reduktion oder der Wechsel der Einnahme von Benzodiazepine. In der Kontrollgruppe wurde die vorherige Verordnung und Einnahme derartiger Medikamente fortgesetzt.
Die Wirkung der Intervention in der Zeit wurde auch noch durch ein 12-Monate-Follow up gemessen. Frühere Studien hatten im Übrigen schon gezeigt, dass auch ein einfacher Brief des Hausarztes zur Benzodiazepineinnahme bereits Wirkungen erzielen kann.

Die Ergebnisse lauten:

• Die Anzahl der regelmäßigen NutzerInnen von Benzodiazepinen und verwandter Wirkstoffe sank in der Interventionsgruppe signifikant (p=0,012) um 35%. In der Kontrollgruppe stieg sie dagegen um 4%.
• Die größten präventiven Wirkungen wurden bei "jüngeren" Alten und Frauen erzielt.
• Die Intervention reduzierte auch die Anzahl der Personen, die Benzodiazepine nur unregelmäßig einnahmen. In dieser Gruppe trat zusätzlich der auch in anderen kleinräumigen Interventionsstudien beobachtete Effekt auf, dass auch die Anzahl der Angehörigen der Kontrollgruppe, die Benzodiazepine einnahmen, signifikant abnahm. Erklärbar ist dies durch die engen sozialen Kontakte der StudienteilnehmerInnen in der Kommune oder auch durch die Medienberichterstattung über die Hintergründe der Studie.

So eindrucksvoll die immerhin über 12 Monate anhaltende Wirkung der relativ unaufwändigen Intervention auch ist, so bedauerlich ist, dass die Studie an keiner Stelle untersucht, ob die Reduktion der Einnahme psychotroper Arzneimttel auch noch etwas an der Häufigkeit von Stürzen ändert. Selbst wenn es dort keine signifikanten Veränderungen gäbe, rechtfertigte der mit der Nichteinnahme verbundene Gewinn an Lebensqualität und Nebenwirkungsfreiheit die Intervention.

Von dem in der renommierten Fachzeitschrift "Age and Ageing" (2010 39(3):313-319; doi:10.1093/ageing/afp255) erschienenen siebenseitigen Aufsatz "One-time counselling decreases the use of benzodiazepines and related drugs among community-dwelling older persons" von Maritta Salonoja, Marika Salminen, Pertti Aarnio, Tero Vahlberg und Sirkka-Liisa Kivelä gibt es kostenlos sowohl ein Abstract als auch die komplette Fassung.

Bernard Braun, 14.4.10


Prävention von Burnout: Interventionen sind erfolgreich, wirken aber zeitlich nur begrenzt

Artikel 1774 Das Burnout-Syndrom wird beschrieben als Gefühl des Ausgebranntseins, als emotionale Erschöpfung, die mit einer deutlich reduzierten Leistungsfähigkeit und Motivation einhergeht. Burnout wird häufig als charakteristisches Risiko der helfenden Berufe definiert: Ärzte, Kranken- und Altenpfleger, Sozialarbeiter und -pädagogen, Erzieher, Lehrer. Tatsächlich kann es jedoch Personen in allen sozialen Gruppierungen treffen, vom Arbeitslosen bis zum Universitätsprofessor. Ob die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich exponentiell angestiegen ist, wie manche Zeitung geschrieben hat, ist empirisch nicht gesichert. Gleichwohl haben verschiedene Studien in den USA, Großbritannien oder auch Deutschland festgestellt, dass etwa 20-30% der Lehrer oder Ärzte betroffen sind.

Da Burnout oftmals mit Arbeitsunfähigkeitszeiten einhergeht, bemüht man sich auch auf betrieblicher Ebene zunehmend darum, den Betroffenen zu helfen und die Negativeffekte einzugrenzen, wobei sehr unterschiedliche Interventionen zum Einsatz gekommen sind. Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover haben jetzt einmal bilanziert, wie erfolgreich diese Maßnahmen waren. Ihre Studie, in der sie die Ergebnisse von 25 Interventionen zusammenfassen, wurde jetzt in der Zeitschrift "Patient Education and Counseling" veröffentlicht.

Berücksicht wurden nur Studien, die an zumindest zwei Zeitpunkten (vor und nach der Intervention) Daten erfasst hatten. Berücksichtigt wurden dann für die Analyse 25 Untersuchungen, von denen fast die Hälfte (N=12) aus den Niederlanden stammt. 4 Studien waren in den USA durchgeführt worden, die übrigen in Großbritannien, Israel, Kanada, Finnland, Norwegen, Schweden und Polen. In den allermeisten Studien handelte es sich bei den Teilnehmern um Beschäftigte einer Organisation oder eines Betriebs.

17 Studien hatten unmittelbar personenbezogene Maßnahmen umgesetzt, 2 Studien waren organisations-orientiert und 6 eine Mischung aus beiden Konzepten. Bei den Interventionen auf individueller Ebene handelte es sich um sehr heterogene Vorgehensweisen: kognitives Verhaltenstraining, Psychotherapie, Beratung, Training kommunikativer Fertigkeiten, soziale Unterstützung, Entspannungsübungen oder Musiktherapie bzw. Musizieren in einer Gruppe. Bei den Interventionen auf Organisationsebene wurden umgesetzt: Neustrukturierung der Arbeitsabläufe, Neugliederung von Schichtarbeit, neue Systeme zur Leistungsbewertung, neue Formen der Mitarbeiterbeurteilung. Die Interventionen dauerten unterschiedlich lange, zwischen zwei Tagen und 10 Monaten.

Die Wissenschaftler verglichen dann die in allen Studien vor und nach der Intervention (mit unterschiedlichen Fragebögen) gemessene Burnout-Intensität. Dabei zeigte sich:

• 80% aller Interventionen zeigten eine statistisch signifikante Reduzierung von Burnout-Symptomen.

• Dies gilt in einer vergleichbaren Größenordnung (82%) auch für alle Interventionen, die ausschließlich auf individueller Ebene ansetzten. Allerdings wird bei diesen Maßnahmen auch deutlich, dass sie maximal sechs Monate wirksam sind, danach ist zumeist kein Effekt mehr feststellbar. Ausnahme: In zwei Studien fanden die Wissenschaftler auch längerfristige Effekte (ein Jahr oder länger), wobei unklar geblieben ist, worin das spezielle Erfolgsrezept dieser Interventionen bestand: Andere Studien mit denselben Techniken (kognitives Verhaltenstraining und Beratung) zeigten nämlich keinen längerfristigen Erfolg.

• Für Studien, die allein auf der organisatorischen Ebene ansetzen, ließ sich kein eindeutiges Fazit ziehen: Eine Studie war hier erfolgreich, eine zweite nicht.

• Alle sechs Studien, die sowohl individuelle wie organisatorische Maßnahmen umschlossen, zeigten eine signifikante Reduzierung der Burnout-Symptome, fünf von ihnen sogar über einen Zeitraum von einem Jahr.

• Für alle Studien zeigte sich, dass die Effekte im Zeitablauf geringer werden. Allerdings können Auffrischungsmaßnahmen und eine kürzere Wiederholung von Interventionen diesem Effektabbau teilweise wieder entgegen wirken.

Ein kostenloses Abstract ist hier verfügbar: Wendy L. Awa, Martina Plaumann, Ulla Walter: Burnout prevention: A review of intervention programs, Patient Education and Counseling (Patient Education and Counseling, Volume 78, Issue 2, February 2010, Pages 184-190)

Gerd Marstedt, 5.4.10


Körperliche Aktivität ist hilfreich zur Sturz-Prävention bei Älteren

Artikel 1766 Zu den akut und oft auch auf Dauer mit negativen körperlichen und psychischen Folgen verbundenen gesundheitlichen Ereignissen von älteren, zu Hause wohnenden Menschen gehören Stürze. Zu den unerwünschten Folgen gehören lange Immobilität durch schlecht heilende Knochenbrüche, dauerhafte Einschränkungen der Mobilität aus Angst vor erneuten Stürzen und der Verlust des Vertrauens in die eigene Bewegungsfähigkeit bis hin zur häuslichen oder stationären Pflegebedürftigkeit. 30% der über 65-Jährigen zu Hause wohnenden Personen stürzen mindestens einmal pro Jahr. Auch wenn nur rund 10 % der Stürze zu einem Knochenbruch führen, benötigen rund ein Fünftel der gestürzten Personen medizinische Behandlung.

Ein 2009 aktualisiert veröffentlichter Cochrane Review untersuchte Studien über die Wirksamkeit verschiedener präventiver Interventionen. Dazu zählte u.a. die unspezifische normale Behandlung der Sturzfolgen verbunden mit Beratung, die Verordnung spezifischer Medikamente gegen eine Fülle möglicher körperlicher Ursachen (z. B. Drehschwindel bei zu niedrigem Blutdruck), Operationen zum Erhalt der Sehfähigkeit und gezielte Angebote körperlichen Trainings. Im Vergleich reduzierten nur die gezielten körperlichen Aktivitäten die Sturzrate und das Risiko zu stürzen. Je nach Trainingsform konnte das Risiko von Stürzen zwischen 17 und 35% reduziert werden. In mehreren kontrollierten Studien erwiesen sich aber auch Kataraktoperationen und das Absetzen psychotroper Medikamente noch als präventiv wirksam, wenngleich nur bei der Sturzhäufigkeit.

Dem Cochrane Review - einem Update eines erstmals 2003 veröffentlichten Review mit 62 randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) - lagen insgesamt 111 RCTs mit 55.303 TeilnehmerInnen und mit einer oder mehrerer der genannten präventiven Interventionen zugrunde. Die ausgewählten primären Ergebnisindikatoren waren die Rate der Stürze und das Sturzrisiko.

Die Wirksamkeit einzelner Interventionen sah im Vergleich mit Placebos so aus:
• Kombinierte körperliche Gruppenübungen reduzierten die Sturzrate signifikant um 22 % und das Sturzrisiko um 17 %.
• Tai Chi reduzierte ebenfalls signifikant die Häufigkeit beider Outcomes um 37 % und 35 %.
• Individuell verordnete kombinierte häusliche Übungen führten zu einer signifikanten Reduktion beider Werte um 34 % und 23 %.
• Die Einnahme von Vitamin D reduzierte weder die Sturzrate noch das Sturzrisiko signifikant. Dies könnte aber bei Personen mit niedrigem Vitamin-Level anders aussehen.
• Für Interventionen zur allgemeinen Verbesserung der häuslichen Sicherheit finden die Reviewer keine belastbaren Wirksamkeitsnachweise. Anders sieht dies bei Personen mit schweren Einschränkungen der Sehfähigkeit und mit einem aus anderen Gründen erhöhten Sturzrisiko aus.
• Beim Absetzen von Medikamenten, die das Bewusstsein beeinträchtigen können, wird zwar die Sturzrate um 66 % gesenkt, nicht aber das Sturzrisiko. Ebenfalls nur die Sturzrate wurde dann um 39 % gesenkt, wenn die Hausärzte der betreffenden Personen an einem Programm zur Veränderung ihres Verordnungsverhaltens teilgenommen hatten. Ähnlich sieht es schließlich noch bei der präventiven Wirksamkeit von Antirutsch-Schuhen aus.

Insgesamt scheinen Sturzpräventionsprogramme auch kostensparend zu sein. Angesichts so überraschender Ergebnisse wie z. B. der geringen Wirksamkeit von Interventionen in die Sicherheit des häuslichen Umfeldes (z. B. Rutschbremsen für Teppiche und Beseitigung von Stolperfallen durch Übermöblierung), ist der Schlussfolgerung der Reviewer, über die Umstände solcher Interventionen müsse noch genauer geforscht werden, zuzustimmen.

Von der aktuellen Fassung der Cochrane-Reviews gibt es kostenlos ein längeres Abstract: Gillespie LD, Robertson MC, Gillespie WJ, et al: Interventions for preventing falls in older people living in the community (Cochrane Database Syst Rev 2009;(2):CD007146.)

In der Zeitschrift "Evidence based Medicine for Primary Care and Internal Medicine" (EBM Dezember 2009 Vol 14 No 6) gibt es zusätzlich eine kostenlose zweiseitige Übersicht samt Kommentar zu diesem Cochrane Review

Bernard Braun, 24.3.10


10minütige Intervention gegen zu hohen Alkoholkonsum zeigt bei vielen Studenten Wirkung

Artikel 1698 Eine überaus kurze, nur mit Emails und Internet-Informationen über Gesundheitsrisiken zu hohen Alkoholkonsums realisierte Präventionskampagne hat sich an einer australischen Universität als durchaus erfolgreich erwiesen: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe lag bei den Teilnehmern der Intervention die monatlich konsumierte Alkoholmenge nach einem Monat um 17%, nach 6 Monaten immerhin noch um 11% niedriger.

Anlass für die Studie mit über 7.000 Studenten/innen in Australien war die Erkenntnis, dass Studierende oft mehr Alkohol konsumieren als andere Gleichaltrige und dass sie die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken massiv unterschätzen. Nach einem Test im Internet, der Häufigkeit und Intensität des Alkoholverzehrs prüfte, wurden in der Studie etwa 2.400 Teilnehmer als gefährdet eingestuft und per Zufall entweder einer Interventions- oder Kontrollgruppe zugeordnet. Die Interventionsgruppe bekam im Internet eine etwa 10minütige Instruktion zum Gesundheitsrisiko Alkohol. Zunächst nach einem Monat und später noch einmal nach sechs Monaten wurde dann erneut im Internet das Trinkverhalten erfasst. Für die Interventionsgruppe zeigte sich dabei eine geringfügige, aber im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikante Senkung der Häufigkeit und Menge des Alkoholkonsums.

Auch in deutschen Studien hat sich gezeigt, dass Studenten weniger auf ihre Gesundheit achten als andere Gleichaltrige, etwa im Hinblick auf Alkohol und Nikotin. Zuletzt deutlich wurde dies in einer Befragung von über 1.100 Studenten der Universität Mannheim. In Australien lagen ähnliche empirische Befunde vor, so dass Wissenschaftler der University of Newcastle (New South Wales) beschlossen, sich in einer Studie speziell dieser Gruppe anzunehmen und zu überprüfen, inwieweit eine über das Internet realisierte Anti-Alkohol-Maßnahme wirksam ist.

Im Jahre 2007 wurden an etwa 13.000 Studenten unterer Semester (Alter 17-24 Jahre) Emails verschickt, in denen sie eingeladen wurden, sich an einem Test im Internet zu beteiligen, in dem es um "persönliche Erfahrungen mit Alkohol und Einstellungen zum Alkoholkonsum" gehen würde. Als Anreiz für eine Beteiligung wurde mitgeteilt, dass 40 Gutscheine im Wert von 100 australischen Dollar (umgerechnet etwa 60 Euro) unter allen Teilnehmern verlost würden. An dem Test, der neben sozialstatistischen Merkmalen und anderen Aspekten (Rauchen, Meinungen zum Alkoholgenuss) unter anderem auch die Intensität und Häufigkeit des individuellen Alkoholkonsums erfasste, beteiligten sich dann etwa 7.200 männliche und weibliche Studierende.

Bei 2.435 von ihnen, also etwa jedem Dritten, wurde der Alkoholkonsum aufgrund zuvor festgelegter Punktwerte ("AUDIT-Score") auf einer Skala als bedenklich eingestuft. Diese wurden nach dem Zufallsprinzip einer Interventions- oder Kontrollgruppe zugeordnet. In der Interventionsgruppe erhielten die Teilnehmer dann im Internet eine etwa 10minütige Instruktion. Dort wurden sie in sehr umfangreicher Weise informiert:
• Über ihren persönlichen AUDIT-Wert und die damit verbundenen Gesundheits-Risiken,
• den geschätzten Blutalkohol-Wert beim heftigsten in der Befragung genannten Alkoholkonsum in den letzten vier Wochen,
• Informationen über physiologische und soziale Risiken bei verschiedenen Promillewerten, •
• Berechnungen über monatliche und jährlichen Ausgaben für Alkohol,
• Grafiken, in denen ihr Alkoholkonsum verglichen wurde mit Werten anderer Bevölkerungsgruppen,
• Hinweise über Verhaltens-Möglichkeiten und psychologische Hilfen bei Alkoholproblemen.
• Weiterhin gab es eine Reihe von Links die weitere Informationsmöglichkeiten, medizinische und psychologische Hilfen boten.

Die Teilnehmer an der Kontrollgruppe bekamen keine weiteren Informationen, sondern wurden lediglich, ebenso wie die Studenten der Interventionsgruppe nach einem Monat und nach sechs Monaten gebeten, im Internet noch einmal Auskunft zu geben über ihre Einstellungen zu und Erfahrungen mit Alkohol. Die Teilnahmequoten bei diesen Follow-up-Erhebungen bewegten sich im Rahmen auch anderer Studien: Nach 1 Monaten nahmen 80% der Kontroll- und 77% der Interventionsgruppe teil, nach 6 Monaten waren noch 65% der Kontrollgruppe (N=767) und 65% (N=811) der Interventionsgruppe zur Teilnahme bereit.

Zentraler Vergleichswert waren dann bei diesen Nachfolge-Erhebungen die durchschnittlichen AUDIT-Werte in der Interventions- und Kontrollgruppe. Tatsächlich zeigte sich in der Interventionsgruppe ein Effekt der Instruktionen über alkholbedingte Risiken und Möglichkeiten der Veränderung. Nach einem Monat lag die Anzahl der Tage mit Alkoholkonsum, die Menge jeweils getrunkenen Alkohols und die im Gesamtzeitraum konsumierte Menge an Alkohol niedriger. Die insgesamt getrunkene Alkoholmenge lag in der Interventionsgruppe nach einem Monat um 17%, nach 6 Monaten um 11% niedriger als in der Kontrollgruppe.

In der Diskussion ihrer Befunde weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass in Anbetracht des recht geringen Aufwands der Effekt der Maßnahme ihrer Meinung nach doch beachtlich ist. Sie verweisen darauf, dass sie ihr Internet-basiertes Instruktionsprogramm "electronic screening and brief intervention (e-SBI)" für nicht-kommerzielle Einrichtungen auch kostenlos zur Verfügung stellen würden.

Hier ist ein Abstract der Studie zu finden: Kypros Kypri et al: Randomized Controlled Trial of Proactive Web-Based Alcohol Screening and Brief Intervention for University Students (Arch Intern Med, 2009; 169 (16): 1508-1514)

Gerd Marstedt, 29.12.09


Verbindliche Alkoholtests für Berufskraftfahrer senken die Quote tödlicher Unfälle

Artikel 1682 Eine Studie aus den USA hat für den Zeitraum von 1982 bis 2006 überprüft, welchen Einfluss die Einführung verbindlicher Alkoholtests bei Berufs-Kraftfahrern (Führer von Lkws und Bussen) auf Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang hat. Im Untersuchungszeitraum wurden in einigen Bundesstaaten Programme und gesetzliche Regelungen eingeführt, aufgrund derer dann unregelmäßige und unangekündigte Alkoholtests für Berufskraftfahrer vorgeschrieben waren. In der Auswertung von Unfallstatistiken zeigt sich dann in der Studie, dass im Gefolge dieser Regelungen die Zahl tödlicher Unfälle - auch unter statistischer Berücksichtigung anderer Einflussfaktoren - um etwa ein Viertel (23%) gesunken ist.

Am 1. Januar 1995 wurden in den USA gesetzliche Regelungen eingeführt, die für Berufskraftfahrer verbindliche Alkoholtests vorschrieben, sofern sie Fahrzeuge mit mehr als etwa 11,8 Tonnen Gewicht führen. Diese Tests wurden dann teilweise nach dem Zufallsprinzip und zu unvorhergesehenen Zeitpunkten durchgeführt, vor, während oder nach den Fahrten, darüber hinaus aber auch durchgängig nach Unfällen. Von den Alkoholkontrollen erfasst wurden im Zeitraum 1995-1997 etwa 25 Prozent und danach im Zeitraum 1998-2006 etwa 10 Prozent aller in Frage kommenden Berufskraftfahrer.

Zentrale Datenbasis der Studie ist das "Fatality Analysis Reporting System (FARS)", eine Datenbank, in der eine Vielzahl von Informationen gespeichert würde über nähere Umstände von Verkehrsunfällen mit tödlichem Ausgang: Am Unfall beteiligte Fahrzeugtypen und sozialstatistische Merkmale der Fahrer, Ergebnisse von Alkoholtests direkt nach dem Unfall und zu früheren Zeitpunkten sowie weitere Informationen etwa zum Straßenzustand, Wetter, Region usw.

Aus dieser Datenbank FARS wurden Daten für die Jahre 1982-2006 berücksichtigt. Eingeteilt wurden diese in den Zeitraum vor Einführung der verbindlichen Alkoholtests (13 Jahre, 1982-1994) und nach Einführung (12 Jahre, 1995-2006). Berücksichtigt wurden dann Daten für etwa 69 Tausend Berufskraftfahrer und 66 Tausend andere Personen, die allesamt in Unfälle mit tödlichem Ausgang verwickelt waren. Überprüft wurde von den Wissenschaftlern, ob bei den Unfallbeteiligten in den beiden Zeiträumen 1982-1994 und 1995-2006 Alkohol eine Rolle spielte, also ob bei ihnen eine erhöhte Blut-Alkohol-Konzentration festgestellt worden ist.

Zunächst zeigte sich, dass man bei etwa 2,7 Prozent der Berufskraftfahrer und 19,4 Prozent der übrigen Personen überhöhte Blutalkoholwerte gefunden hatte. Ein Vergleich der beiden Zeiträume ergab dann, dass erhöhte Alkoholwerte bei Berufskraftfahrern um 80 Prozent und bei anderen Personen um 41 Prozent zurückgegangen waren. Da aber neben Alkohol auch andere Faktoren für Unfälle und Unfälle mit tödlichem Ausgang ursächlich sein können, führten die Wissenschaftlern eine statistische Analyse durch, in der eine Vielzahl möglicher Einflussfaktoren gleichzeitig kontrolliert wird. Zu diesen Faktoren gehörten dann unter anderem Alter und Geschlecht des Fahrers, frühere Alkoholvergehen, Region und Jahr des Unfalls, Tageszeit und Monat.

Hier ergab sich dann, dass männliche Berufskraftfahrer, solche im Alter von 25-34 Jahren und solche mit früheren Alkoholvergehen ein höheres Risiko aufweisen und häufiger an Unfällen mit tödlichem Ausgang beteiligt sind. Darüber hinaus bestätigte sich jedoch, dass die Einführung der verbindlichen Alkoholtests einen nachhaltigen Effekt zeigt für die Verwicklung der Kraftfahrer in Unfälle mit tödlichem Ausgang: Die Quote dieser Unfälle sank um 23 Prozent.

Frei zugänglich ist ein Abstract der Studie: Joanne E. Brady et al: Effectiveness of Mandatory Alcohol Testing Programs in Reducing Alcohol Involvement in Fatal Motor Carrier Crashes ( American Journal of Epidemiology 2009 170(6):775-782; doi:10.1093/aje/kwp202)

Gerd Marstedt, 4.12.09


Interventionen zur Prävention von Stürzen bei Älteren: Was ist effektiv und was völlig unwirksam?

Artikel 1652 Mit zunehmendem Lebensalter steigt bei Älteren das Risiko von Stürzen, wobei unterschiedlichste Gründe dafür maßgeblich sein können: Gleichgewichtsstörungen, nachlassende Sehkraft oder auch Demenz. Zwar sind die Folgen solcher Stürze nicht immer medizinisch gravierend - in weniger als 10 Prozent der Fälle sind Knochenbrüche die Folge. Gleichwohl bleiben solche Erfahrungen bei den Betroffenen nicht wirkungslos und führen u.U. dazu, dass bestimmte Alltagsgewohnheiten fallen gelassen und das Niveau körperlicher Bewegung eingeschränkt wird. Eine Cochrane-Studie hat nun die Ergebnisse von 111 methodisch hochwertigen Studien zusammenfasst. Untersucht wurden dort unterschiedlichste Präventionsmaßnahmen, angefangen von der Einnahme von Vitamin D-Tabletten über Gestaltungsmaßnahmen in der Wohnung bis hin zu Anti-Rutsch-Hilfen für Schuhe. Die Studie gibt detailliert Auskunft, welche Maßnahmen sich als wirksam erwiesen haben und welche nicht.

Jährlich muss etwa ein Drittel der über 65jährigen, die noch in der Gemeinde und nicht in einem Alten- oder Pflegeheim wohnen, einen Sturz erleben. In der Regel verlaufen solche Stürze glimpflich und hinterlassen meist nur Prellungen, Hautabschürfungen und ähnliche, eher leichte Verletzungen. In psychologischer Hinsicht können die Folgen jedoch schwerwiegender sein, weil Betroffene an Selbstvertrauen verlieren, was ihre Körperfunktionen anbetrifft. Nicht selten werden dann solche sozialen Aktivitäten eingeschränkt oder ganz fallen gelassen, die körperliche Bewegung voraussetzen: Besuche bei Freunden und Verwandten, Spaziergänge oder der Besuch von Kultur- oder Sportveranstaltungen, Teilnahme an Vereinsaktivitäten. Dies wiederum kann eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität für die Betroffenen zur Folge haben, so dass jetzt ein international zusammengesetztes Wissenschaftler-Team untersucht hat, ob es nicht wirksame Präventionsmöglichkeiten gibt.

In ihrer Bilanz des aktuellen Forschungsstands berücksichtigten die Wissenschaftler nur methodisch besonders abgesicherte Studien, sogenannte "randomisierte Kontrollstudien". In diesen "RCTs" gibt es neben einer Gruppe mit der jeweiligen Intervention immer auch eine Kontrollgruppe ohne solche Maßnahmen und die Zuweisung zur Interventions- oder Kontrollgruppe erfolgt nicht nach Teilnehmerwünschen oder Interessen der Forscher, sondern nach dem Zufallsprinzip. Für das Thema "Prävention von Stürzen bei Älteren" fanden die Wissenschaftler insgesamt 111 solcher Studien mit insgesamt über 55.000 Teilnehmern. Zur Bewertung des Erfolgs einer Maßnahme wurden vorwiegend zwei Indikatoren herangezogen: Die prozentuale Anzahl der Betroffenen mit Stürzen und die prozentuale Häufigkeit der Stürze, jeweils im Vorher-Nachher-Vergleich.

Tatsächlich, so zeigte sich in der Bilanz der schon veröffentlichten Studien, gibt es eine Reihe effektiver Präventionsmöglichkeiten:

• Sport- und Bewegungsübungen wurden in 43 Studien erprobt. Sie waren dann erfolgreich, wenn sie nicht einseitig ausgerichtet waren, sondern zumindest zwei der folgenden Trainingselemente in den Mittelpunkt stellten: Kraft, körperliches Gleichgewicht, Ausdauer, Beweglichkeit. Solche Interventionen reduzierten das Sturzrisiko von 100 Prozent (vorher) auf etwa 80 Prozent (nach der Intervention).
• Als noch erfolgreicher erwies sich die Einübung und regelmäßige Durchführung von Tai-Chi-Übungen einerseits und zuhause durchgeführte Bewegungsübungen mit einem Konzept, das mehrere Trainingselemente umfasst, andererseits (Risikosenkung auf jeweils etwa 60-65%).
• In 13 Studien mit über 23.000 Teilnehmern wurde untersucht, ob die Einnahme von Vitamin D (allein oder zusammen mit Kalzium-Präparaten) einen positiven Effekt zur Vermeidung von Stürzen hat. Tatsächlich ließ sich dies nicht nachweisen. Es ist jedoch möglich, dass Person mit niedrigem Vitamin-D-Status davon profitieren.
• Studien, in denen die Menge der verordneten Psychopharmaka-Arzneien (u.a. Schlaftabletten, angstsenkende Mittel) graduell zurücksetzt wurde, zeigten einen partiellen Erfolg. Zwar blieb der Anteil von Studienteilnehmern gleich groß, die überhaupt von einem Sturz (oder mehreren) berichteten. Gesenkt werden konnte jedoch die Zahl der jeweils erlebten Stürze.
• Einen noch eindeutigeren Erfolg konnte eine Intervention verzeichnen, in der niedergelassene Ärzte eine Fortbildungs-Veranstaltung zur Medikamentenverschreibung bei Älteren besuchten.
• Gestaltungsmaßnahmen in der Wohnung und häuslichen Umgebung von Älteren waren nur teilweise erfolgreich, und zwar vor allem dann, wenn es sich um ältere Studienteilnehmer mit stark eingeschränkter Sehkraft oder anderweitig schwer behinderten Senioren handelte.
• Überaus positiv bewerten die Wissenschaftler den Einsatz von Anti-Rutsch-Hilfsmitteln für Schuhe (umschnallbare Spikes oder Schneeketten) im Winter, wenn Glatteis herrscht. Das Sturzrisiko durch Einsatz solcher Hilfsmittel wurde in den hier einschlägigen Studien auf 40 Prozent gesenkt.

Eine sehr große Zahl von Studien untersuchte multifaktorielle Präventionsprogramme, Interventionen also, die eine größere Zahl der oben genannten Maßnahmen durchführten und sie teilweise auch noch ergänzten durch andere Komponenten (Schulungs- und Informationskurse, körperliche Untersuchungen zur Diagnose spezieller Risiken, Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln etc.) Die Ergebnisse hierzu sind widersprüchlich. Der Effekt der einzelnen Interventionsmaßnahmen bleibt unklar, so dass die Wissenschaftler empfehlen, weitere Studien zunächst mit einzelnen Maßnahmen durchzuführen.

Zu der sehr umfangreichen Studie (263 Seiten), in der Details zu allen Studien und Präventionsmaßnahmen dargestellt werden, gibt es kostenlos leider nur ein Abstract:
Gillespie LD et al: Interventions for preventing falls in older people living in the community (Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 2. Art. No.: CD007146. DOI: 10.1002/14651858.CD007146.pub2)

Gerd Marstedt, 15.10.09


"Gesundes-Herz-Programme" zur Prävention haben für die allgemeine Bevölkerung deutlich weniger Nutzen als erwartet

Artikel 1529 Angesichts der quantitativen und qualitativen Bedeutung von Herzerkrankungen für die Lebensqualität und die Sterblichkeit in entwickelten Ländern, wundert die Vielzahl und Vielfalt von primär- und sekundärpräventiven Programmen "rund ums Herz" nicht.
Dazu gehören auch die in vielen Ländern mit großer Phantasie entwickelten und verbreiteten "Gesundes-Herz-Programme", die durch ganze Bündel von beratenden und weiterbildenden Interventionen oder Angebote versuchen, Menschen dazu zu motivieren, ihre Risiken für die Entstehung von Herzerkrankungen zu reduzieren. Als Risikofaktoren gelten für gewöhnlich ein hoher Cholesterinspiegel, übermässiger Salzkonsum, hoher Blutdruck, starkes Übergewicht, fettreiche Ernährung, Rauchen, Diabetes und zu geringe Bewegung.

Die Programme bestehen aus mehr oder weniger umfangreichen und aufwändigen Vorschlägen zu Dingen und Maßnahmen, die zu unterlassen oder zu tun sind. Sie gelten als wirksam, kostengünstig und werden daher immer häufiger entwickelt und eingesetzt. Die Wirksamkeitserwartungen sind auch deshalb so hoch, weil andere Studien die begrenzte oder völlig fehlende Wirkung von isolierten Einzelmaßnahmen auf die kardiovaskuläre Morbidität belegt hatten und "multiple risk factor interventions" als aufwändige aber erfolgreichere Variante gelten. Ob diese Art von präventiver Interventionen für die allgemeine Bevölkerung aber überhaupt den erwarteten Nutzen haben, galt und gilt daher lange als eine unnötige Frage.

Sieht man sich aber die Ergebnisse des letzten, 2006 veröffentlichten systematischen Cochrane-Reviews von 39 randomisierten kontrollierten Studien (RCT) an, müssen diese Erwartungen deutlich gesenkt und andere spezifiziertere präventive Konzepte bevorzugt werden. Der Review stellt ein Update einer früheren Analyse (1999) der verfügbaren Forschungsarbeiten dar und umfasst Erkenntnisse über "Gesundes-Herz-Programme" aus drei Jahrzehnten.

Zunächst ist bemerkenswert, dass viele der Studien zwar positive Wirkungen auf die Sterblichkeit suggerieren oder sie ihnen zugeschrieben werden, nur in 10 der 39 RCT aber Angaben zur allgemeinen und Herzerkrankungssterblichkeit als Endpunkte existieren. Die in diesen Studien dann berichteten Sterbewahrscheinlichkeiten (odds ratio) für NutzerInnen dieser Programme betragen im Vergleich mit Kontrollgruppenangehörigen für die allgemeine Sterblichkeit 0,96 (Konfidenzintervall von 0,92 bis 1,01) und für die Wahrscheinlichkeit an einer Herzerkrankung zu versterben 0,96 (Konfidenzintervall 0,89 bis 1,04). Wie die Breite der Konfidenzintervalle zeigt, sind die Ergebnisse nicht nur sehr geringfügig, sondern auch statistisch insignifikant.

Nicht sehr viel größer sind die bei den TeilnehmerInnen solcher Programme gemessenen Veränderungen der Risikofaktoren: Der systolische und diastolische Blutdruck konnte während der Interventionszeiten um 3,6 mm und 2,8 mm Quecksilbersäule gesenkt werden, der des Cholesterinspiewgels um 0,07 mMol/l. Relativ am größten war die Wahrscheinlichkeit, dass TeilnehmerInnen aufhörten zu rauchen. Nach ihren eigenen Angaben waren es durchschnittlich 20 % mit einer Spannbreite von 8 bis 31 %.

Als mögliche Erklärungen für fehlende oder lediglich geringfügige Wirkungen bieten die Reviewer zweierlei an: Die Interventionen erfolgten nicht lang genug oder die Studien waren methodisch schwach.

Die Autoren des Cochrane Reviews weisen aber darauf hin, dass ein bloßes "weiter so" selbst mit einem noch erweiterten Multi-Risikofaktorenkonzept und diesem Typ des "Gesundes-Herz-Programms" nicht sinnvoll und wenig ertragreich ist: "Our methods of attempting behaviour change in the general population are very limited. Different approaches to behaviour change are needed and should be tested empirically before being widely promoted. For example, the availability of foods and better access to recreational and sporting facilities may have a greater impact on dietary and exercise patterns respectively, than health professional advice."

Erfolgreicher als die hier untersuchten, meist schriftlichen oder audiovisuellen Interventionen, erscheint den Reviewern speziell in der Hochdruckprävention eher die persönliche oder familiäre Beratung und Erziehung, die sich dann auch nicht mehr oder allein an die allgemeine Bevölkerung, sondern an ausgewählte Teilgruppen richtet.

Von dem Cochrane Review Multiple risk factor interventions for primary prevention of coronary heart disease von Ebrahim S, Beswick A, Burke M und Davey Smith G. aus dem Jahr 2006 gibt es kostenlos nur ein umfangreiches Abstract.

Bernard Braun, 5.4.09


Staatliches Gesundheitssystem Schottlands zahlt Rauchern, die ihr Laster aufgeben, wöchentliche Geldprämien

Artikel 1528 In einem zweijährigen Pilotversuch will das Staatliche Gesundheitssystem des United Kingdom (National Health Service) in der schottischen Stadt Dundee erproben, ob man bei bislang hartnäckigen Rauchern mit Geldprämien erfolgreicher dabei ist, diesen einen dauerhaften Nikotinverzicht schmackhaft zu machen. Rund 12,50 englische Pfund (derzeit etwa 13 Euro) könnten Raucher wöchentlich erhalten, wenn sie innerhalb des "Quit4u"-Projekts auf Nikotin verzichten. Dabei richtet man sich primär an Einwohner von Dundee in besonders armen Stadtteilen, in denen die Raucherquoten besonders hoch und die bisherigen Präventionskonzepte wenig erfolgreich waren.

Die Geldprämie wird auf einer Chipkarte verbucht, mit der man in Einzelhandels-Geschäften für den jeweils angesammelten Geldbetrag Lebensmittel bekommt. So soll ausgeschlossen werden, dass die Prämien für den Kauf von Tabak oder Alkohol genutzt werden. Die Geldprämie kann für Teilnehmer an der Pilotstudie 12 Wochen lang gezahlt werden. Zur Kontrolle müssen sie sich einmal wöchentlich in einer Apotheke einem Atemtest unterziehen, um festzustellen, ob sie tatsächlich nicht geraucht haben.

Man erwartet oder hofft zumindest, dass etwa 1.800 Raucher an der Studie teilnehmen und dass etwa die Hälfte erfolgreich das Rauchen aufgeben - zumindest für 12 Wochen während des Studienverlaufs. Bei dieser Teilnehmerzahl und Erfolgsquote würde die zweijährige Intervention etwa 540.000 englische Pfund kosten, das heißt für jeden erfolgreich bekehrten Raucher rund 600 Pfund (660 Euro), wobei die Geldprämien für die Teilnehmer nur einen Teil ausmachen.

• Artikel in der lokalen Dundee-Tageszeitung "The Courier": Marjory Inglis: Cash to help smokers quit (The Courier, 24 March 2009)
• Artikel im British Medical Journal: Bryan Christie: Scottish NHS offers cash to get smokers to quit (BMJ Published 27 March 2009, doi:10.1136/bmj.b1306)

Mit der Pilotstudie in der 175.000 Einwohner zählenden Stadt Dundee wird jetzt in die Praxis umgesetzt, was im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie bereits vor kurzem bei knapp 900 Mitarbeitern eines US-Konzerns erprobt worden war, und zwar mit Erfolg. In der Interventionsgruppe erhielten dort Raucher, die aufhören wollten, Informationen über Vorteile eines Rauchverzichts sowie bei Interesse auch kostenlos ein Medikament, um Entzugserscheinungen zu dämpfen. Ferner wurden ihnen finanzielle Prämien zugesagt: Zunächst 100 Dollar für die Teilnahme an einer medizinischen Studie, 250 Dollar, falls sie nach 6 Monaten vollkommen nikotinabstinent waren und weitere 400 Dollar, falls dies auch 9 oder 12 Monate nach Teilnahmebeginn noch der Fall war. Der Nikotinverzicht wurde dabei durch einen Bluttest überprüft. Es zeigte sich dann bei der Auswertung der Daten im Vergleich der Interventions- mit einer Kontrollgruppe, die keine Geldprämien bekommen hatte: Auch noch nach 18 Monaten war die Interventionsgruppe erfolgreicher als die Kontrollgruppe - 9,4% bzw. 3,6% hatten mit dem Rauchen aufgehört.
vgl. 750 Dollar Prämie für Raucher, die ihr Laster aufgeben: Geldanreize für Nikotinverzicht zeigen in einer US-Studie Wirkung

Gerd Marstedt, 5.4.09


"Deutschland bewegt sich!" ... oder auch nicht. Verspeist aber etliche Kalorien zusätzlich

Artikel 1504 Werbebotschaften, die Bürgerinnen und Bürger zu Sport und Bewegung motivieren sollen, verführen möglicherweise nur sehr wenige dazu, den Fernsehsessel zu verlassen und sich aufs Fahrrad zu schwingen oder auf die Jogging-Runde zu begeben. Die Aufforderung zu körperlicher Bewegung könnte jedoch bei sehr vielen Empfängern dazu führen, dass sie etliche Kalorien zusätzlich verspeisen. Eine experimentelle Studie an der University of Illinois hat jetzt gezeigt: Studenten, denen man Texte und dazugehörige Bilder mit einer Aufforderung zu Sport und körperlicher Bewegung zeigte, vernaschten während dieser Vorführung sehr viel mehr Knabbergebäck und Nüsse als eine andere Gruppe von Studenten, denen man neutrale Texte und Bilder gezeigt hatte.

Wissenschaftler des Albert Einstein College of Medicine hatten unlängst in einem Aufsatz in der Zeitschrift "American Journal of Preventive Medicine" eine sehr harsche Kritik an U.S.-Behörden formuliert. Die aktuelle Übergewichts-Problematik in den USA ist nach ihrer Argumentation zu einem erheblichen Anteil verursacht worden durch Empfehlungen in nationalen Leitlinien, fettreiche Nahrungsmittel auf dem Speiseplan massiv einzuschränken oder ganz darauf zu verzichten. Medien haben diese Empfehlungen dann immer wieder in ihre Schlagzeilen gebracht und als Effekt davon war der Anteil von Nahrungsmitteln mit einem besonders hohen Anteil von Kohlenhydraten und Kalorien angestiegen - was zu Übergewicht und Fettleibigkeit bei vielen Bevölkerungsgruppen führte. Es werden immer wieder Leitlinien aufgestellt und über die Medien Verhaltensratschläge verbreitet, so kritisieren die Wissenschaftler, in der Annahme, dass diese Empfehlungen zwar nicht 100prozentig abgesichert sind, aber zumindest nicht schaden können. (vgl.: Wissenschaftler kritisieren: Leitlinien und Ratschläge zur gesunden Ernährung verursachen oft mehr Schaden als Nutzen)

Eine experimentelle Studie hat jetzt Hinweise erbracht, dass auch die vielfältigen Werbebotschaften zu mehr Sport und körperlicher Bewegung ("Deutschland bewegt sich!", "3.000 Schritte extra", "Kinder in Bewegung", "FahrRad!") in ähnlicher Weise unbedachte und kontraproduktive Nebenwirkungen (zusätzlicher Kalorienverzehr) haben könnten, ohne dass die Hauptwirkung (mehr Kalorienverbrauch durch Sport) entfaltet wird. Am Psychologischen Institut der University of Illinois wurden etwa 50 Studenten/innen darum gebeten, Bilder und Texte von Werbe-Anzeigen zu betrachten und diese dann hinsichtlich ihrer Wirkung zu bewerten. Dabei wurden einmal Anzeigen geboten, die Aufforderungen zu körperlicher Bewegung enthielten ("go for a walk","walk three times a week", "play basketball" usw.) und einmal bewegungs-neutrale Inhalte ("make friends", "be together", "be in a group" usw.) Während der Präsentation konnten die Versuchspersonen auch Nüsse, Knabbergebäck, Rosinen und ähnliches naschen. Tatsächlich ging es den Forschern nicht um die Bewertung der Werbewirkung, sondern exakt um das Ausmaß der Nascherei in Abhängigkeit vom dargebotenen Bild- und Textmaterial.

So wie von den Psychologen vermutet, war die Kalorienaufnahme deutlich höher bei Sport- und Bewegungs-Material (im Durchschnitt 18 kcal) als bei neutralen Texten und Bildern (12 kcal). In einer zweiten Testreihe zeigte sich dann, dass auch bei einer unterschwelligen oder vorbewussten Aufnahme von Werbebotschaften (erzielt durch eine extrem kurze Darbietungszeit von 15 Millisekunden) derselbe Effekt zu beobachten war (109 vs. 87 kcal). Die Wissenschaftler erklären, dass ihre Studie zwar einige Einschränkungen hat: So wurden nur Studenten mit normalem Body Mass Index eingesetzt und die Menge der zusätzlich verzehrten Kalorien war gering. Sollte sich ihr Befund allerdings auch außerhalb des Labors bestätigen, dann wäre dies erneut ein Hinweis auf unbedachte Risiken und Nebenwirkungen (gut gemeinter) Kampagnen zur Gesundheitsförderung.

Albarracin, D., Wang, W., & Leeper, J. (2009). Immediate increase in food intake following exercise messages. Obesity. Obesity advance online publication. February 26, 2009; doi:10.1038/oby.2009.16
Abstract der Studie auf der Website von "Obesity"
PDF der kompletten Studie auf der Website von Dolores Albarracin
Word-Datei mit Details des Experiments

Gerd Marstedt, 2.3.09


Nutzen und geringe Nebenwirkungen sprechen für Prävention mit Preiselbeerextrakt bei Harnwegsinfekten älterer Frauen

Artikel 1499 "Omas Heilmittel" aus dem "Garten der Natur" fehlt häufig ein genereller wissenschaftlicher Nachweis ihres Nutzens, sie haben zum Teil auch massive Nebenwirkungen oder gefährden die Wirkung von Arzneimitteln (z.B. im Falle von Grapefruitsaft und Johanniskraut) und schließlich gibt es häufig keine vergleichenden Untersuchungen der Wirkungen von Naturheilmitteln gegenüber der von "künstlichen" Arzneimitteln. Dies alles kann auch von Anhängern einer sanfteren Therapie nicht ignoriert werden, vor allem, wenn sie bei anderen Therapeutika vollkommen zu Recht einen Evidenznachweis verlangen.

Nach Lektüre der gerade im Fach-"Journal of Antimicrobial Chemotherapy" [(2009) 63, 389-395] unter der Überschrift "Cranberry or trimethoprim for the prevention of recurrent urinary tract infections? A randomized controlled trial in older women" veröffentlichten Studie von Marion E. T. McMurdo, Ishbel Argo, Gabby Phillips, Fergus Daly und Peter Davey, gibt es nach Ansicht der AutorInnen zumindest beim wissenschaftlich fundierten Vergleich der präventiven Wirkung von Preiselbeerextrakt und des Antibiotikum-Wirkstoff Trimethoprim auf wiederkehrende Harnwegsinfekte von älteren Frauen einen klaren Gesamtvorteil für das Naturprodukt.

In die randomisierte kontrollierte Studie wurden 137 über 45 Jahre alten Frauen aufgenommen, die in den 12 Monaten vor Studienbeginn mindestens zwei ärztlich bestätigte und mit Antibiotika behandelte wiederkehrende Harnwegsinfektionen gehabt hatten. Diese Frauen wurden per Zufall einer Gruppe zugewiesen, die als Intervention über 6 Monate hinweg täglich entweder 500 mg Preiselbeerextrakt in Kapselform (n=69) oder 100 mg des Trimethoprims (n=68) einnahmen.

Die Ergebnisse des Kopf-zu-Kopf-Doppelblind-Vergleichs sahen so aus:

• Von den 137 Frauen erkrankten in der Studienzeit 39 erneut an einem Harnwegsinfekt und zwar 25 in der Preiselbeer- und 14 in der Antibiotika-Gruppe. Der 60%-Unterschied zu Gunsten des Antibiotikums war aber statistisch nicht signifikant.
• Die Zeit bis zur ersten erneuten Infektion unterschied sich zwischen den Gruppen wenig (85,5 Tage in der Preiselbeergruppe zu 91 Tagen in der Antibiotikumgruppe).
• 9 % der Teilnehmer an der Preiselbeer-Gruppe brachen die Intervention ab und 16 % in der Antibiotika-Gruppe.
• Bei unmittelbaren adversen Effekten gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen.

Die schottischen Wissenschaftler bewerten die vorhandenen Vorteile der Behandlung mit dem Antibiotikum als "a very limited advantage" und schlagen daher Frauen mit einem derartigem Erkrankungsbild vor, die begrenzten Vorteile gegen den höheren Preis und vor allem das höhere Risiko genereller adverser Effekte des Antibiotikums (Mitwirkung an der Bildung resistenter bakterieller Erreger und die Gefahr einer Superinfektion) zusammen mit ihrem Arzt abzuwägen.

Auch wenn die statistische Power dieser Studie formal-quantitativ für belastbare Ergebnisse ausreicht, liegt die Anzahl der StudienteilnehmerInnen nur knapp über der notwendigen Mindestanzahl. Einige Ergebnisse und Schlussfolgerungen könnten also auch etwas mit dieser methodischen Schwäche zu tun haben. So ist z.B. eine statistische Signifikanz in kleinen Gruppen nur schwer zu erreichen.

Der 7-Seiten-Aufsatz "Cranberry or trimethoprim for the prevention of recurrent urinary tract infections? A randomized controlled trial in older women" ist komplett und kostenlos erhältlich. Dies gilt natürlich auch für das Abstract des Aufsatzes.

Bernard Braun, 26.2.09


Englische Studie: Mehr Parks und Grünanlagen in ärmeren Wohngegenden könnten gesundheitliche Ungleichheit verringern

Artikel 1397 Untersucht man bei der gesamten englischen Bevölkerung, die noch nicht im Rentenalter ist, also bei knapp 41 Millionen Personen nur zwei Merkmale, nämlich die Einkommenshöhe und die Nähe der Wohnung zu Parks und Grünflächen, dann zeigt sich: Die Gesamt-Mortalität fällt auch innerhalb derselben Einkommensgruppen bei jenen Personen deutlich niedriger aus, die in der Nähe von Grünflächen wohnen. Und noch deutlicher sieht dieser Befund aus bei der Sterblichkeit infolge von Herz-Kreislauferkrankungen. Mehr Parks und Grünanlagen in ärmeren Wohngegenden, so eine Schlussfolgerung der jetzt in der Zeitschrift "Lancet" veröffentlichten Studie, könnten also zur Verringerung sozialer Ungleichheit beitragen.

Zwei schottische Wissenschaftler haben sehr unterschiedliche Datensätze zusammengefügt. Zunächst erfassten sie bei der englischen Bevölkerung vor dem Rentenalter anonymisierte Daten über Todesfälle und Todesursachen. Bei diesen Datensätzen war jedoch jeweils angegeben, in welchem kleinräumigen Bezirk oder Areal der Verstorbene gewohnt hatte. Das gesamte United Kingdom ist in diese Areale aufgeteilt, sogenannte "lower level super output areas (LSOA)", die jeweils etwa 4 Quadratkilometer und im Durchschnitt 1.500 Personen umfassen. In einem Register ist für jedes einzelne Areal festgehalten, wie groß die naturbelassene Fläche (Parks, Wälder, Flussebenen, Wiesen) ist. Entsprechend dieser Angabe wurden die Areale in fünf Gruppen aufgeteilt, von sehr niedriger oder fehlender Grünfläche bis hin zu sehr großer Grünfläche.

Darüber hinaus schätzten die Wissenschaftler das für die einzelne Areale jeweils durchschnittliche Einkommensniveau - wie dies genau und im Einzelnen erfolgte, geht aus der Veröffentlichung leider nicht hervor. Diese Daten der LSOAs: Einkommenshöhe, Größe der Grünfläche als Einflussfaktoren und Todesfälle bzw. krankheitsspezifische Todesfälle wurden dann in Beziehung gesetzt.

Als Ergebnis zeigte sich: Die Unterschiede zwischen armen und reichen Wohngegenden lassen sich auch an den Sterblichkeitsraten ablesen. Jedoch ist dieser Unterschied weitaus deutlicher in Gegenden mit wenig öffentlichem Grün, und sehr viel schwächer ausgeprägt in Arealen mit sehr viel Wäldern und Parks. Konkret:
• Bei der Gesamt-Sterblichkeit betrug die Inzidenzrate (IRR, Quote der Todesfälle) in den grünen Wohngegenden 1,43 und in den weniger grünen Wohngegebenen 1,93.
• Berücksichtigte man nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen, waren die Unterschiede zwischen arm und reich noch deutlicher: Die IRR betrug 1,54 in den grünen und 2,19 in den weniger grünen Arealen.

Eine Erklärung sehen die Forscher Richard Mitchell und Frank Popham in unterschiedlichen Freizeitmöglichkeiten, die es Bewohnern grüner Bezirke eher erlauben, Sport zu betreiben oder sich von beruflichem Stress zu erholen. Mehr Parks und Grünflächen in ärmeren Wohngegenden wären nach ihrer Ansicht daher ein nachhaltiger Beitrag zur Gesundheitsförderung.

Die Studie ist nach kostenloser Registrierung im "Lancet" auch im Volltext verfügbar: Richard Mitchell, Frank Popham: Effect of exposure to natural environment on health inequalities: an observational population (The Lancet, Volume 372, Issue 9650, Pages 1655 - 1660, 8 November 2008)

Die große Zahl der hier berücksichtigten Daten und die Stichprobengröße mag zunächst beeindrucken und den Ergebnisse eine hohe Zuverlässigkeit bescheinigen. Tatsächlich könnte in der Studie wieder einmal nur eine Scheinkorrelation erfasst worden sein. Denn mit der Einkommenshöhe ist zwar ein wichtiger Einflussfaktor, aber keineswegs der einzige kontrolliert worden. So wäre es nicht überraschend, wenn in den grüneren Wohngegenden nicht nur die Einkommensstärkeren zu finden sind, sondern auch jene, die mehr Wert legen auf einen gesundheitsbewussten Lebensstil (Rauchen, Bewegung, Ernährung). Ob dem so ist, wäre nur durch differenziertere Analysen nachweisbar.

Dass Interventionen nicht ganz so einfach nach dem vorgeschlagenen Muster verlaufen: "Mehr Parks und Grünflächen motivieren Bewohner zu mehr Sport und Bewegung, was sich dann in besserer Gesundheit niederschlägt", hat unlängst eine niederländische Studie gezeigt. Knapp 5.000 Personen waren dort befragt worden über ihr Ausmaß an Sport und körperlicher Bewegung, ihren sozialen Status und ihren Gesundheitszustand sowie die Größe der Grünflächen innerhalb eines Radius von einem Kilometer um ihre Wohnung und innerhalb von drei Kilometern. Das Ergebnis verlief hier sogar gegenteilig zu den Erwartungen: Personen, denen mehr Grünflächen in der Nähe zur Verfügung standen, zeigten in deutlich geringerem Umfang, dass sie Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen, sowohl was die Häufigkeit als auch, was den Zeitumfang abetrifft. Dafür allerdings - und dies erklärt in großem Umfang das Ergebnis - verbrachten sie mehr Zeit mit Gartenarbeit.

Diese Studie ist im Volltext kostenlos verfügbar: Jolanda Maas, Robert A Verheij, Peter Spreeuwenberg, Peter P Groenewegen: Physical activity as a possible mechanism behind the relationship between green space and health: A multilevel analysis (BMC Public Health 2008, 8:206doi:10.1186/1471-2458-8-206)

Gerd Marstedt, 13.11.08


Welchen Nutzen haben saubere und wirksamere Heizgeräte auf die Gesundheit und Behandlungsumstände von asthmakranken Kindern?

Artikel 1376 Auch wenn beispielsweise seit den epochalen Arbeiten des Sozialepidemiologen Thomas McKeown klar ist, dass der Anteil, den medizinische Interventionen (z.B. Impfungen) auf zahlreiche Krankheiten haben, oftmals relativ gering ist, verblüffen aktuelle Belege für die präventive und kurative Bedeutung nichtmedizinischer Interventionen bzw. gesunder Lebensbedingungen dennoch.

Dies trifft auch für die aktuell im "British Medical Journal (BMJ)" (BMJ, 23. September 2008; 337: a1411) veröffentlichten Ergebnisse einer gerade abgeschlossenen randomisierten kontrollierten Studie zu, in der untersucht wurde ob saubere und effektivere häusliche Heizgeräte wie Wärmepumpen, Holzpellet-Heizungen und Flüssiggasheizgeräte einen positiven Effekt auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von asthmakranken Kindern haben. Asthma ist eine der häufigeren und schweren Erkrankungen von Kindern.

Die Studie wurde in Neuseeland in Haushalten in fünf Bezirken zwischen dem Winter 2005 (Baseline) und Winter 2006 (follow up) durchgeführt. An ihr nahmen 409 Kinder im Alter von 6-12 Jahren teil, bei denen eine ärztliche Diagnose von Asthma vorlag.

In der Studie wurden zuvorderst Veränderungen bestimmter Lungenfunktionswerte untersucht. Zusätzlich wurden die von den Kindern wahrgenommenen Atemwegssymptome und der Gebrauch spezifischer Arzneimittel zur Behandlung von Asthma erfasst. Zusätzlich wurden die Eltern der Kinder in beiden Wintern um Angaben zur allgemeinen Gesundheit ihrer Kinder, der Inanspruchnahme gesundheitlicher Dienstleistungen, der gesamten Atemwegsgesundheit und den häuslichen Bedingungen gebeten. In den Wohnräumen wurden für jeweils vier winterliche Monate monatlich die Level von Stickstoffdioxid gemessen. Die Temperaturen im Wohnraum und im Kinderschlafzimmer wurden stündlich gemessen.

Die Wirkungen der Intervention sahen folgendermaßen aus:
• Die Lungenfunktionswerte waren bei den Kindern mit den sauberer und wirksamer beheizten häuslichen Räumlichkeiten nicht signifikant besser.
• Im Vergleich mit den Kindern in der Kontrollgruppe, also mit herkömmlicher Heizung, stellten sich Kinder in der Interventionsgruppe mit 1,8 Tagen weniger Fehltagen in der Schule, 0,4 weniger Besuche bei einem Asthmaspezialisten und 0,25 weniger asthmabezogenen Besuchen in einer Apotheke signifikant besser.
• Kinder in der Interventionsgruppe wiesen auch signifikant weniger (Odds ratio [OR] 0,48) Berichte über einen schlechten Gesundheitszustand auf. Sie litten auch wesentlich weniger an Schlafstörungen durch Röchelgeräusche (OR 0,55), trockenen nächtlichen Husten (OR 0,52) und reduzierten Gesamtwerten für Symptome der unteren Atemwege (OR 0,77) - also typische Asthmasymptome - als Kinder in der Kontrollgruppe.
• Mit der Intervention war eine Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur um 1,1 Grad Celsius in den Wohnräumen und um 0,57 Grad Celsius in den Schlafräumen der Kinder verbunden.
• Sowohl in Wohn- wie Schlafräumen der Kinder in der Interventionsgruppe lagen die Werte für Stickstoffdioxid deutlich niedriger als in den Kontrollhaushalten.

Der komplette zehnseitige Aufsatz "Effects of improved home heating on asthma in community dwelling children: randomised controlled trial" von Howden-Chapman P et al. ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 28.10.08


Finanzielle Prämien vom Arbeitgeber für ein gesundheitsbewusstes Alltagsverhalten: Die Meinungen der Arbeitnehmer sind gespalten

Artikel 1309 Über sinnvolle Möglichkeiten des "Pay for Performance" (P4P) in Deutschland denkt die Kassenärztliche Bundesvereinigung gerade erst nach, während diese Honorierung ärztlicher Leistungen aufgrund von Qualitätskriterien in England oder den USA schon gang und gäbe ist. Zwar ist die Evidenz bislang gering, ob P4P tatsächlich zu nachhaltigen Qualitätsverbesserungen in der medizinischen Versorgung führt. Doch in den USA ist man gleichwohl schon wieder einen Schritt weiter. "Pay for Performance for Patients" (P4P4P) ist das neueste Konzept: Patienten bekommen (von Krankenversicherungen oder Arbeitgebern) Prämien für eine Änderung ihres Gesundheitsverhaltens.

Eine Kombination aus "Karotten" (Anreizen) und "Knüppeln" (Strafen) nutzt die US-Firma Scotts Miracle-Gro Company nach eigener Angabe für ihre Beschäftigten: Wer aufhört zu rauchen oder sein Übergewicht im firmeneigenen Fitness-Center abtrainiert, darf mit zusätzlichen Urlaubstagen rechnen. Unbelehrbare Raucher und Adipöse hingegen müssen höhere Zuzahlungen für medizinische Leistungen entrichten oder werden sogar entlassen. (vgl. Get Healthy - Or Else (Business Week, Feb 26, 2007)) Die Bank Wells Fargo & Co. überweist bis zu 500 Dollar jährlich auf ein Sparkonto für Beschäftigte, die an Diabetes leiden und ein für sie ausgearbeitetes Fitness- und Ernährungsprogramm befolgen. Die Krankenversicherung der Bank, United Health Group Inc., eine der größten privaten Krankenversicherungen in den USA, verteilt nach eigener Angabe ähnliche Prämien an mehr als 2 Millionen Versicherte jährlich. (vgl. For many employees, fitness has its prize (LA Times, Mar 12, 2007))

Was halten Beschäftigte von solchen Maßnahmen, die nach dem Prinzip "Zuckerbrot und Peitsche" versuchen, das Gesundheitsverhalten von Arbeitnehmern zu verändern? Eine Forschungsgruppe aus Philadelphia ist dieser Frage jetzt nachgegangen und hat dazu knapp 500 Patienten schriftlich befragt, die sie im Sommer 2006 in Warteräumen von Arztpraxen antrafen. Verschiedene Vorschläge, die hierzu in einem Fragebogen gemacht wurden, stießen meist nur auf wenig Resonanz. Folgende Zustimmungsraten gab es:
• Übergewichtige dafür zu belohnen, dass sie abspecken: 42%
• Raucher finanziell zu belohnen, dafür dass sie das Rauchen aufgeben: 39%
• Patienten mit Bluthochdruck dafür, dass sie diesen regelmäßig kontrollieren: 36%
• Diabetiker dafür, dass sie ihren Blutzucker regelmäßig messen: 36%

Noch am häufigsten Zustimmung fand der Vorschlag, Beiträge oder Zuzahlungen in der Krankenversicherung für Raucher zu erhöhen (54%) oder für Nichtraucher zu reduzieren (67%). Auch die Idee, dass Krankenversicherungen generell Prämien für gesundheitsbewusstes Verhalten anbieten, fand ein Großteil der Befragten (62%) gut.

Große Unterschiede zeigten sich bei der Frage, ob man den Rauchern oder Übergewichtigen eine persönliche Schuld für ihr Verhalten bzw. ihre Körperfülle zuschreiben muss. Ein solcher Schuldspruch wurde von den Befragungsteilnehmern mehrheitlich (64%) nur ausgesprochen für Raucher. Bei Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck äußerten sich nur sehr wenige derart. Unter dem Strich zeigte sich nach Ansicht der Wissenschaftler, dass positive Prämien und Anreize auf mehr Zustimmung stoßen als Sanktionen, etwa in Form höherer Beiträge oder Zuzahlungen.

Ob Programme nach dem Modus P4P4P tatsächlich in der Lage sind, das Gesundheitsverhalten größerer Bevölkerungskreise nachhaltig zu verändern, bleibt nach Meinung der Forscher erst einmal abzuwarten, entsprechende Evaluationen stehen noch aus.

Hier ist ein Abstract der Studie: Judith A. Long u.a.: Patient Opinions Regarding "Pay for Performance for Patients" (Journal of General Internal Medicine, Online First, doi 10.1007/s11606-008-0739-1)

Gerd Marstedt, 2.8.2008


Gesundheitsförderliche Schulernährung: Eine "realistische" Meta-Analyse bringt mehr Erkenntnisse als übliche Cochrane-Studien

Artikel 0987 Im Januar 2007 wurde eine Cochrane-Studie über die Effektivität unterschiedlicher Maßnahmen im Bereich der Schulernährung zur Verbesserung des Gesundheitszustands sozial benachteiligter Hauptschüler veröffentlicht. Die Metaanalyse endete mit einem Fazit, das man in dieser oder ähnlicher Form aus einer Vielzahl von Cochrane-Studien kennt: Die Maßnahmen "könnten einige kleinere Vorteile mit sich bringen. Wir empfehlen jedoch weitere Forschungsstudien mit fundierten Konzepten..." Einige Autoren dieser Studie haben nun erkannt, dass dieses inhaltlich vage Fazit auch für die Praxis überaus unbefriedigend ist und eine leider noch wenig gebräuchliche, inhaltlich aber aussagekräftigere Auswertung durchgeführt: Die "realistische" Meta-Analyse.

Die Bilanz und Zusammenfassung des Forschungsstands in Cochrane- und Meta-Analysen lässt oftmals beim Leser Ratlosigkeit zurück. Wohl in der Mehrzahl der Fälle wird die unbefriedigende methodische Qualität von Studien beklagt, findet man Bilanzierungen, die in vagen Einschätzungen wie "es gibt einige Hinweise darauf..." ("there is some or small evidence...") kulminieren. Auch wenn die Heterogenität von Studien oftmals kein eindeutigeres Fazit in quantitativer Hinsicht erlaubt, so vermisst man doch vielfach qualitative Zusammenfassungen oder auch nur Forschungshypothesen, unter welchen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Interventionen erfolgreich waren und wann nicht.

Exakt dieses Defizit einer sehr formalistischen und dabei inhaltsleeren Forschungsbilanz versucht die Forschungsgruppe aus Ottawa und London zu überwinden mit ihrer "realistic review". Gemeint ist damit, dass sie die konkreten Voraussetzungen der jeweiligen Interventionsstudien noch einmal im Detail betrachteten und diskutierten und dabei auch besonderes Augenmerk legten auf jene Bedingungen, die nach Annahme der Studienautoren maßgeblich waren für den Erfolg oder Misserfolg. Der zeitliche und gedankliche Aufwand für diese Art der Analyse ist naturgemäß sehr viel höher, da er von einem Forschungsteam verlangt, noch einmal im Detail die theoretischen Annahmen, Forschungsdesign und Untersuchungsgruppen, und auch Analysemethoden und Schlussfolgerungen von außen nachzuvollziehen und auf ihre Stringenz zu bewerten.

Dass dieser Zeitaufwand gleichwohl lohnt, zeigen die Ergebnisse der "realistischen Meta-Analyse" für das Thema "Voraussetzungen für den Erfolg von Schulernährungs-Interventionen zur Verbesserung des Gesundheitszustands von Primärschülern". Während die zuvor publizierte Cochrane-Studie eher Vermutungen und vage Hinweise hierüber erbrachte, sind die Erkenntnisse aus der neuen Vorgehensweise sehr viel konkreter und auch für Praktiker nutzbar. So wird hervorgehoben, dass solche Interventionen dann eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen, wenn:
• bei der Zielgruppe klare und eindeutige Ernährungs-Defizite vorliegen,
• die beteiligten Schulen sich sehr stark an den Maßnahmen beteiligen und klare Organisationsstrukturen hierfür aufbauen,
• die Interventionen von Akteuren aus dem jeweiligen sozialen Umfeld (Schule, Kommune) und nicht von externen Experten entwickelt werden,
• die jeweils zur Verfügung gestellten Speisen und Getränke auch schmackhaft sind und nicht aufgrund subkultureller Normen von vornherein abgelehnt werden,
• Maßnahmen (Aufsicht und Kontrolle) getroffen werden, die auch sicherstellen, dass die Speisen tatsächlich gegessen werden,
• auch auf die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der Mahlzeiten Wert gelegt wird.

Umgekehrt finden sich auch einige deutliche Hinweise, unter welchen Bedingungen Interventionen im genannten Bereich der Gesundheitsförderung mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Dies trifft etwa zu, wenn der Forschungscharakter der Intervention entweder zu stark in den Vordergrund tritt oder gar nicht darauf hingewiesen wird. Diese neuen Einsichten werden von der Forschungsgruppe noch einmal im Detail und anhand von Beispielen aus den evaluierten Studien diskutiert.

• Die im Januar 2007 veröffentlichte Cochrane-Studie: Kristjansson E. u.a.: School feeding for improving the physical and psychosocial health of disadvantaged elementary school children (Cochrane Database Syst Rev 2007;(1):CD004676.)
• Die "realistische Meta-Analyse": Greenhalgh T, Kristjansson E, Robinson V: Realist review to understand the efficacy of school feeding programmes (BMJ 2007;335:858-861 (27 October), doi:10.1136/bmj.39359.525174.AD)

Gerd Marstedt, 29.10.2007


Wie nachhaltig sind Interventionen gegen das Übergewicht bei Kindern? Ernüchterndes von einer "Zwei-Jahre-danach"-Studie

Artikel 0957 Einer der vielen Hauptmängel der Ergebnis-Evaluation von Interventionen gegen Übergewicht und Fettsucht (einen Überblick über die Vielzahl der Mängel gab jüngst eine Studie des "Zentrums für Sozialpolitik [ZeS] der Universität Bremen", über die das Forum berichtete, inklusive einem Link zum Gesundheitsmonitor-Newsletter der Bertelsmann Stiftung) ist die meist sehr kurze Beobachtungszeit. Nicht selten enden Studien nach 6 oder 12 Monaten mit der Beendigung des Diät- oder Bewegungsprogramms und verkünden die dann erzielten Effekte als "Erfolg". Nachuntersuchungen bzw. Follow-ups sind krasse Ausnahmen, was natürlich meist an den dafür nicht vorhandenen Mitteln liegt. Ob dahinter auch ein bestimmtes Interesse der Auftraggeber und Organisatoren steckt, muss im Einzelfall betrachtet werden.

Umso wichtiger ist deshalb eine Studie, welche die Wirkungen der Interventionen bis zu drei Jahre nach Beginn der Intervention misst.
Bei der Intervention handelt es sich um das "Christchurch obesity prevention project in schools (Chopps)", das mit anfänglich 644 Schulkindern im Alter von 7 bis 11 Jahren im Südwesten Englands stattfand. Die Intervention begann im August 2001 und endete ein Jahr später. Sie umfasste ein Modul, das sich gegen den Konsum kohlensäurehaltiger und meist sehr süßer Getränke richtete und zusätzlich eine Stunde allgemeinen Gesundheitsunterricht pro Quartal. Diese Getränke gelten der Weltgesundheitsorganisation als "causative agent to obesity" und spielen daher in vielen gewichtsbezogenen Programmen für Kinder und Jugendliche eine Schlüsselrolle.

Das Ergebnis nach einem Jahr umfasste eine "modest reduction in the number of carbonated drinks consumed and a significant reduction in the number of children becoming overweight or obese."
So weit und so gut wäre das Ergebnis geblieben, wenn nicht auch noch zwei Jahre später, also drei Jahre nach Interventionsbeginn, Messungen wichtiger Indikatoren bei 434 Kindern (darunter 209 Mädchen) erfolgt wären.

Die ernüchternden vorläufigen Schlussergebnisse lauten:

• Die Prävalenz von Übergewicht (gemessen mit dem Body Mass Index (BMI) hatte nach drei Jahren sowohl in der Kontroll- als auch in der Interventionsgruppe zugenommen und zwar so, dass der am Ende der einjährigen Intervention noch signifikante Unterschied der beiden Gruppen "was no longer evident". Der Vollständigkeit halber muss aber vermerkt werden, dass der BMI in der Interventionsgruppe etwas geringer zugenommen hatte als in der Kontrollgruppe, der Unterschied aber eben nicht mehr statistisch signifikant war.
• Auch der Bauchumfang, ein anderes Maß für Übergewicht, hatte in beiden Gruppen nach 3 Jahren zugenommen, sodass auch dieser Indikator keinen nachhaltigen Erfolg der Intervention zeigen konnte.

Die Programme, welche Übergewicht reduzieren oder vermeiden wollen (oder auch vergleichbar andere positive Ziele verfolgen) und behaupten langfristige und nachhaltige Effekte erzielen zu können, sollten nach diesem und anderen ähnlichen ERgebnissen vorsichtiger und zurückhaltender verkündet und begleitet werden - zumindest, wenn sie selber ihre langfristigen Effekte nicht kontrollieren.
Dies bedeutet nicht, dass sie nicht durchgeführt werden sollten. Nur nicht als Patentrezept und in der Hoffnung, man könne sich mit einem Streich und für alle Zeiten solcher gesundheitlicher Probleme entledigen. Die Alternative einer Art präventiver Dauerintervention erscheint aber genauso illusorisch, wenn nicht gar problematisch.

Vom Aufsatz "Preventing childhood obesity: two year follow-up results from the Christchurch obesity prevention programme in schools (CHOPPS)" von Janet James et al. im "British Medical Journal (BMJ)" (2007; 335: 762ff.; Online-Publikation vom 8. Oktober 2007) gibt es ein kostenfreies Abstract und evtl. noch für eine Weile eine kostenfrei herunterladbare Komplettversion.

Bernard Braun, 13.10.2007


Geringe Wirksamkeit der Förderung körperlicher Aktivität bei Kindern; Heranwachsende mehr Evidenz aber aufwändig!

Artikel 0924 Auch der aktuellste systematische Review von 57 kontrollierten oder randomisierten kontrollierten Studien zur Wirksamkeit unterschiedlichster Interventionen, um die körperliche Aktivität von Kindern und Heranwachsenden und damit eine wichtige Maßnahme gegen die Übergewichtigkeit oder Fettsucht dieser Gruppen zu fördern, liefert Ergebnisse, die überzogene Erwartungen an die Wirkung zahlreicher Präventionsprogramme erheblich dämpfen bzw. klarmachen, dass viele der einfachen Interventionen keinen Effekt haben.

In dem in der aktuellen "Online First"-Ausgabe des "British Medical Journals (BMJ)" (20 September 2007) publizierten Aufsatz "Effectiveness of interventions to promote physical activity in children and adolescents: Systematic review of controlled trials" von Esther van Sluijs, Alison McMinn und Simon Griffin, werden die Resultate von 33 kontrollierten Studien über Interventionen bei Kindern und 24 Studien bei Heranwachsenden dargestellt und bewertet. Von den insgesamt 57 reviewten Untersuchungen waren nur 24 von hoher methodischer Qualität - darunter 13 über Kinder.

Die Ergebnisse sehen so aus:

• 38 Studien (67 %) berichten einen positiven Interventionseffekt.
• 27 Studien (47 %) weisen eine statistisch signifikante Veränderung nach, darunter 14 Studien (42 %) bei Kindern und 13 (54 %) bei Heranwachsenden.
• Von den 10 qualitativ hochwertigsten Studien über Interventionen bei Kindern berichtete nur eine einzige einen signifikanten positiven Effekt. Dies begründet maßgeblich die Schlussfolgerung der Reviewer, es gäbe nur "limited" oder "some evidence" für die Wirksamkeit der kinderbezogenen Interventionen. Dabei wirken bei Kindern noch am ehesten umweltbezogene Interventionen und gezielte Maßnahmen für Kinder aus unteren sozialen Schichten.
• Von den 6 hochwertigsten Studien über Interventionen bei Heranwachsenden zeigten alle signifikante positive Resultate, was die Reviewer von einer "strong evidence of an effect" sprechen lässt.
• Dies gilt allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass ein derartig positiver Effekt nur bei Interventionen mit mehreren Komponenten auf verschiedenen "levels" nachgewiesen werden kann. Das Interventionsbündel muss aus schulbasierten Interventionen, Familien- oder Gemeindeaktivitäten, Bildungsangeboten und Umweltveränderungen bestehen
• Die auf die Erhöhung der körperlichen Aktivität zielenden Interventionen reichten von 2,6 Minuten längerer Aktivität bis zu 83 Minuten mehr Aktivität pro Woche.

Da es sich bei den reviewten Studien überwiegend um in den USA durchgeführte Forschungen handelt, ist die Generalisierbarkeit für andere Länder mit Vorsicht zu betreiben. Trotzdem gibt es unübersehbare Hinweise, sich auch in Deutschland von allzu eindimensionalen "Hurra"-Aktionsprogrammen fern zu halten.
Die sehr detaillierte tabellarische Vorstellung der Studien erleichtert das Finden und Bewerten konkreter Details aller Studien.

Der 13 Seiten umfassende Aufsatz "Effectiveness of interventions to promote physical activity in children and adolescents: Systematic review of controlled trials" ist im Online First-Angebot des BMJ komplett und kostenfrei als PDF-Datei erhältlich.

Sollte diese Downloadmöglichkeit mit dem Erscheinen des gedruckten Journals nicht mehr bestehen, kann hier ein Abstract bezogen werden.

Bernard Braun, 22.9.2007


Über 2,5 Millionen Kinder in Deutschland haben suchtkranke Eltern - BKK veröffentlicht Broschüre für Multiplikatoren

Artikel 0888 In Deutschland leben über 2,5 Mio. Kinder, die mit einem suchtkranken Elternteil aufwachsen. In jeder zwölften Familie ist ein Kind tagtäglich mit Alkoholabhängigkeit konfrontiert. Rund 40- 60.000 Kinder leben mit Eltern, die von illegalen Drogen abhängig sind. Diese Kinder sind einer Vielzahl von sozialen und gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt, in den Familien mangelt es häufig an Verlässlichkeit und Vertrauen. Für die Kinder ist darüber hinaus das Risiko erhöht, später einmal selbst suchtkrank zu werden.

Mit der Initiative "Kindern von Suchtkranken Halt geben" richtet sich der BKK Bundesverband gemeinsam mit dem Bundesverband der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe an Pädagogen, um für das Thema "Kinder von Suchtkranken" zu sensibilisieren und auch die praktische Hilfe zu verbessern. Die im Rahmen des Projektes erstellte Praxishilfe richtet sich an Lehrer, Kindergärtner, Übungsleiter beim Sportverein und Mitarbeiter in der Jugendhilfe.

In der Broschüre werde auch viele Forschungsergebnisse (mit Literaturangaben) vorgestellt, die die Problematik verdeutlichen:
• In Deutschland ist von 2,6 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren auszugehen, die zumindest zeitweise mit einem alkoholabhängigen Elternteil leben. Jedes siebte Kind ist somit von der Alkoholstörung eines Elternteils betroffen.
• Mehr als ein Drittel aller Drogenabhängigen hat Kinder - demnach haben fast 40.000 Kinder Eltern, die von illegalen Drogen abhängig sind.
• Jedes 300. Neugeborene ist von Alkoholembryopathie betroffen (eine durch chronischen Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft hervorgerufene vorgeburtliche Erkrankung des Kindes) - das sind ca. 2.200 Neugeborene pro Jahr.
• Es gibt ca. fünf bis sechs Millionen erwachsene Kinder suchtkranker Eltern; ein großer Teil von ihnen leidet im späteren Leben unter verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen und Störungen.
• Ein Teil der Kinder suchtkranker Eltern neigt zu schädlichem Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln und hat damit ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Abhängigkeiten. Mehr als 30 Prozent der Kinder werden selbst suchtkrank - meist sehr früh in ihrem Leben.
• Kinder suchtkranker Eltern gelten als die größte Risikogruppe bezüglich der Entwicklung eigener Suchterkrankungen ab dem Jugendalter. Zudem ist für diese Kinder das Risiko der Erkrankung an anderen psychischen Störungen deutlich erhöht. Dies betrifft besonders die Entwicklung von Angststörungen, Depressionen oder anderer Persönlichkeitsstörungen.
• Kinder suchtkranker Eltern sind während der Kindheit und Jugend häufig durch Hyperaktivität, Impulsivität und Aggressivität, durch Angstsymptome, gestörtes Essverhalten und depressive Symptome, durch Defizite in der schulischen Leistung und in der visuellen Wahrnehmung sowie durch starke innerfamiliäre Konflikterfahrung gekennzeichnet.

Hier finden Sie die 60seitige Broschüre mit vielen Hinweisen für Lehrer, Sozialpädagogen und andere Multiplikatoren zum praktischen Umgang mit der Problematik: "Leitfaden für Multiplikatoren: Kindern von Suchtkranken Halt geben - durch Beratung und Begleitung"

Gerd Marstedt, 30.8.2007


Fußball ist gesünder als Jogging - nicht zuletzt, weil es mehr Spaß macht

Artikel 0877 Fußball zu spielen hat sehr viel positivere Effekte für die Gesundheit als zum Beispiel zu joggen oder sich gar nicht zu bewegen. Peter Krustrup, an der Universität Kopenhagen als Professor für Sportmedizin tätig, hat dies im Rahmen einer dreimonatigen Studie aufgezeigt. Beteiligt waren drei Gruppen untrainierter Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren. In der einen Gruppe wurde drei Monate lang jeweils zwei- oder dreimal wöchentlich für eine Stunde Fußball gespielt und auch trainiert, die zweite Gruppe war über denselben Zeitraum und mit derselben Intensität mit Joggen beauftragt und die dritte Gruppe unternahm nichts.

Während des gesamten Zeitraums wurden die Teilnehmer immer wieder sportmedizinisch untersucht, man machte Fitness-Tests, kontrollierte Gewicht und Muskelmasse, den Blutdruck und Blutzucker-Werte. Als Ergebnis zeigte sich dann: Die Fußballer hatten nach 12 Wochen 3,5 Kilogramm Fett abgebaut und 2 Kilogramm zusätzliche Muskelmasse aufgebaut. Ihr Blutdruck war deutlich niedriger als zu Beginn der Studie und auch in den Fitnesstests schnitten sie besser ab. Die Jogger zeigten nicht ganz so positive Ergebnisse: Sie hatten nur 2 Kilogramm Fett verloren und keinerlei zusätzliche Muskeln aufgebaut. In der Kontrollgruppe zeigten sich keine Veränderungen.

Ein ganz entscheidender Unterschied zeigte sich außerdem, als man Jogger und Fußballer befragte, ob ihnen die körperlichen Übungen und die Bewegung schwer gefallen seien und oder ob sie daran Spaß gehabt hätten. Während hier die joggenden Studienteilnehmer angaben, es sei sehr hart für sie gewesen und das Durchhalten wäre ihnen schwer gefallen, berichteten die Fußballer fast nur über positive Erfahrungen und ihren Spaß am Spiel.

Der Wissenschaftler führt diese unterschiedliche Einschätzungen auf die jeweiligen sportlichen Besonderheiten zurück. In körperlicher Hinsicht erscheint Fußball im Vergleich zum Joggen als günstiger, da es nicht so einseitig ist und mehr Muskelpartien beansprucht. Fast noch wichtiger scheint jedoch, dass die Motivation zu körperlicher Bewegung sehr viel leichter fällt.

Krustrup: "Jogger fanden den Sport immer anstrengend, obwohl sie sich etwa mit derselben Geschwindigkeit wie die Fußballer bewegten. Das liegt wohl daran, dass man bei Joggen meist mit sich alleine ist. Man nimmt dann sehr genau die Anstrengungen und die Atmungsschwierigkeiten wahr. Und dann hat man ein wenig Mitleid mit sich selbst. Demgegenüber sind solche Gedanken beim Fußballspiel kaum präsent. Man ist vom Wettbewerb und Spiel beherrscht, bewegt sich in einer Gruppe und achtet nicht auf sein Herzklopfen."

• Hier ist eine Pressemitteilung der University of Copenhagen mit den wichtigsten Studienergebnissen: Soccer burns more fat than jogging
• Hier ein Abstract des Vortrags, gehalten auf der Konferenz "Proceedings of the 2007 British Association of Sport and Exercise Sciences Annual Conference, 12-14 September, University of Bath, UK": P. Krustrup u.a.: Recreational soccer has significant beneficial effects on performance and
health profile (In der PDF-Datei S. 47-48)

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Präventionskampagnen, wenn sie eine nachhaltige Änderung von Verhaltensgewohnheiten bewirken wollen, solche motivationalen Aspekte mitberücksichtigen müssen - ein in medizinischer Hinsicht noch so gesundes Verhalten wird schon bald wieder fallen gelassen, wenn man keinerlei Spaß daran findet. Dies ist auch das zentrale Ergebnis einer Dissertation des Frankfurter Sportwissenschaftlers Dr. Christian Thiel: "Entscheidend ist es, dass den adipösen Kindern die gewählte Bewegungsform auch Spaß macht und sie diese deshalb regelmäßig ausüben. Denn Energieumsatz und Herz-Kreislauf-Beanspruchung variieren bei den meisten Aktivitäten nicht so entscheidend." Der Wissenschaftler hat in seiner Doktorarbeit die Qualität von Bewegungsangeboten untersucht, die in der Therapie übergewichtiger Kinder angewandt werden.
Hier ist die Pressemitteilung der Universität Frankfurt am Main: Bewegung, die Spaß macht, fördert das Abnehmen

Gerd Marstedt, 27.8.2007


Interventionen für mehr körperliche Bewegung waren bislang nur begrenzt erfolgreich

Artikel 0732 "Gesunde Ernährung und mehr Bewegung - Schlüssel für mehr Lebensqualität" heißt das Eckpunktepapier der Bundesregierung, das eilig veröffentlicht wurde, nachdem unlängst die (nur sehr begrenzt zutreffende) Pressemeldung die Runde machte, Deutsche seien die dicksten Europäer. "Rund 30 % der Erwachsenen sind körperlich kaum aktiv, bewegen sich also im Alltag zu wenig. Auch Kinder bewegen sich heute viel weniger als früher. Mehr Bewegung ist der Schlüssel für mehr Lebensqualität in jedem Alter", erklärte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der Vorstellung des Papiers.

Tatsächlich ist die Forschungslage eindeutig, wie zum Beispiel aus dem RKI-Gesundheitsbericht "Körperliche Aktivität" hervorgeht: "Ein körperlich inaktiver Lebensstil ist ein wesentlicher verhaltensbezogener Risikofaktor, mit dem eine Reihe von Gesundheitsgefährdungen einher geht. (...) Nach Schätzungen aus den USA sind ca. 250.000 Todesfälle im Jahr, das sind 23 % aller durch chronische Erkrankungen bedingten Todesfälle, dem Mangel an regelmäßiger körperlicher Aktivität zuzurechnen. Für Deutschland wurde geschätzt, dass mehr als 6.500 Herz-Kreislauf-Todesfälle pro Jahr vermieden würden, wenn lediglich die Hälfte der körperlich inaktiven Männer im Alter von 40 bis 69 Jahren gemäßigten körperlichen Aktivitäten nachgingen." vgl. RKI: Körperliche Aktivität - GBE-Heft 26

Die Diagnose steht also, wie aber sieht es mit der Therapie aus? Eine jetzt im "British Medical Journal" veröffentliche Metaanalyse schon veröffentlichter Studien hat die Effektivität unterschiedlicher Interventionen zur Förderung der körperlichen Bewegung (spezieller Fokus: das "Gehen", also spazieren gehen, zur Arbeit oder einkaufen gehen, Wandern, Walking) noch einmal unter die Lupe genommen. Das Resultat kann nur sehr begrenzt Optimismus aufkommen lassen. Das Fazit der Studie geht dahin, dass solche Maßnahmen nur in sehr begrenztem Umfang wirksam sind. "Die erfolgreichsten Interventionen konnten bei den Teilnehmern eine Steigerung des Zu-Fuß-Gehens um bis zu 30-60 Minuten in der Woche erreichen - zumindest über einen kurzen Zeitraum. Im Hinblick auf eine systematische Gesundheitsförderung in der Bevölkerung ist festzustellen, dass die meisten Forschungsbefunde wohl eine gewisse Wirksamkeit der Interventionen belegen aber keine nachhaltige Effizienz."

30-60 Minuten zusätzliches Zu-Fuss-Gehen in der Woche zumindest innerhalb eines kurzen Beobachtungszeitraums - dies waren die Ergebnisse der erfolgreichsten Maßnahmen. Eine große Zahl von Interventionen verfehlte jedoch sogar diese minimale Verhaltensänderung. Von Medizinern wird allgemein mehr Bewegung empfohlen, "sollten Erwachsene mindestens 30 Minuten an moderater körperlicher Aktivität an den meisten, am besten allen Tagen der Woche ausüben, was einem zusätzlichen Energieverbrauch von ca. 200 kcal pro Tag entspricht. Als moderate körperliche Aktivitäten gelten solche, bei denen man etwas schwerer Atmen muss als normalerweise, wie z. B. beim Radfahren mit normaler Geschwindigkeit oder beim 'strammen' Spazieren gehen. Für einen optimalen gesundheitlichen Nutzen sollten Erwachsene darüber hinaus nach Möglichkeit drei Ausdauertrainingseinheiten (Dauer 20 bis 60 Minuten je Einheit) und zwei kraft- und beweglichkeitsorientierte Trainingseinheiten pro Woche ausüben." (RKI: Körperliche Aktivität - GBE-Heft 26)

Basis der Meta-Analyse waren 49 veröffentlichte Interventionsstudien, die mit unterschiedlichsten Konzepten und Anreizen arbeiteten, Individuen oder Gruppen ansprachen oder auch auf der Gemeinde-Ebene umgesetzt wurden. Eingesetzt wurden schriftliche Informationen und telefonische Instruktionen, Pädometer, geführte Gruppen und Mentoren, Medienkampagnen und Gemeinde-Feste. Dabei konnten die Wissenschaftler nicht feststellen, dass eine bestimmte Methode oder Vorgehensweise besonders erfolgreich war und ebenso blieb offen, ob bestimmte Multiplikatoren oder Veranstalter (Ärzte, Sportlehrer usw.) effektiver sind als andere.

Zwei allgemeine Aspekte des Vorgehens erwiesen sich jedoch relativ durchgängig als wichtig, um Teilnehmer zu mehr Bewegung zu animieren: Gezielte Teilnehmer-Auswahl und konzeptionelle Orientierung an der Zielgruppe. Der erste Aspekt bedeutet, dass meist solche Studien erfolgreicher waren, die eine klare Zielgruppe angesprochen hatten und sich nicht diffus an die Bevölkerung wendeten. Günstig war es darüber hinaus, wenn bei dieser Zielgruppe bereits eine Motivation zur Verhaltensänderung vorlag. Der zweite Aspekte bedeutet, dass man sich bei den Informationsmaterialien, den organisatorischen Rahmenbedingungen usw. sehr genau auf die Voraussetzungen und Motive der jeweiligen Adressaten einlässt und das Interventions-Programm auf sie "zuschneidet".

Betrachtet man die aktuell in Deutschland initiierten und viel umworbenen Präventions-Maßnahmen für mehr Bewegung wie das Regierungs-Programm 3000 Schritte extra oder die Barmer-Bild-ZDF-Kampagne Deutschland bewegt sich, dann ist leider festzustellen, dass genau diese Kriterien der Zielgruppen-Selektion und "Zuschneidung" der Programme auf die potentiellen Teilnehmer gänzlich verfehlt werden.

Die Studie über die Effektivität von Interventionen zur Förderung des Gehens ist hier im Volltext zu finden: Interventions to promote walking: systematic review (BMJ 2007;334:1204 , 9 June)

Gerd Marstedt, 12.6.2007


Partner und "Panz" statt Pillen - Soziale Beziehungen und mentale Gesundheit

Artikel 0408 Auch wenn es viele Ärzte und Pharmahersteller immer noch anders sehen: Viele Erkrankungen haben ihre Ursachen in unzulänglichen sozialen Verhältnissen, genauso wie gut funktionierende soziale Verhältnisse einen großen und teilweise sogar entscheidenden Einfluss auf die Gesundung von Menschen haben.
Diese Kernsätze der Sozialepidemiologie und -medizin wurden gerade für eine Erkrankung empirisch unterstrichen, die oft für eines der größten gesundheitlichen Risiken älterer Menschen gehalten wird: der Depression.

Zuerst einmal bestätigen die europaweit mit der so genannten EURO-D-Skala erhobenen Daten des "Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)", einer Befragung von nicht erwerbstätigen Personen im Alter von 60 Jahren und älter, dass u.a.

• 45 % der Personen, im Monat vor der Befragung traurig oder niedergeschlagen gewesen,
• 37 % kraftlos waren, 36 % an Schlafstörungen litten oder
• 7 % Schuldgefühle hatten.
• Im Durchschnitt nannten die Befragten 2,9 dieser und weiterer Symptome, die Indizien für Depression sind.
• 33 % der Befragten gaben 3 und mehr Symptome an und sind damit nach einer psychiatrischen Defintion depressiv.

Nach derselben Studie, deren Ergebnisse im Heft 4/2006 des unbedingt zum kostenlosen Bezug empfehlenswerten Informationsdiensts "Demografische Forschung. Aus erster Hand" des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock veröffentlicht wurden, beeinflussen zwei soziale Bedingungen entscheidend die mentale Gesundheit älterer Menschen:

Partnerschaften: Allein lebende Personen sind signifikant häufiger von Depressionen betroffen als verheiratete oder in Partnerschaft lebende Personen. Geschiedene sind stärker betroffen als Verwitwete.
Kinder: kinderlose ältere Personen haben mehr Depressionssymptome als Eltern. Ältere mit wenig Kontakt zu ihren Kindern (seltener als einmal die Woche) sind eher depressiv als der Durchschnitt.
• In einer Gesamtbilanz beider sozialer Beziehungskonstellationen hat eine Partnerschaft eine stärkere protektive Wirkung auf die mentale Gesundheit als Elternschaft.

P.S. Für Nicht-Kölner: "Panz" sind im Kölner Dialekt Kinder.

Hier können Sie die Zusammenfassung der am Wiener Institut für Demographie durchgeführtenForschungsarbeiten (Heft 4/2006: 4): "Regelmäßiger Kontakt zur Familie senkt Depressionsrisik" samt Literaturhinweisen herunterladen.

Bernard Braun, 18.12.2006


Auch theoretisch abgesicherte und aufwändige Sexual-/Gesundheitserziehung nicht zwangsläufig wirksam

Artikel 0329 Die unerwartet geringe Wirksamkeit des von verschiedenen Experten aufwändig über 3 Jahre entwickelten und auch aufwändig für Lehrer und Schüler (5 Tage Training für die Lehrer und 20 Stunden für SchülerInnen im 13. und 14. Lebensjahr) aufgebauten Sexualerziehungsprogramms SHARE (sexual health and relationships) gegenüber einem normalen Aufklärungsunterricht (schriftliche Information und Diskussion und zum Teil Übungen zum Umgang mit Kondomen) weist ein gerade veröffentlichter Aufsatz im "British Medical Journal (BMJ)" nach. SHARE kombinierte aktives Lernen in kleinen Gruppen, schriftliches Informationsmaterial über sexuelle Gesundheit und die praktische Entwicklung von Fähigkeiten mit sexuellen Belästigungen umzugehen oder mit Kondomen umgehen zu lernen in interaktiven Szenen und Rollenspielen. Es besaß alle 10 Charakteristika, die in anderen Studien als notwendig für wirksame Programme identifiziert wurden.

Trotzdem zeigte die mit Unterstützung des NHS in Schottland durchgeführte randomosierte kontrollierte Studie (Henderson et al.: Impact of a theoretically based sex education programme (SHARE) delivered by teachers on NHS registered conceptions and terminations: final results of cluster randomised trial; BMJ Online first vom 21. November 2006), die einen Zeitraum von rund 4,5 Jahre nach der Nutzung beider Programme untersuchte, dass die unerwünschten Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche in der SHARE-Gruppe nicht weniger auftraten.
Diese Informationen bezog die Studie aus den personenbezogenen Datenregistern des NHS und nicht aus Berichten der StudienteilnehmerInnen. Die Wissenschaftler schließen einen Einfluss der Qualität des Unterrichts aus. Zwei andere Faktoren halten sie allerdings für die Entwicklung wirksamerer Sexualerziehungsprogramme für sehr wichtig: die Berücksichtigung sozialer Ungleichheit und eine Einbeziehung der Eltern.

Die Ergebnisse dieser Studie haben auch deshalb eine allgemeinere Bedeutung für Gesundheitserziehungsprogramme, weil die Entwickler und Anwender von SHARE vollkommen von der besseren Wirksamkeit ihres Programms überzeugt waren und auch durch einfache Interventionsstudien darin bestätigt wurden. Erst eine rigorose Untersuchung und Bewertung mit einem RCT-Design führte zu den realistischeren Bewertungen.

Über die Wirksamkeit vieler Interventions-, Informations- und Erziehungsmethoden und -instrumente gibt generell die spezielle an der University of York angesiedelte Datenbank Database of Abstracts of Reviews of Effects (DARE) hervorragende Auskünfte.

Hier finden Sie die PDF-Datei des BMJ-Aufsatzes.

Bernard Braun, 22.11.2006


Teilnahme an "Rückenschulen": Es kommen die Falschen

Artikel 0232 Individuelle Präventionmaßnahmen, wie z.B. Rückenschulkurse oder Wirbelsäulentraining werden vor allem von sozial starken und relativ gesund lebenden Bürgern genutzt. Bevölkerungsgruppen mit nachgewiesenem hohem Rückenschmerzrisiko, etwa Vollzeitbeschäftigte und Angehörige sozialer Unterschichten, werden dagegen vergleichsweise seltener von Präventionsprogrammen erreicht, so das Ergebnis einer Repräsentativstudie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums.

Ziel der Studie war die Ermittlung repräsentativer Daten zur Verbreitung von Rückenschmerz, zur Nutzung von Rückenschulkursen und zu Risiko- und Teilnahmefaktoren. Zwischen Oktober 1997 and März 1999 wurde ein nationaler Gesundheitssurvey für die BRD erstellt. Hieraus konnte eine Nettostichprobe von 6235 Bundesbürgern im Alter von 18-79 Jahren in die Analyse aufgenommen werden. Es zeigte sich:
• Die Siebentageprävalenz für Rückenschmerz beträgt in der Bundesrepublik 36%.
• 7% der Deutschen haben innerhalb des letzten Jahres an einer Rückenschulmaßnahme teilgenommen.
• Dabei ist die Teilnahme unter Personen mit erhöhtem Rückenschmerzrisiko (z. B. unter Männern, Vollzeitbeschäftigten, Ledigen und Personen mit ungesundem Lebensstil) signifikant geringer.

Als Fazit formulierten die Autoren der Studie, S. Schneider und M. Schiltenwolf von der Tagesklinik für orthopädische Schmerztherapie, Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg: "Die Nutzerstruktur bundesdeutscher Rückenschulangebote ist gekennzeichnet durch mangelhafte Bedarfsgerechtigkeit und ungenügende Zielgruppenerreichung. Es bestätigt sich das Phänomen des "preaching to the converted", nach dem die typischen Nutzer Personen mit ohnehin gesundheitsbewusstem Lebensstil und geringem Schmerzrisiko sind, während die Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten Erkrankungsrisiko Präventionsmaßnahmen wie Rückenschulen signifikant seltener nutzen."

Die Studie wurde jetzt veröffentlicht in der Zeitschrift "Der Schmerz", Springer-Verlag, Band 19, Nummer 6, Dezember 2005, Seite 477-488

Ein Abstract der Studie findet sich hier: Preaching to the converted: Über- und Unterversorgung in der Schmerzprävention am Beispiel bundesdeutscher Rückenschulen

Gerd Marstedt, 25.1.2006