Home | Patienten | Gesundheitssystem | International | GKV | Prävention | Epidemiologie | Websites | Meilensteine | Impressum

Sitemap erstellen RSS-Feed

RSS-Feed
abonnieren


Sämtliche Rubriken in "Patienten"


Gesundheitsversorgung: Analysen, Vergleiche

Arzneimittel, Medikamente

Einflussnahme der Pharma-Industrie

Arzneimittel-Information

Hausärztliche und ambulante Versorgung

Krankenhaus, stationäre Versorgung

Diagnosebezogene Fallgruppen DRG

Rehabilitation, Kuren

Kranken- und Altenpflege, ältere Patienten

Umfragen zur Pflege, Bevökerungsmeinungen

Schnittstellen, Integrierte Versorgung

Disease Management (DMP), Qualitätssicherung

Leitlinien, evidenzbasierte Medizin (EBM)

Verhaltenssteuerung (Arzt, Patient), Zuzahlungen, Praxisgebühr

Arztberuf, ärztl. Aus- und Fortbildung

IGeL Individuelle Gesundheitsleistungen

Alternative Medizin, Komplementärmedizin

Arzt-Patient-Kommunikation

Patienteninformation, Entscheidungshilfen (Decision Aids)

Shared Decision Making, Partizipative Entscheidungsfindung

Klinikführer, Ärztewegweiser

Internet, Callcenter, Beratungsstellen

Patienteninteressen

Patientensicherheit, Behandlungsfehler

Zwei-Klassen-Medizin

Versorgungsforschung: Übergreifende Studien

Versorgungsforschung: Diabetes, Bluthochdruck

Versorgungsforschung: Krebs

Versorgungsforschung: Psychische Erkrankungen

Versorgungsforschung: Geburt, Kaiserschnitt

Versorgungsforschung: Andere Erkrankungen

Sonstige Themen



Alle Artikel aus:
Patienten
Versorgungsforschung: Psychische Erkrankungen


Ehemänner-Stress zwischen Alleinverdienerlast und Zweitverdiener"schmach". Die Macht und Hartnäckigkeit von Geschlechterrollen

Artikel 2678 Auch wenn es im Durchschnitt immer noch die so genannte "gender pay gap" gibt, d.h. eine trotz oft gleicher Tätigkeit und Leistung geringere Bezahlung von Frauen, steigt mit der wachsenden Frauen- und Ehefrauenerwerbstätigkeit auch deren Anteil am Haushaltseinkommen.

Ob und wie sich dies auf das Wohlbefinden oder die psychische Gesundheit ihrer Ehepartner auswirkt, hat jetzt eine Wissenschaftlerin der britischen Universität von Bath mit über 15 Jahren erhobenen Daten (insgesamt 19.688 Einzelbeobachtungen) der "Panel Study of Income Dynamics (PSID)" von 6.034 us-amerikanischen heterosexuellen Partnern untersucht und ist zu paradoxen Ergebnissen für das Selbstbewusstsein und die Geschlechtsrollenidentität von Männern gelangt.

• Erstens fühlen sich Ehemänner in der Rolle als Alleinverdiener des Haushaltseinkommens negativ gestresst (Disstress gemessen mit der "Kessler Psychological Distress Scale (K6)") was zu einer Reihe von unerwünschten gesundheitlichen Problemen führen kann bzw. führt.
• Zweitens fühlen sich Ehemänner dann am wenigsten gestresst, wenn ihre Ehefrauen erwerbstätig sind und mit ihrem Einkommen bis zu 40% zum Haushaltseinkommen beitragen.
• Drittens fühlen sich Ehemänner dann schnell zunehmend gestresst und "uncomfortable", wenn ihre Ehefrauen mehr als 40% des Haushaltseinkommens verdienen. Überschreitet dieser Anteil die 50%-Grenze, nehmen sich die Ehemänner als ökonomisch völlig abhängig wahr und erreichen den höchsten Stressgrad.

Für die Geschlechterforschung interessant sind in diesem Zusammenhang die zwischen Ehefrauen und -männern deutlich unterschiedlichen Einschätzungen des geringsten Stresslevels in Abhängigkeit von den Anteilen am Haushaltseinkommen. Während Männer dann sagen, sie seien am wenigsten wegen der Einkommen gestresst, wenn die Frauen mit 40% zum Haushaltseinkommen beitragen, meinen Ehefrauen, dies sei erst der Fall, wenn das Verhältnis 50%:50% sei - und schließen dann wahrscheinlich von sich auf ihren Partner.

Mehr über einkommensassoziierten Hintergründe mancher Verhaltens- und gesundheitlichen Symptomatik von verpartnerten Männern findet sich im Aufsatz Spousal Relative Income and Male Psychological Distress der Ökonomin Joanna Syrda, im November 2019 veröffentlicht in der Fachzeitschrift "Personality and Social Psychology Bulletin". Ein kurzes Abstract ist kostenlos erhältlich. Auf der Webseite der University of Bath findet man außerdem eine etwas längere Kurzübersicht über die Ergebnisse der Studie und ein Interview mit der Autorin.

Bernard Braun, 25.11.19


Risiko an Demenz zu erkranken stagniert oder nimmt ab, nicht signifikant. Resultat eines systematischen Reviews samt Meta-Analyse

Artikel 2634 Über eine Reihe von methodisch hochwertigen Studien zum individuellen Risiko an Demenz zu erkranken, die meist das Erkrankungsrisiko in zwei weit auseinanderliegenden Kohorten verglichen, ist im "forum-gesundheitspolitik" schon mehrfach berichtet worden (zu finden mit dem Suchwort "Demenz"). Fast jede dieser Studie fand, dass das Erkrankungsrisiko (Inzidenz) entgegen vieler alarmistischer Szenarien mehr oder weniger stark abgenommen hat und diese Szenarien auf der ausschließlichen Betrachtung der Prävalenz beruhten. Deren Zunahme beruht danach ausschließlich auf der Zunahme des Anteils älterer Personen, die vor allem von Demenz betroffen sind.

Ein im Oktober 2018 veröffentlichter systematischer Review von Leipziger und Nordhausener WissenschaftlerInnen betrachtete nun sieben dieser Studien mit 42.485 TeilnehmerInnen aus entwickelten Ländern ("high-income countries") zusammen. Mit fünf dieser Studien wurde eine Metaanalyse durchgeführt werden.

Die wichtigsten Ergebnisse lauteten:

— Die meisten Studien liefern trotz aller Heterogenität "evidence of favorable trends in dementia incidence", d.h. Hinweise darauf, dass sich das Risiko stabilisiert oder sogar abnimmt.
— Dies gilt ausdrücklich nur für entwickelte Länder und auch nicht für jedes. Wie eine der untersuchten Studien zeigt, nimmt nämlich das Demenzrisiko in Japan zu. Offensichtlich spielen also unterschiedliche soziale, kulturelle oder umweltliche Bedingungen eine in weiteren Studien noch genauer zu untersuchende Rolle.
— Einschränkend weisen die AutorInnen aber darauf hin, dass die Abnahme des Demenzrisikos bei Einschluss der Studie über Japan statistisch nicht signifikant ist (Incidence Change/IC=0,82; 95% CI 0,51-1,33) und auch ohne die Ergebnisse aus Japan lediglich eine "borderline evidence for a decrease" (IC=0,69; 95% CI 0,47-1,00) existiert.

Die Schlussfolgerungen der AutorInnen lauten daher, es bedürfe weiterer Studien aus entwickelten Ländern aber auch weniger entwickelten Ländern. Zumindest für mitteleuropäische oder nordamerikanische Länder ist aber auszuschließen, dass dabei gewaltige Zunahmen des Demenzrisikos entdeckt werden.

Die Studie Is dementia incidence declining in high-income countries? A systematic review and meta-analysis von S. Roehr, A. Pabst, T. Luck und S. Riedel-Heller ist in der Zeitschrift "Clinical Epidemiology" (10: 1233-1247) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 9.11.18


Psychische Störungen in Bayern und anderswo: Kein Anstieg der Häufigkeit in den letzten 10-15 Jahren und soziale Ungleichheit

Artikel 2581 Wer sich mit psychischen Störungen oder Erkrankungen beschäftigt und nicht sofort in den großen Chor von der "dramatisch anwachsenden" Epidemie psychischer Erkrankungen einstimmen will, findet in einem aktuellen Bericht des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege eine gute Grundlage für die problemangemessene Debatte über Umfang, Arten, Entwicklungstendenzen und Hilfsmöglichkeiten dieser Erkrankungsarten.

Die gründliche und kompakte Aufarbeitung des Wissens über die Häufigkeit psychischer Störungen, die organisatorischen und inhaltlichen Schwierigkeiten der Informationsgewinnung, die Eckdaten zur Versorgungssituation in Bayern und die exemplarischen Vertiefungen zu den Depressionen in verschiedenen Lebenslagen, den Depressionen im Kinder- und Jugendalter und die Information, Beratung und Begleitung - in Bayern und darüber hinaus, führt zu folgenden Kernergebnissen:

• Der Anteil der Erwachsenen, die sich seelisch belastet fühlen, liegt in Bayern unter dem Bundesdurchschnitt.
• Mehr als ein Viertel der Erwachsenen in der Altersgruppe 18 bis 79 Jahre in Deutschland leidet im Laufe eines Jahres an einer klinisch relevanten psychischen Störung.
• Im Vordergrund stehen Angststörungen, affektive Störungen und somatoforme Störungen.
• Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
• Die untere Sozialstatusgruppe weist selbst in Bayern ein um 70 % höheres Erkrankungsrisiko auf als die obere Sozialstatusgruppe.
• Psychische Störungen sind in den letzten 10-15 Jahren entgegen der oft beschworenen explosiven Entwicklung nicht häufiger geworden - weder außerhalb noch in Bayern.
• Etwa 2,3 Mio. Menschen in der Altersgruppe ab 20 Jahren hatten 2014 in Bayern eine ambulante Diagnose aus der Gruppe der psychischen Störungen.

Der 84 Seiten umfassende Bericht zur psychischen Gesundheit von Erwachsenen in Bayern Schwerpunkt Depression ist online kostenfrei abrufbar.

Bernard Braun, 12.10.17


Personalausstattung in der stationären Psychiatrie zwischen gerade noch ausreichend bis desaströs.

Artikel 2536 Zu einer der seit Jahren in der stationären Versorgung immer intensiver diskutierten Fragen gehört, wie viel und welches ärztliches und pflegerisches Personal dort tätig ist und ob damit eine gute Behandlung möglich ist. Sobald es darauf genügend Antworten gibt, sollen es per Gesetz verbindliche Vorgaben für die Anzahl von Patienten pro Pflegekraft oder Arzt geben. Speziell für den Bereich der Behandlung psychisch Kranker plant die Bundesregierung ab 2017 mit dem "Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG)", Verbesserungen zu erreichen. Mit dem PsychVVG "wird z. B. auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beauftragt, verbindliche Mindestvorgaben für die Personalausstattung in Kliniken für psychisch kranke Menschen festzulegen. Diese sollen - soweit möglich - evidenzbasiert sein und eine leitliniengerechte Behandlung ermöglichen."

Dass dies alles nicht schon längst erfolgt ist, liegt auch daran, dass es keine verlässlichen und konsentierten Zahlen zum quantitativen und qualitativen Status quo gibt.

Eine im Juni 2016 vorgelegte Studie der Bundespsychotherapeutenkammer über die personellen Verhältnisse und die Versorgungsqualität in der stationären Psychiatrie und Psychosomatik zeigt zum einen die Fülle von Schwierigkeiten bei der Schaffung von Transparenz und zum andern anhand der wenigen Angaben in den verpflichtenden Qualitätsberichten von Krankenhäusern aus drei Bundesländern (Bayern, Hamburg und Sachsen) und weiteren Recherchen, welche personellen Versorgungsmängel hier existieren.

Die Maßstäbe mit denen beurteilt wird, ob die Personalausstattung ausreichend ist oder nicht, entstammen der "Verordnung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Psychiatrie (Psychiatrie-Personalverordnung - Psych-PV)" vom 18. Dezember 1990. Diese Verordnung regelte die "Maßstäbe und Grundsätze zur Ermittlung des Personalbedarfs für Ärzte, Krankenpflegepersonal und sonstiges therapeutisches Fachpersonal in psychiatrischen Einrichtungen für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche mit dem Ziel, eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche stationäre oder teilstationäre Behandlung der Patienten zu gewährleisten." Angesichts der Tatsache, dass das was eine ausreichende Behandlung ausmacht sich seitdem im Sinne neuer Leistungen mit einem entsprechenden Personalaufwand verändert hat, sind die Personalwerte der Psych-PV aber heute eine Art Mindestwerte. Umso bedenklicher, wenn noch nicht einmal diese Werte in der heutigen Behandlungswirklichkeit erreicht werden.

Die wichtigsten Ergebnisse lauten:

• Es beginnt relativ positiv: "In fast neun von zehn (86 Prozent) der allgemeinpsychiatrischen und psychosomatischen und in acht von zehn (82 Prozent) der kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und Abteilungen gibt es ausreichend ärztliches und fachärztliches Personal, um die medizinisch-psychiatrische Grundversorgung der Patienten sicherzustellen. Die Leistungen der medizinisch-psychiatrischen Grundversorgung nach Psych-PV (Psychiatrie-Personalverordnung), die nicht durch andere Berufsgruppen erbracht werden können, können dort durch Ärzte abgedeckt werden."
• Doch dieses Bild verdunkelt sich dann rasch: "Deutlich wird aber ein Defizit, wenn man die medizinisch-psychiatrische Grundversorgung und die psychotherapeutische Versorgung, d. h. die Aufgabe n von Ärzten und Psychologen, zusammen betrachtet. Nur drei von vier der Kliniken und Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie (75 Prozent) und (etwas knapper) für Kinder- und Jugendpsychiatrie (73 Prozent) verfügen über ausreichend Ärzte/Fachärzte und Diplom-Psychologen/Psychotherapeuten, um die Leistungen, wie sie nach Psych-PV im Regelbehandlungsbereich für die medizinisch-psychiatrische und die psychotherapeutische Versorgung zusammen vorgesehen sind, zu erbringen."
• Und bevor es richtig "desaströs" wird, ist die Personalausstattung in den Klinken und Abteilungen für Psychosomatik wiederum etwas besser: "Dort verfügen 95 Prozent der Kliniken über ausreichend Ärzte/Fachärzte und Diplom-Psychologen/Psychotherapeuten, um die Vorgaben der Psych-PV zu erfüllen."
• Die schlechteste Personalausstattung gibt es dagegen in dem gerade auch für die gute Behandlung von psychisch Kranken wichtigen Bereich der Pflege: "Nur die Hälfte der Kliniken und Abteilungen in der Allgemeinpsychiatrie (49 Prozent) und nur eine von fünf psychosomatischen Einrichtungen (17 Prozent) verfügen über ausreichend Pflegepersonal, um die Vorgaben der Psych-PV zu erfüllen."
• Da in Deutschland die Privatisierung von Krankenhäusern weiterhin ungebremst stattfindet, ist ein weiterer Fund des Reports der Bundespsychotherapeutenkammer versorgungspolitisch beachtenswert: "In der ärztlichen und der ärztlich-psychotherapeutischen Versorgung gibt es wenig Unterschiede zwischen öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern bei der Erfüllung der Vorgaben nach Psych-PV. In der Pflege ist die Personalausstattung, insbesondere in den Kliniken und Abteilungen in privater Trägerschaft, besonders schlecht. Auch bei den rein ärztlichen Leistungen werden die Vorgaben der Psych-PV seltener erfüllt (79 Prozent)."

Die Studie der Bundespsychotherapeutenkammer 2016: Die Qualität der Versorgung in Psychiatrie und Psychosomatik. Eine Auswertung der Qualitätsberichte der Krankenhäuser ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 8.7.16


Weniger Stress mit dem was "Stress" sein könnte: elf Risikobereiche psychischer Belastungen

Artikel 2487 In der immer intensiver geführten Debatte über die tatsächliche oder auch nur vermeintliche Zunahme psychischer Erkrankungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitationsbedürftigkeit und Frühberentung, spielen eine oft unter dem schlagwortartigen Begriff "Stress" zusammengefasste Fülle von psychischen Belastungen und deren Gefährdungspotenzial eine große Rolle. Hinzu kommt, dass auch am Entstehen und dem Verlauf eher körperlicher Erkrankungen wie der Herz- und Muskel-Skelett-Erkrankungen psychische Fehlbelastungen (mit-)beteiligt sind. Dies ist mit ein Grund, dass die Identifikation psychischer Belastungen seit einiger Zeit in den gesetzlich vorgeschriebenen betrieblichen Gefährdungsanalysen und -beurteilungen neben den traditionellen physikalischen und ergonomischen Faktoren vorgeschrieben ist (siehe dazu u.a. die Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation. Ein trotz all dieser Debatten seit Jahren bekanntes Problem ist, dass nur zwischen 6% (2010) und 20% (2008/09) und vielleicht aktuell ein etwas höherer Prozentsatz der Betriebe in Gefährdungsbeurteilungen psychische Belastungen berücksichtigten (siehe dazu u.a. D. Beck, G. Richter, M. Ertel, M. Morschhäuser: Gefährdungsbeurteilung bei psychischen Belastungen in Deutschland. Verbreitung, hemmende und fördernde Bedingungen
2012
).

Ein weiteres für mögliche präventiven Bemühungen wichtiges Problem ist, genauer zu wissen, was sich hinter "dem Stress" verbirgt, welche Einzelfaktoren also psychisch belastend wirken, zu bestimmten Erkrankungen führen und beeinflusst werden müssen oder können.
Daran ändert ein gerade veröffentlichter Bericht etwas, der auf der Basis systematischer Reviews und wenn möglich von Meta-Analysen thematisch ähnlicher Einzelstudien beabsichtigt, "das Gefährdungspotential psychischer Arbeitsbelastungen einschätzen zu können und damit einen Hinweis zu geben, welche Arbeitsbelastungen in Gefährdungsbeurteilungen berücksichtigt werden sollten".

Danach sind besonders die folgenden elf psychischen Arbeitsbedingungen/-belastungen gesundheitsgefährdend: die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität (hoher Job Strain), die Kombination von geringem Handlungsspielraum und hoher Arbeitsintensität bei gleichzeitig geringer sozialer Unterstützung (iso-strain), hohe Arbeitsintensität (Job demand), geringer Handlungsspielraum (Job control), (Ungleichgewicht zwischen erlebter beruflich geforderter Leistung und dafür erhaltener Belohnung/Wertschätzung(Effort-Reward-Imbalance), Überstunden, Schichtarbeit (vor allem Abend- und Nachtschichten sind als gesundheitsgefährdend einzustufen), geringe soziale Unterstützung, Rollenstress, Bullying/aggressives Verhalten am Arbeitsplatz und Arbeitsplatzunsicherheit.

Worauf diese Beurteilungen basieren und zahlreiche weitere Details enthält der iga-Report 31 "Risikobereiche für psychische Belastungen" der an der Universität Halle-Wittenberg arbeitenden Arbeitspsychologin Renate Rau unter Mitarbeit von Michael Blum und Laura-Marie Mätschke. Er umfasst 46 Seiten und ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 26.11.15


Henne oder Ei? Ist Sprachenlernen Hirn-Jogging gegen Demenz oder lernen Leute mit "fittem" Hirn mehr und besser Sprachen?

Artikel 2361 Auf der Suche nach nichtmedizinischen Möglichkeiten sich bis in das höhere Lebensalter geistig fit zu halten, wird immer wieder das Lernen von Fremdsprachen genannt. Trotz zahlreicher bestätigender Hinweise aus Beobachtungsstudien konnte bisher nicht geklärt werden, welche Wirkrichtung hinter dieser Beobachtung steckt.

Britische Forscher liefern mit den am 2. Juni 2014 in der Fachzeitschrift "Annals of Neurology" veröffentlichten Ergebnissen einer Längsschnittstudie schlüssige Belege für die positiven Wirkungen von Bilingualismus auf das kognitive Altern.
Dazu absolvierte eine Gruppe von 853 im Jahr 1936 geborenen TeilnehmerInnen im Alter von 11 Jahren, also 1947, einen Intelligenztest. Alle TeilnehmerInnen hatten Englisch als Muttersprache. Dieser Test wurde zwischen 2008 und 2010 mit den dann rund 70 Jahre alten Personen wiederholt. 262 von ihnen sprachen mindestens eine Fremdsprache, die sie entweder in der Schule oder im späteren Alter gelernt hatten.

Das Ergebnis war eindeutig: Unabhängig von der Anfangsintelligenz und auch vom Zeitpunkt des Sprachelernens (Quintessenz: Es ist nie zu spät!!) hatten die Personen mit mindestens einer Fremdsprache im hohen Alter bessere kognitive Fähigkeiten. Die stärksten protektiven Wirkungen traten bei der allgemeinen Intelligenz und beim Lesen auf. Kontrolliert wurde auch der mögliche Einfluss anderer Faktoren. Die Wirkungen können nicht durch das Geschlecht, den sozioökonomischen Status oder durch Immigrationsaspekte erklärt werden. Das positive Bild wird dadurch abgerundet, dass die Forscher keine negativen Wirkungen von Bilingualismus fanden.

Angesichts der Erkenntnis über die positive Wirkung des Erwerbs, der Kenntnis und Nutzung von Fremdsprachen auf die geistige Fitness, geben wir die zentralen Erkenntnisse der Studie nochmals in präventiver Absicht in der Originalsprache wieder: "Our results suggest a protective effect of bilingualism against age-related cognitive decline independently of CI (child intelligence). The effects are not explained by other variables, such as gender, socioeconomic status, or immigration. Importantly, we detected no negative effects of bilingualism. The cognitive effects of bilingualism showed a consistent pattern, affecting reading, verbal fluency, and general intelligence to a higher degree than memory, reasoning, and speed of processing."

Die Studie Does Bilingualism Influence Cognitive Aging? von Bak T. H. et al. ist in der Zeitschrift "Annals of Neurology" erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 7.6.14


Sind Messies psychisch krank? Jedenfalls wird ihre Häufigkeit erheblich überschätzt und das Risiko ist ungleich verteilt.

Artikel 2305 Die wichtige Frage, ob zwanghaftes Horten oder eine Sammelwut als teilweise sozial assoziiertes oder durch einmalige Lebensereignisse verursachtes Verhalten von Menschen wirklich eine behandlungsbedürftige psychische Störung ist und Messies Kranke sind, bleibt mit der hier vorgestellten Studie letztlich unbeantwortet. Deren Wissenschaftler nehmen sich aber die in der neuesten Ausgabe der Klassifikation psychischer Störungen und Erkrankungen, "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5)" neu aufgenommene so genannte "hoarding disorder" vor und untersuchen dann die Erkrankungshäufigkeit in einer Bevölkerungsgruppe von 1.698 in London wohnenden Personen im Alter zwischen 16 und 90 Jahren und wen dies besonders betrifft.

In einer ersten Befragungswelle bezeichneten sich auf eine entsprechende Frage 201 dieser Personen als Messies. 99 von ihnen erklärten sich dann noch zu einem psychiatrischen Interview entlang der im DSM-5 genannten Krierien für diese psychische Störung in ihrer häuslichen Umgebung bereit. Damit konnte die gerade bei psychischen Erkrankungen und im Rahmen von Selbstbewertungen des Zustands leicht mögliche Über- oder Fehlbewertung von Symptomen u.a. durch Augenschein überprüft werden. Von mancher krankhaften Sammelwut blieb dann nur noch eine gewisse häusliche Unordnung oder Übermöblierung übrig.

Genau waren es nach diesen Interviews und der Fremdwahrnehmung der häuslichen Umbebung nur noch 19 Individuen, die nach den Diagnosekriterien des DSM-5 tatsächlich Messies waren. Dies entspricht einer gewichteten Prävalenz von 1,5%.
Die Messies waren älter und öfter unverheiratet, hatten auch überdurchschnittlich viele physische Erkrankungen oder andere mentale Störungen und hatten in ihrem bisherigen Leben schon häufiger Leistungen im Zusammenhang mit mentalen Störungen in Anspruch genommen. Lediglich ein Drittel der Messies hatten in den letzten Jahren Hilfe gesucht. Unter denjenigen, die in der ersten Befragungswelle verneinten, Messi zu sein, fanden sich nach einem Besuch in der häuslichen Umgebung doch eine Reihe von Personen, die nach den DSM-5-Kriterien an dieser Störung litten.

Auch wenn damit geklärt ist, dass die Häufigkeit des auch "Messi-Syndrom" genannten Verhaltens selbst von potenziell Betroffenen extrem überschätzt wird, sollte noch wesentlich gründlicher als bisher darüber nachgedacht werden, ob es sich wirklich um eine möglicherweise psychiatrisch behandlungsbedürftige Erkrankung handelt oder lediglich um eine mehr oder weniger starke Abweichung von einer sozialen Ordnungs- oder Ordentlichkeitsnorm.

Der Aufsatz Epidemiology of hoarding disorder von Nordsletten AE et al. ist am 24. Oktober 2013 als Beitrag in der Fachzeitschrift "British Journal of Psychiatry" vor Drucklegung veröffentlicht worden. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 18.11.13


Weniger ist mehr, was man aber erst nach einiger Zeit bemerkt: Ein Beispiel aus der Behandlung von psychisch Kranken

Artikel 2263 "Durchtherapieren", alle unerwünschten Krankheitsphänomene oder -faktoren kriegerisch ("the war on …") "ausrotten" oder "viel hilft viel" sind Einstellungen, Strategien und Erwartungen bei Ärzten, sonstigen Therapeuten sowie Patienten, die möglichst lange bzw. "gründliche" Behandlungen sinnvoll erscheinen lassen und fördern.

Dass eine lange Behandlungszeit auch eine Art Fehlversorgung und einen gesundheitlichen Nachteil darstellen kann oder eine kürzere langfristig einen höheren Nutzen für Erkrankte hat, zeigen jetzt die Ergebnisse einer niederländischen Studie über den heutigen Gesundheitszustand von Personen, die in einer randomisierten kontrollierten Studie in den Jahren 2001 und 2002 wegen einer ersten psychotischen Episode mit Antipsychotika behandelt wurden.

Leitliniengetreu wurde ein Teil der 129 StudienteilnehmerInnen mindestens ein Jahr oder gar bis zu zwei Jahre behandelt. Für den anderen Teil dauerte die medikamentöse Behandlung wesentlich kürzer.
Bei dem jetzt erfolgten 7-Jahre-Follow up zeigte sich bei den Patienten, deren Dosis früh reduziert wurde oder deren medikamentöse Behandlung diskontinuierlich erfolgte oder auch früh abgebrochen wurde, eine signifikant höhere Besserungsrate war als bei den "durchtherapierten" Patienten. Während der Anteil mit höherer Besserungsrate unter den Patienten, die bis zu zwei Jahre durchtherapiert wurden 17,6% betrug, lag er bei den wesentlich kürzer therapierten Personen bei 40,4%.

Selbst wenn die Dauer- oder Langzeittherapie einige kurzfristige Vorteile hat, belegen die Studienergebnisse die Wahrscheinlichkeit , dass nach 7 Jahren beide "original treatment strategy" so oder so einen "profound effect" auf die Besserungsraten haben. Für den Langzeiterfolg einer Versorgung mit Antipsychotika ist u.a. der Anteil von Patienten maßgeblich, der eine möglichst kurze Frühtherapie erhalten hatte. Ob und wie dieser Zusammenhang besteht und ab wann der Nutzen einer kurzen Therapiezeit richtig zum Tragen kommt, wollen die Wissenschaftler in weiteren Studien klären.

Die AutorInnen empfehlen aufgrund ihrer Ergebnisse schließlich, für die Untersuchung des Nutzens von Arzneimitteln und Therapien in der Versorgung psychisch Kranker mindestens Langzeitstudien mit einer Laufzeit von 7 Jahren oder länger durchzuführen.

Der Studienaufsatz Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial von Lex Wunderink et al. ist am 3. Juli 2013 online first in der Fachzeitschrift JAMA Psychiatry. (2013: 19) erschienen. Das Abstract ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.8.13


"Englische Verhältnisse" Modell? Transparenz über die Behandlungsqualität von psychisch Kranken in geschlossenen Einrichtungen

Artikel 2216 Auch in Großbritannien ist ein relevanter Teil aller Erkrankungen psychisch bedingt: gegenwärtig rund 23%. Wie gewichtig dieser Anteil ist, wird klar, wenn man sieht, dass in Großbritannien "nur" jeweils 16% der gesamten Krankheitslast durch Krebs und Herzerkrankungen verursacht werden. Ob psychisch kranke und in hohem Maße noch in geschlossenen Anstalten behandelte Personen eine problemgerechte und vor allem ihre Menschen- und Freiheitsrechte so weit wie möglich berücksichtigende Versorgung erhalten, wird seit dem 1983 verabschiedeten "Mental Health Act" u.a. von speziellen "Mental Health Act commissioners" der "Care Quality Commission (CQC)" untersucht und die Ergebnisse umfassend in bisher drei umfangreichen Berichten veröffentlicht.

Der dritte Bericht ist im Januar 2013 veröffentlicht worden und beruht hauptsächlich auf dem Besuch von 1.546 stationären Abteilungen für die Behandlung psychisch Kranker in den Jahren 2011 und 2012. 811 der Einrichtungen wurden unangekündigt besucht und kontrolliert und 95 der Kontrollen fanden am Wochenende statt. Die "Kommissare" sprachen im Rahmen ihrer Untersuchung mit 4.569 PatientInnen, MitarbeiterInnen der Einrichtung, untersuchten über 4.500 Behandlungspläne und andere Dokumente und nahmen auch den baulichen und sonstigen Zustand der Einrichtung in Augenschein. Außerdem sind die "Kommissare" auch für die Kontrolle der Arbeit von so genannten "Second Opinion Appointed Doctors (SOADs)" zuständig, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, zu bewerten ob die freiheitsentziehenden Maßnahmen bei der Behandlung psychisch Kranker angemessen oder zulässig sind. Die SOADS führten in dem Untersuchungszeitraum fast 9.000 Besuche von PatientInnen in geschlossenen Anstalten und weitere rund 3.200 bei anderen psychisch Kranken durch. Inhaltlich spielten die Erfahrungen der PatientInnen eine zentrale Rolle, und dabei vor allem der Grad ihrer Beteiligung an Behandlungsentscheidungen und die Art und Weise ihrer informierten Zustimmung zu Behandlungsschritten.

Zu den wichtigsten Ergebnissen gehörten folgende:

• Zahlreiche Kliniken und Abteilungen machten eine ausgezeichnete Arbeit in deren Mittelpunkt der respekt- und würdevolle Umgang mit PatientInnen stand. Der Bericht nennt zum ersten Mal auch diese Leistungserbringer, und zwar mit dem expliziten Ziel, damit andere Anbieter "anstecken" zu wollen.
• Auch wenn sich einige der positiven Aspekte aus vergangenen Berichten stabilisierten, fanden sich in 37% der kontrollierten Behandlungspläne Anzeichen dafür, dass die Sicht der PatientInnen nicht berücksichtigt wurde. In 21% der Behandlungsdokumentationen fehlten Hinweise, ob die PatientInnen über ihre gesetzlichen Rechte von einem "Mental Health Advocate" informiert worden sind. Und 45% der Behandlungsakten enthielten keinen Hinweis auf die vorgeschriebene konsensuale Diskussion über die Behandlungsschritte vor dem ersten Einsatz von Medikamenten bei den stationär untergebrachten Kranken.
• Insgesamt konstatiert der Bericht eine signifikante Lücke zwischen der Versorgungswirklichkeit und der ambitionierten "mental health"-Politik.
• Die CQC-Kommissare sind schließlich besorgt, dass sich hartnäckig eine Kontrollkultur hält, die auch prioritär gegenüber einer Kultur der Behandlung und Unterstützung von Individuen ist. Bei rund 20% ihrer Besuche hatten die Berichterstatter den Eindruck, dass die PatientInnen eher wie zwangsweise Behandelte behandelt wurden und auch nicht versucht wurde den Aufenthalt zusammen mit den Patienten als freiwilligen und konsentierten zu gestalten.

Der Bericht schließt mit ausführlichen Überlegungen und Empfehlungen zur Beseitigung der Behandlungsdefizite. Auch hier spielt die Stärkung der Patienten und ein patientenorientiertes Verständnis der behandelnden Ärzte und Pflegekräfte eine zentrale Rolle. Aus Patientensicht sollte die Normalität durch das Motto "no decision about me, without me" bestimmt sein.

Wer diesen Bericht liest, und sich dann an die jüngsten empirieschwachen Debatten über den Einsatz von Zwangsmaßnahmen gegen psychisch Kranke in deutschen psychiatrischen Kliniken vor Gerichten und parlamentarischen Einrichtungen oder die endlose Debatte über die Modalitäten des "Pflegeheim-TÜVs" erinnert, hat weitere kritische Belege für den enormen Rückstand der Transparenz über die Art und Qualität der Behandlungsverhältnisse selbst großer Krankengruppen in Deutschland.

Über eine Website erhält man den Zugang zu verschiedenen Formaten des Berichts.
Den 108 Seiten umfassenden kompletten Bericht "Monitoring the Mental Health Act in 2011/12" der "Care Quality Commission" erhält man kostenlos.
Und wenn man schon einmal auf der CQC-Website ist, lohnt sich auch der Blick auf andere, zum Teil ebenfalls beispielhaften Reports der Kommission. Diese Art von "englischen Verhältnissen" täten dem deutschen Gesundheitswesen sehr gut.

Bernard Braun, 31.1.13


"Use It or Lose It": Schützt ein kognitiv aktiver Lebensstil gegen Alzheimer? Ja, aber zum Teil anders als erwartet und gewünscht.

Artikel 2155 Viele epidemiologische Studien liefern eine starke Evidenz für den Zusammenhang eines ausgeprägten kognitiven Lebensstils mit einem geringeren Risiko an Demenz zu erkranken. Unklar war bisher, welche Komponenten des kognitiven Lebensstils hierfür hauptverantwortlich sind und damit eine möglicherweise präventive Rolle spielen könnten.

Ebenso unklar war der Zusammenhang des Lebensstils mit neurodegenerativen Veränderungen und dem Alzheimer- und Demenzrisiko.
Zwei Untersuchungen mit den vielfältigen Daten der mit 13.004 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren in England und Wales durchgeführten "Medical Research Council Cognitive Function and Ageing Study", sorgen für mehr Klarheit über beide Fragen. Zu den wichtigsten Daten dieser Studie gehört ein über die Studienzeit von 10 bis 14 Jahren mehrfach erhobener so genannter "Cognitive Lifestyle Score (CLS)". Dieser Wert setzt sich aus Angaben zur Ausbildung, zur Komplexität der ausgeübten beruflichen Tätigkeit und zum sozialen Engagement zusammen. Hinzu kommen Ergebnisse von pathologischen und neurophysiologischen Untersuchungen an 329 für diesen Zweck gespendeten Hirnen verstorbener TeilnehmerInnen der Studie.

Die erste Untersuchung belegte die statistisch signifikante protektive Wirkung eines höheren CLS-Wertes auf die Inzidenz von Demenz. Das Risiko dement zu werden war bei den Personen mit einer Kombination von guter Bildung, komplexer beruflicher Tätigkeit und sozialem Engagement im höheren Lebensalter geprägt um 40% niedriger als bei Personen ohne diese sozialen Werte. Das geringere Demenzrisiko war selbst dann noch zu beobachten, wenn nur eine Kombination von zweien dieser CLS-Komponenten vorlag. Dabei war aber keiner der Einzelfaktoren des CLS-Wertes mit der Demenz-Inzidenz assoziiert. Eine gute Ausbildung allein reicht also nicht aus, um das Risiko von Demenz zu verringern, sondern muss dafür erst durch ein aktives Merkmal ergänzt werden. Die Daten weisen darauf hin, dass für den protektiven Effekt des kognitiven Lebensstils vor allem eine längere Dauer der Ausbildung und die sowohl im mittleren als auch im höheren Alter anhaltenden stimulierenden sozialen Erfahrungen notwendig sind. Für die Wirkung eines hohen CLS-Wertes auf die Überlebenschance nach einer Demenz-Diagnose gibt es keine Evidenz.

In einer zweiten neurophysiologischen und -pathologischen Untersuchung wurde mittels einer Autopsie in verschiedenen Regionen (z.B. Hippocampus, Brodmann Aera 9) der Gehirne der bis August 2004 verstorbenen StudienteilnehmerInnen gründlich nach einer Reihe bekannter demenzspezifischen physiologischen Veränderungen gesucht. Die Verstorbenen mit hohem CLS-Wert unterschieden sich bei zahlreichen neuropathologischen Anzeichen für die Alzheimer-Erkrankung, also ihrer Pathogenität, nicht von Personen mit niedrigem CLS-Wert. Wenn also StudienteilnehmerInnen an Alzheimer erkrankten, unterschieden sich die Krankheitszeichen zwischen den Personen mit hohem oder niedrigem CLS-Wert nicht.
Ebenfalls keine CLS-spezifischen neuroprotektiven Effekte gab es für die neuronale Dichte im Hippocampus-Bereich - einem Wert, der bei Demenzkranken niedrig ist. Anders sieht es dagegen bei der neuronalen Dichte in anderen Hirnteilen, wie der Brodmann Aera 9, aus. Hier sind die protektiv relevante Dichte und einige weitere physiologischen Charakteristika bei den kognitiv aktiven Personen signifikant höher.
Die WissenschaftlerInnen untersuchten außerdem noch die Assoziation von aktivem kognitiven Lebensstil und dem Auftreten einer Reihe cerebrovaskulärer Erkrankungen bzw. Verletzungen und stießen auf ein paradoxes Geschehen. Diese Art von Lebensstil sorgte bei Männern auch nach einer Reihe von Adjustierungen nach Alter, Demenzstatus etc. für eine Reduktion dieser Risiken um 80%. Bei Frauen traten derartige Assoziationen dagegen überhaupt nicht auf. Genau umgekehrt sah es beim Hirngewicht aus: Hier hatten von den kognitiv aktiven Frauen 46% ein überdurchschnittliches Hirngewicht, von ihren kognitiv weniger aktiven Geschlechtsgenossinnen dagegen nur 20%. Der Unterschied war statistisch signifikant. Diese Art von Beziehung zwischen aktivem kognitiven Lebensstil und hirnphysiologischen Detail konnte bei Männern nicht beobachtet werden.

Schließlich bestimmten die WissenschaftlerInnen noch in einer multivariaten Analyse die "Chance" zum Todeszeitpunkt an Demenz zu leiden in Abhängigkeit von einer Reihe neuropathologischer Veränderungen und vom Niveau des kognitiven Lebensstils. Bei kognitiv aktiven Männern zeigte sich auch nach Berücksichtigung aller physiologischen Veränderungen eine um 80% geringere Demenz-"Chance" als bei Männern mit einem niedrigen CLS-Wert. Bei Frauen zeigte sich dieser Zusammenhang nicht.

Auch wenn die beschriebenen Wirkungs-Paradoxien zwischen Männern und Frauen und die hirnregional unterschiedliche Neuroprotektivität zunächst einmal unerklärt bleiben, liefert diese Studie drei wichtige Hinweise für die weitere Debatte und Forschung:

• Erstens bestätigt sie, dass es in einem quantitativ erheblichen Umfang möglich ist, das Risiko von Demenzerkrankungen durch soziale präventive Interventionen zu verringern oder den Eintritt der Erkrankung zu verschieben.
• Zweitens gibt es offensichtlich einen komplexen Zusammenhang zwischen neurobiologischen Dynamiken und sozial determinierten kognitiven Aktivitäten.
• Drittens ist die komplementäre Nutzung beider Sichtweisen machbar und auch für die Entwicklung und Überprüfung präventiver kognitiver Lebensstilprogramme für Demenzerkrankungen fruchtbar.

Die Ergebnisse der Studie finden sich in zwei Publikationen:

Valenzuela M, Brayne C, Sachdev P, Wilcock G, Matthews F. (2011): Cognitive lifestyle and long-term risk of dementia and survival after diagnosis in a multicenter population-based cohort, In: American Journal of Epidemiology; 173(9):1004-12. Das Abstract des Aufsatzes ist kostenlos erhältlich.
Valenzuela MJ et al. (2012): Multiple biological pathways link cognitive lifestyle to protection from dementia. In: Biological Psychiatry; 71:783. Das Abstract des Aufsatzes ebenfalls kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 9.9.12


Alter allein erklärt nicht die Anzahl depressiver Symptome als einem Indikator für seelische Gesundheit.

Artikel 2070 Das Alter allein besitzt keine Erklärungskraft für die Häufigkeit von depressiven Symptomen oder Erkrankungen, die eine schwere Belastung der Gesundheits- und Lebensqualität älterer Menschen darstellen.
Dies ist das zentrale Ergebnis einer Analyse von Daten aus der ersten Welle des SHARE-Projekts (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) von 28.538 repräsentativen Personen im Alter zwischen 50 und 89 Jahren mit depressiven Symptomen (gemessen mit der so genannten EURO-D-Skala) aus elf europäischen Länder sowie Israel. Im SHARE-Projekt werden im Längsschnitt nicht nur Alters- und Krankheitsdaten erhoben, sondern auch eine Fülle soziodemografischer Daten sowie Angaben zur wirtschaftlichen Situation und den Lebensarrangements der TeilnehmerInnen.

Ein Literaturreview zeigt, dass die empirischen Befunde zu den Effekten des Alters auf depressive Symptome gemischt sind und von positiven über keine bis hin zu negativen Effekten reichen.
Die SHARE-Ergebnisse zeigen zunächst, dass die Anzahl depressiver Symptome mit dem Alter steigen und bei den Frauen höher als bei den Männern ausfällt. So steigt die durchschnittliche Anzahl von depressiven Symptomen bei Männern von 1,72 im Alter von 50-54 Jahren auf 2,63 bei den 85-89-Jährigen. Bei den Frauen steigt die Anzahl der Symptome von 2,57 auf 3,46 Symptome.

Wenn man die soziodemografischen Merkmale, die Indikatoren des Gesundheitszustands (z.B. Behinderungen, chronische Erkrankungen und geistige Fähigkeiten), die Lebensstile und die wirtschaftliche Belas-tungen in multivariate Analysen einbezieht, hebt sich der Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen und Alter in den meisten Modellen bei den Männern auf und kehrt sich bei den Frauen sogar um. Nicht das präventiv unbeeinflussbare Alter alleine, sondern erst das Wechselspiel der in Maßen beeinflussbaren Ausprägungen des körperlichen und kognitiven Gesundheitszustands und die individuellen Lebensumstände von Senioren mit dem Alter, sind mit dem Auftreten und dem Niveau der depressiven Symptome assoziiert. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass Faktoren wie die soziale Unterstützung, die Arbeitsbedingungen und die Art des Übergangs in die Nichtarbeitsphase im SHARE-Projekt bisher nicht erhoben werden, sehr wohl aber weitere Vermittlungsglieder zwischen Alter und Depressivität sein können.

Der Aufsatz "Der Zusammenhang zwischen Alter und depressiven Symptomen bei Männern und Frauen höheren Lebensalters in Europa. Erkenntnisse aus dem SHARE-Projekt"
von Isabella Buber und Henriette Engelhardt ist im Mai 2011 in den "Comparative Population Studies - Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft" erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 28.1.12


"Ja, wo explodieren sie denn?" - Cui bono oder Grenzen der Anbieter- "Epidemiologie" von Übergewicht und psychischen Krankheiten

Artikel 2067 Egal, ob es um die Entwicklung von alten, neuen, somatischen oder psychischen Krankheiten geht: Unterhalb von "Explosion" oder Epi-/Pandemie scheint es keine Entwicklungsdynamik mehr zu geben. Die maßgeblichen Propagandisten und schlussendlich auch Nutznießer dieser "Explosionen" sind die Angehörigen einer Allianz von traditionellen aber auch alternativen Therapeuten, Herstellern der passenden Arzneimittel, Berichterstattungs- und Präventionsexperten, Weiterbildungsanbietern und einem stetig wachsenden Heer von Gesundheitswirtschaftsbetreibern, denen verständlicherweise eine 100-Prozent-Prävalenz am liebsten wäre. Dass dieser Zustand weder neu noch seine kritische Charakterisierung besonders böswillig ist, zeigen zwei etwas ältere kritische Anmerkungen zu den damaligen Ausdrucksformen dieser Art anbieter- oder angebotsinduzierten Epidemiologie.

Der Medizinhistoriker Roy Porter, spricht gegen Ende seiner großen Geschichte des Heilens davon, dass ein "wachsendes medizinisches Establishment angesichts einer immer gesünderen Bevölkerung dazu getrieben wird …, normale Ereignisse wie die Menopause zu medikalisieren, Risiken zu Krankheiten zu machen und einfache Beschwerden mit ausgefallenen Prozeduren zu behandeln. Ärzte und 'Konsumenten' erliegen zunehmend der Vorstellung, dass jeder irgendetwas hat, dass jeder und alles behandelt werden kann." (Porter, R. [2000]: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Heidelberg: 717)

Die mindestens bereits vor rund 10 Jahren gestartete Springflut psychischer Erkrankungen kommentierte der angesehene Psychiater Klaus Dörner 2002 im "Deutschen Ärzteblatt" so: "Der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um "gesund leben" zu können. … Das Sinnesorgan Angst, zuständig für die Signalisierung noch unklarer Bedrohungen, ist zwar unangenehm, jedoch vital notwendig und daher kerngesund; nur am falschen Umgang mit Angst (zum Beispiel Abwehr, Verdrängung) kann man erkranken. In den 70er- und 80er-Jahren jedoch hat man die Angst als Marktnische erkannt und etliche neue, selbstständige Krankheitseinheiten konstruiert - mit vielen wunderbaren Heilungsmöglichkeiten für die dafür dankbaren Patienten. … Nach dem Erfurter Amoklauf blieb einer Schülerin die Äußerung vorbehalten, das Schrecklichste seien eigentlich die Psychologen gewesen, die das Alleinsein mit sich selbst und/oder mit Freunden/Angehörigen mit den raffiniertesten Tricks zu verhindern versucht hätten." (Dörner Klaus (2002): Gesundheitssystem in der Fortschrittsfalle. In: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2462-2466 [Heft 38])

Zu den jüngsten besonders "dramatisch" "explodierenden Krankheiten" gehören das Übergewicht und die Fettsüchtigkeit sowie die psychischen Erkrankungen.

Zwei Längsschnittanalysen aus den USA und mehreren europäischen Ländern zeigen aber für beide Krankheitskomplexe für unterschiedlich lange Zeiträume vor der Gegenwart eher stagnative oder sogar leicht implodierende Tendenzen.

Drei Wissenschaftlerinnen der US-"Centers for Disease Control and Prevention" haben die Entwicklung der Prävalenz von Übergewichtigkeit und des Body Mass Index bei us-amerikanischen Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen für die Jahre 1999 bis 2010 mit den Daten des "National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES)" genauer untersucht.

Sie kommen dabei zu folgenden Ergebnissen:

• Nach einer kräftigen Zunahme der Prävalenz von Übergewichtigkeit bei Kindern in den 1980er und 1990er Jahren gab es zwischen 1999/2000 und 2007/2008 keinen signifikanten weiteren Anstieg. Von allen Kindern und Heranwachsenden zwischen 2 und 19 Jahren waren in beiden Jahreszeiträumen 16,9% übergewichtig oder fettleibig. Bei der Betrachtung von Untergruppen zeigen sich aber bei männlichen Kindern und Heranwachsenden sowohl bei der Veränderung der Übergewichtigkeit als auch des Body Mass Index (BMI) leichte aber statistisch signifikante Zunahmen - nirgends aber für Mädchen und junge Frauen.
• Die alters- und ethno-adjustierte Prävalenz von Übergewichtigkeit und Fettleibigkeit hat sich 2009/2010 mit 35,5% bei erwachsenen Männern und 35,8% bei erwachsenen Frauen nicht signifikant gegenüber 1999 verändert. Damals betrugen die Prävalenzwerte 35,7% und ebenfalls 35,8%. Ähnlich sah es bei der Entwicklung des BMI aus. Auch hier wichen aber Untergruppen vom Gesamttrend ab. So nahm die Übergewichtigkeit bei nicht-hispanischen schwarzen Frauen und mexikostämmigen AmerikanerInnen signifikant zu.

Eine internationale Forschergruppe um den Dresdener Psychiater Hans Ulrich Wittchen hat sich 2005 und 2010 u.a. mit der Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung der EU-27-Länder, der Schweiz, Islands und Norwegens beschäftigt.

Zu den Hauptergebnissen im Jahr 2010 gehört, dass etwas mehr als jeder dritte EU-Bürger mindestens einmal in einem Jahr an einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung leidet. Die häufigsten Erkrankungsformen sind Angststörungen (14,0 % der Gesamtbevölkerung), Schlafstörungen (7,0 %), unipolare Depressionen (6,9 %), psychosomatische Erkrankungen (6,3 %), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (> 4 %), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (5 % aller Kinder und Jugendlichen), und Demenzen (1 % bei 60-65 Jährigen bis 30 % bei Personen über 85 Jahren.
Depressionen, Demenzen, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall sind zusammen für 26,6 % der gesellschaftlichen Gesamtbelastung durch Krankheiten in der EU verantwortlich. Dabei beschäftigen sich die ForscherInnen nicht mit den u.a. von Dörner geäußerten Zweifeln am Krankheitswert mancher Angststörung etc.
Die ForscherInnengruppe stellt in beiden Jahren fest, dass höchstens ein Drittel aller Betroffenen in der EU irgendeine Form professioneller Aufmerksamkeit oder eine Therapie erhalte. Zur verbreiteten Unterversorgung gehört auch, dass eine Behandlung meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn beginnt und oft nicht den minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie entspricht.

Bei der Prävalenz sieht es beim Zeitvergleich zunächst nach einer kräftigen Zunahme aus: 2005 wurde sie auf 27,4 % und 2010/11 auf 38,2 % geschätzt. Doch bereits im Satz und Abschnitt nach dieser Schätzung rücken die ForscherInnen den Sachverhalt doppelt zurecht: "The 2005 report estimate was based on a restricted number of 13 diagnostic groups, restricted to age groups 18-65, and highlighted to be an extremely conservative estimate. The present report adds a total of 14 additional diagnoses, now more appropriately reflecting the true size of mental disorders across all age groups. No indications were found for increasing or decreasing rates of mental disorders from 2005 to 2011 when exactly the same diagnoses are considered (27.4% in 2005 vs. 27.1% in 2011). Thus, the apparent increase in prevalence is entirely due to including additional diagnoses." (668)

Auch hier zeigen sich also bei allem Ernst der Unterdiagnostik, Fehl- oder Unterversorgung von psychisch Kranken in praktisch allen EU-Ländern keine Anzeichen für eine stattgefundene oder sich hörbar ankündigende "Explosion" der Prävalenz psychischer Erkrankungen.

Allen in ihrer Performanz vergleichbaren Behauptungen oder "plausiblen" Annahmen über die Entwicklung anderer Krankheiten sollte nach diesen beiden Großbeispielen grundsätzlich mit Skepsis und Zweifeln begegnet werden - bis methodisch anspruchsvolle empirische Belege vorliegen. Zusätzlich verdient die kritische Auseinandersetzung mit Behauptungen, deren Härte lediglich durch die gebetsmühlenartige Wiederholung durch die unterschiedlichen, massiv interessierten aber zum Teil durchaus ehrenhaften Angehörigen der oben genannten Allianz mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Eine Langfassung des Aufsatzes "Prevalence of Obesity and Trends in Body Mass Index Among US Children and Adolescents, 1999-2010" von Ogden CL, Carroll MD, Kit BK und Flegal KM ist im Onlinebereich des "Journal of the American Medical Association (JAMA)" am 17. Januar 2012 veröffentlicht und bisher kostenlos erhältlich.
Dies gilt auch für den Aufsatz "Prevalence of Obesity and Trends in the Distribution of Body Mass Index Among US Adults, 1999-2010" derselben Autorinnen.

Der ECNP/EBC REPORT 2011 "The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010" von H.U. Wittchen et al. ist in der Fachzeitschrift "European Neuropsychopharmacology" (2011 [21]: 655-679) erschienen und komplett kostenlos über die Website der TU-Dresden erhältlich.

Bernard Braun, 24.1.12


Ambulant oder teilstationär vor vollstationär - gilt dies auch für die Behandlung von Menschen mit akut-psychiatrischen Störungen?

Artikel 2063 Wegen der häufig längeren Behandlungsdauer akuter psychiatrischer Störungen und wegen des Risikos einer zusätzlichen psychischen Belastung der PatientInnen durch Hospitalisierung gibt es verbreitete Kritik an den Kosten und des lebensqualitätsbezogenen Nachteile ihrer stationären Behandlung. Als einer der kräftigsten Nachteile gilt die zu lange Abschottung gegenüber den alltäglichen sozialen Bedingungen, die zwar zum Teil Ursache der psychischen Störung sind, aber Heilung ohne den produktiven Umgang mit ihnen aber schwierig ist. Als Alternative wird immer wieder eine Behandlung in Tageskliniken als einer Form der nur partiellen Hospitalisierung diskutiert und erprobt. Ob dies wirklich die erwarteten Vorteile hat oder gar schadet untersucht ein im Dezember 2011 veröffentlichter systematischer Cochrane-Review von zehn randomisierten kontrollierten Studien mit an akuten psychiatrischen Störungen leidenden 2.685 TeilnehmerInnen im Alter von 18 bis 65 Jahren. Ausgeschlossen waren nicht nur Studien mit TeilnehmerInnen in dem genannten Alter, sondern auch solche Studien, deren TeilnehmerInnen wegen eines Substanzmissbrauchs oder einer hirnorganischen Störung in Behandlung waren.

Die wesentlichen Ergebnisse des Reviews waren auf der Basis von jeweils unterschiedlich vielen und uzmfangreichen RCTs:

• Zwischen der stationären und Tagesklinik-Population gab es ein Jahr nach Beginn der Intervention keinen Unterschied beim Verlust von TeilnehmerInnen.
• TagesklinikpatientInnen brauchen signifikant mehr Behandlungstage als vollstationär behandelte PatientInnen.
• Es gibt keinen signifikanten Unterschied beim Risiko der Wiedereinweisung in eine erneute stationäre oder Tagesklinikbehandlung. Beim Vergleich dieses wichtigen Indikators für Egebnisqualität bei Tagesklinikpatienten gegenüber Patienten mit einem radikalen stationären Kriseninterventionsansatz zeigt sich allerdings ein deutlicher Nachteil der Tagesklinikbehandlung.
• Weder bei dem Risiko nach Beendigung der Behandlung arbeitslos zu sein/werden, der Lebensqualität noch bei der Zufriedenheit mit der Behandlung gibt es nennenswerte Unterschiede zwischen den TeilnehmerInnen der beiden Behandlungsformen.
• Dies bedeutet nicht, dass alle PatientInnen eigentlich in Tageskliniken behandelt werden könnten. Wenigstens 20% (dieser Wert schwankt je nach Studie zwischen 18,4% und 39,1%) der bisher stationär eingewiesenen PatientInnen könnten aber, so die Cochrane-Reviewer, nach der Studienlage in einer akut ausgerichteten Tagesklinik behandelt werden. Und wörtlich: "Day hospitals are a less restrictive alternative to inpatient admission for people who are acutely and severely mentally ill."

Angesichts der längeren Behandlungsdauer in Tageskliniken relativieren die Reviewer ihre Bewertung aber selber und machen sie letztendlich von weiteren Daten über die Kosteneffektivität der Tagesklinikbehandlung abhängig.

Eine elementare Frage, die von Praktikern der psychiatrischen Behandlung aufgeworfen wird, ist, ob RCTs die allein angemessene und aussagekräftige Methodik sind, um den Nutzen der unterschiedlichen Möglichkeiten der Behandlung psychisch Kranker ermitteln und bewerten zu können. Sie machen darauf aufmerksam, dass psychisch Kranke wesentlich heterogenere Problemlagen aufweisen und unterschiedlicher Lösungswege und Behandlungsmethoden bedürfen als somatisch Kranke, bei denen z.B. der Nutzen unterschiedlicher medikamentöser Behandlungen in RCTs untersucht wird. Wie aber die unterschiedlichen Bedürfnisse psychisch Kranker aussehen und wie Behandlungsformen aussehen müssen, die sich nicht bewusst oder unbewusst einer primär an Patienteninteressen orientierten Überprüfung ihres Nutzens oder ihrer Wirksamkeit entziehen, zeigen weder der Cochrane-Review noch die kritischen Stimmen über ihn. Darüber mehr zu wissen ist aber wahrscheinlich wichtiger als die Kostenfrage.

Der wie gewohnt umfangreiche Abstract zu dem Cochrane-Review (Cochrane Database Syst Rev. 2011, 7. Dezember) Day hospital versus admission for acute psychiatric disorders" von Marshall M, Crowther R, Sledge WH, et al. ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 17.1.12


"Baby blues". Nachgeburtliche Depression hat nicht selten nichts mit dem Baby zu tun, sondern mit gewalttätigen Partnern

Artikel 2048 In der medizinischen Enzyklopädie des Internetportals "Medline plus" ("Motto: Trusted Health Information for you"), einem Service der "U.S. National Library of Medicine" und"National Institutes of Health" der USA, steht als Erklärung zu der bei vielen jungen Müttern in den ersten Tagen bis Monaten nach der Geburt ihres Kindes auftretende nachgeburtliche Depression (postpartum depression) folgendes: "Researchers think that changes in your hormone levels during and after pregnancy may lead to postpartum depression. If you think you have it, tell your health care provider. Medicine and talk therapy can help you get well."
Dass eine Partnertherapie oder auch eine Trennung vom Kindesvater möglicherweise die bessere Lösung sein könnte, bleibt unerwähnt, obwohl mehrere Studien die körperliche, sexuelle und psychische Gewaltausübung der männlichen Partner als eine relativ häufige individuelle oder soziale Ursache der zum Teil schweren und langwierigen depressiven Erkrankung von jungen Müttern identifiziert haben.

Bereits 2010 veröffentlichten brasilianische Wissenschaftler die Ergebnisse einer prospektiven Studie mit 1.045, überwiegend unteren sozialen Schichten angehörender 18 bis 49-jährigen Frauen aus dem Nordosten Brasilien, die sie von vor der Geburt bis zu acht Monaten nach der Geburt systematisch untersuchten bzw. interviewten. Von diesen Frauen gaben 26% an, an nachgeburtlichen depressiven Symptomen gelitten zu haben bzw. zu leiden. 31% berichteten über männliche Partner, die sich während der Schwangerschaft gewalttätig verhielten. Am häufigsten, nämlich bei 28% der Frauen, handelte es sich um psychische Gewalt (z.B. Beleidigungen, Verängstigungen, Demütigungen), 12% der Frauen berichteten über körperliche Gewalt und 6% über sexuelle Gewalt, die oft mit psychischer Gewalt verbunden war. Das Risiko für eine Depression nach der Geburt hatten besonders die Frauen, welche zugleich unter körperlicher und sexueller Gewalt plus psychischer Gewalt zu leiden hatten. Das Depressionsrisiko nahm stetig mit der Zunahme psychischer Gewalt zu: Von 18% bei den Frauen ohne die Erfahrung psychischer Gewalt oder psychischen Missbrauchs bis zu 63% bei jenen Frauen, die am stärksten psychisch misshandelt wurden. Die zentrale Bedeutung der psychischen Gewalt zeigt sich schließlich daran, dass selbst bei Abwesenheit körperlicher oder sexueller Gewalt und unter Ausschaltung möglicher Confounder (z.B. niedriges Bildungsniveau und geringe soziale Unterstützung) das Depressionsrisiko bei häufiger psychischer Gewalt signifikant ansteigt.
Die Autoren empfehlen daher allen, die mit "Baby blues"-Müttern zu tun haben, an die mögliche (Mit-)Verursachung durch Partnergewalt zu denken oder gezielt danach zu fragen und dann vor allem mehr Aufmerksamkeit auf die psychischen Misshandlungen zu richten.

Wer jetzt denkt, hier handle es sich um "exotische" brasilianische Verhältnisse, irrt. Die am 7. Dezember 2011 online veröffentlichten Ergebnisse einer prospektiven Studie mit 1.504 zum ersten Mal schwangeren Frauen im australischen Melbourne, fördert ähnliche Verhältnisse in einem großstädtischen Milieu des 5. Kontinents zutage. Die Frauen wurden zwischen der sechsten und vieruundzwanzigsten Schwangerschaftswoche in die Studie aufgenommen (zwischen April 2003 und Dezember 2005) und nach einer Startbefragung noch drei, sechs und zwölf Monate nach der Niederkunft mit einem Standardinstrument ("Edinburgh Postnatal Depression Scale") zu ihrer psychischen Verfassung unter besonderer Berücksichtigung des Auftretens schwerer depressiver Symptome befragt. Erfahrungen mit Partnergewalttätigkeit wurden mit der Kurzfassung der "Composite Abuse Scale" bewertet. Ergänzt wurde die Datensammlung durch eine Reihe soziodemografischer Merkmale der Teilnehmerinnen.

Die wichtigsten Ergebnisse sahen so aus:

• 16,1% der Frauen berichteten schwere depressive Symptome während aller 12 nachgeburtlichen Monate bzw. zu jedem der Erhebungszeitpunkte. 57,6% der Frauen erlebten dies erst nach dem dritten nachgeburtlichen Monat. Die Autoren ziehen daraus den praktischen Schluss, dass ein Screening zur Identifikation der Frauen mit nachgeburtlicher Depression, das sich auf die ersten drei Monate konzentrierte, einen großen Teil der insgesamt im ersten Lebensjahr ihres Kindes auftretenden Depressionen überhaupt nicht erkennen kann.
• 16,6% der befragten Frauen berichteten von irgendeiner Form von Misshandlung oder Gewalttätigkeit, die sie in den 12 Monaten nach der Entbindung erfahren hatten. Von diesen Frauen gaben 54,2% an, ausschließlich emotional missbraucht worden zu sein, 34,2% berichteten von emotionaler und physischen Misshandlungen und 13,4% "nur" von körperlicher Gewalt
• Rund 40% der Frauen, die bei jeder Follow-up-Befragung von depressiven Symptomen berichteten, wurden nach ihren Angaben von ihren Partnern in irgendeiner Weise misshandelt.
• In einer multivariaten Analyse des Einflusses ausgewählter Faktoren auf die Häufigkeit nachgeburtlicher Depression verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit bei emotionalem Missbrauch fast (adjustierte Risikorate odds ratio [OR] 2,72). Die Risikorate stieg bei körperlichen Misshandlungen auf 3,94, bei dem Auftreten von schweren depressiven Symptomen in der Schwangerschaft auf 2,89 und bei Arbeitslosigkeit in der frühen Shwangerschaft als einer Art sozialer Gewalt, auf 1,6.

Die australischen ForscherInnen unterstreichen, dass die Gewalt gegen werdende Mütter auch in Australien ein verbreitetes Phänomen ist und weisen ähnlich wie ihre brasilianischen KollegInnen darauf hin, dass sich die im Gesundheitsbereich Beschäftigten daran stets erinnern sollten.

Von dem "brasilianischen" Aufsatz "Violence against women by their intimate partner during pregnancy and postnatal depression: A prospective cohort study." von Ludermir AB et al., erschienen 2010 in der Fachzeitschrift "Lancet" (Vol. 376, 11. September 2010: 903-910), ist ein Abstract kostenlos erhältlich.

Von dem "australischen" Aufsatz "Depressive symptoms and intimate partner violence in the 12 months after childbirth: a prospective pregnancy cohort study" von H Woolhouse; D Gartland, K Hegarty, S Donath und SJ Brown (erschienen im internationalen "British Journal of Obstetrics and Gynaecology" am 7. Dezember 2011 online) ist ebenfalls nur ein Abstract kostenfrei erhältlich.

Bernard Braun, 11.12.11


Entsprechend qualifizierte Familienangehörige verringern das Risiko von Rückfällen bei depressiven Patienten beträchtlich!

Artikel 1983 Der positive Einfluss von mit entsprechenden Fertigkeiten ausgestatteten Familienmitgliedern auf die durch emotionalen Stress in der Familie verursachten Rückfälle bei an Schizophrenie erkrankten Angehörigen ist belegt. Und auch bei Personen mit bipolaren psychischen Störungen erwies sich die Psychoedukation der Familienangehörigen als geeignet, emotionallen Stress und Rückfälle zu verhindern oder stark zu verzögern. Umso verwunderlicher ist, dass vergleichbare Effekte bei den an einer großen Depression erkrankten Personen, also der relativ größten Gruppe psychisch Erkrankter, zwar für plausibel gehalten wurden, nicht aber methodisch hochwertig nachgewiesen wurden.

Eine kleine, gerade veröffentlichte randomisierte kontrollierte Studie mit 103 japanischen Teilnehmern zwischen 18 und 85 Jahren sowie mit der Diagnose einer "major depressive disorder" beendet diesen Zustand.

Sowohl die Teilnehmer in der Interventions- als auch die in der Kontrollgruppe erhielten die übliche medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung weiter. Die primären Partner der Erkrankten in der Interventionsgruppe besuchten zusätzlich vier so genannte psychoedukative Sitzungen, in denen zum einen gründlich über die Charakteristika und Symptome Depressionserkrankung aufgeklärt wurde. Hinzu kamen Gruppenübungen für problemlösendes Verhalten, die helfen sollten mit relativ einfachen Mitteln und Fertigkeiten hochemotional zugespitzte und stressvolle Interaktionen zu bewältigen. Patienten nahmen an diesen Kursen und Übungen nicht teil.
Der Gradmesser für die Wirksamkeit war das Auftreten von Rückfällen der Erkrankung.

Die wichtigsten Ergebnisse lauteten:

• Die Zeit bis zum Auftreten eines Rückfalls war in der Interventionsgruppe mit psychoedukativem Empowerment statistisch signifikant länger als in der Kontrollgruppe ohne derartigen Support der Familienmitglieder.
• Die Rückfallraten unterschieden sich nach 9 Monaten erheblich: Den 50% in der Normalgruppe standen 8% in der Interventionsgruppe mit psychoedukativ geschulten Familienangehörigen gegenüber (Risikorate 0,17 und numbers to treat 2,4).

Auch wenn die ForscherInnen selber u.a. auf das Problem der geringen Anzahl ihrer StudienteilnehmerInnen hinweisen, kann die Einbeziehung der Familien die Wirksamkeit der Therapie von depressiv Erkrankten beträchtlich erhöhen und sollte daher alternativ, substitutiv oder auch komplementär weiter verfolgt werden.

Von der Studie "Family psychoeducation for major depression: Randomised controlled trial" von Shimazu K et al., erschienen im British Journal of Psychiatry" (2011; 198: 385-390), gibt es lediglich das Abstract kostenlos.

Bernard Braun, 20.7.11


Hilft transzendentale Meditation bei der posttraumatischen Belastungsstörung von Ex-SoldatInnen oder sogar bei friedlichem Stress?

Artikel 1970 Schenkt man den jüngsten Durchhalteparolen des Bundesverteidigungsministers zum Krieg in Afghanistan Glauben, werden Soldaten der Bundeswehr dort noch für längere Zeit kämpfen, sterben oder immer häufiger mit einem so genannten posttraumatischen Stress-Syndrom bzw. einer Belastungsstörung (englische Abkürzung PTSD), d.h. einer schweren psychischen Störung in ihr bundesrepublikanisches Alltagsleben zurückkehren. Und wenn die in Deutschland von Freunden umzingelten Streitkräfte demnächst das Land noch an weiteren Pässen, Wadis oder Wasserstraßen verteidigen, werden sich auch die unerwünschten psychischen Folgen noch häufen.

Auch wenn sich die Bundeswehr mittlerweile systematischer um die psychische Betreuung und Behandlung ihrer Ex-SoldatInnen kümmert, kann sie eventuell davon lernen wie die kriegserfahrenen und daher schon seit Jahrzehnten auch in psychischer Hinsicht zahlreicher schwer gesundheitlich geschädigten US-SoldatInnen behandelt werden.

Dass dabei auch die exotische und radikal unkriegerische Methode der transzendentalen Meditation zu positiven Wirkungen führen kann, zeigen die Ergebnisse einer kleinen experimentellen Reihe von Behandlungen, deren Resultate jetzt in der US-Fachzeitschrift "Military Medicine" veröffentlicht wurden.
Dabei ist zu beachten, dass die Belastungsstörung nach früheren Studien bei 14% des gesamten entlassenen US-Militärpersonals mit Kriegseinsätzen und sogar bei rund 44% des Militärpersonals auftritt, die leichte Kopfverletzungen davon getragen haben und heftige Kämpfe miterlebt haben.

Trotz des großen Bedarfs gab es bisher nur wenige Studien, die den Nachweis einer wirksamen Therapie erbrachten - darunter auch eine kleine randomisierte kontrollierte Studie mit Vietnamkriegs-Veteranen, welche die Wirksamkeit transzendentaler Meditation und Psychotherapie verglich. Eine andere sehr aufwändige Studie wies positive Wirkungen für ein Programm nach, in dem erkrankte Ex-SoldatInnen in einer sicheren Umgebung mit verschiedenen Formen von Bedrohungen konfrontiert wurden, was ihnen helfen sollte, ihre Ängste zu überwinden. Bereits 2007 stellte ein Bericht über die Behandlungsmöglichkeiten dieser psychischen Erkrankung fest, dass es dafür, dass andere pharmakologische oder psychotherapeutische Behandlungen wirksam oder nicht wirksam keine definitive Evidenz gibt.
In der jetzt veröffentlichten Studie erhielten fünf männliche Golf- und Afghanistanveteranen acht Wochen lanf zweimal täglich zwanzigminütige Trainingseinheiten mit transzendentaler Meditation. Die Teilnehmer konnten während der Laufzeit der Studie selber auswählen, wann sie die Therapie abbrachen und nutzen eine Spanne von 10 Monaten und zwei Jahren. Die Compliance lag bei den regelmäßigen Übungen bei mehr als 90%. Ein wahrscheinlicher Grund war, dass die TeilnehmerInnen nicht das Gefühl hatten durch den Besuch stigmatisiert zu werden.

Die Ergebnisse waren bereits nach acht Wochen bei allen Teilnehmern nachweisbar positiv:

• Auf einer Standardskala zur Messung des Status der Belastungsstörung, der so genannten "Clinician-Administered PTSD Scale (CAPS)", verbesserten sich die Werte statistisch signifikant um durchschnittlich 31,4 Punkte.
• zwei weitere Endpunkte für die Lebensqualität verbesserten sich ebenfalls signifikant.
• Allerdings zeigte sich bei zwei weiteren gemessenen Werten nicht bei allen Teilnehmern signifikante Effekte oder sogar in einem Fall negative.
• Alle fünf Männer sagten auch im Rahmen einer klinischen Untersuchung nach 12 Wochen, sie wollten wegen der durchweg positiven und angenehmen Umstände und Wirkungen der transzendentalen Meditation mit der Therapie weitermachen.

Trotz der natürlich sehr geringen Anzahl von Studienteilnehmern ist nicht auszuschließen, dass die leicht zu lernende, nebenwirkungsfreie und nur mit geringen Stigmatisierungsrisiken verbundene Meditationstechnik möglicherweise auch bei anderen gesundheitlich geschädigten oder traumatisierten Personen wirksam ist. Daher stellt sich zu Recht die auch von den ForscherInnen gestellte Frage, warum trotz Hunderten von Milliarden US-Dollar und Euros für Kriegszwecke nicht durch zusätzliche kontrollierte Studien die Wirksamkeit dieser und möglicher anderer Therapieformen untersucht wird.

Davon unbenommen bleibt bei allen noch so wirksamen Therapien, dass die Vermeidung von "Befreiungs"-Kriegen à la Vietnam und Irak sowie angebliche Anti-Terror-Kriege à la Afghanistan die beste Methode ist, Leid von den BewohnerInnen der Kriegsschauplätze und den SoldatInnen fernzuhalten.

Von dem Aufsatz Effects of transcendental meditation (TM) in veterans of Operating Enduring Freedom (OEF) and Operation Iraqi Freedom (OIF) with posttraumatic stress disorder (PTSD): a pilot study von Rosenthal et al., erschienen in der Fachzeitschrift "Military Medicine" (2011; 176; 6: 626-630), ist lediglich das Abstract kostenlos erhältlich.Etwas ausführlichere Informationen über die Rosenthal-Studie und mehrere Links zu weiteren Studien und Reports über die Langfristopfer unter den US-SoldatInnen findet sich kostenlos auf einer speziellen Website.

Aber auch für Nicht-ExsoldatInnen, die an u.a. durch Stress verursachten Herzerkrankungen leiden, könnte transzendentale Meditation eine hilfreiche Behandlungsmethode sein. Dies hätte man jedenfalls beinahe in einem Aufsatz in der renommierten US-Fachzeitschrift "Archives of Internal Medicine" nachlesen können, wenn dieser am 27. Juni 2011 online veröffentlicht und nicht 12 Minuten vor der Freigabe von der Zeitschrift selber in eine weitere Warteschleife geschickt worden wäre.

Kernergebnis des Aufsatzes war, dass im Vergleich zweier Gruppen von insgesamt 201 US-Amerikanern schwarzer Hautfarbe die Gruppe, deren koronaren Herzbeschwerden mit Methoden der TM und nicht mit konventioneller Gesundheitserziehung behandelt wurden, nach einer Reihe von Standardisierungen verschiedenster Merkmale ein um die Hälfte geringeres Gesamtrisiko hatte zu sterben oder einen nichttödlichen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden (Risikorate 0.53 [95% CI 0.30 to 0.95, P=0.03]). Trotzdem gab es nach Meinung der Herausgeber der Zeitschrift neue, bisher nicht berücksichtigte Daten, die vor einer Publikation ausgewertet werden sollten. Wer also demnächst auf der Basis einer kontrollierten Studie noch Genaueres über die Wirksamkeit von TM wissen will, sollte auf künftige Ausgaben dieser Fachzeitschrift genau achten.

Wer noch etwas mehr über den seltenen Vorgang der vorübergehenden Nichtveröffentlichung eines wissenschaftlichen Aufsatzes erfahren will, findet dies kostenfrei auf der generell empfehlenswerten Website Medpage today vom 28. Juni 2011 noch etwas genauer.

Bernard Braun, 1.7.11


Nichtwissen gilt nicht: Modell der künftigen Versorgungsberichterstattung des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Thema "Depression"

Artikel 1946 Für die weiteren Debatten und Entscheidungen über die Über-, Unter- und Fehlversorgung sowie über Qualitätssicherung im deutschen Gesundheitsversorgungssystem bedarf es qualitativ hochwertiger Analysen zur Epidemiologie und zum tatsächlichen Versorgungsgeschehen.
Wie so etwas aussehen könnte, wie hilfreich die Ergebnisse sind und welchen Aufwandes es dazu bedarf, ließ der Gemeinsame Bundesausschuss am Beispiel der Depression erarbeiten. Das Ergebnis ist ein jüngst veröffentlichter Abschlussbericht, der den hiesigen Versorgungsstatus darstellt.

Zu der aufwändig entwickelten Methodik bemerkt der Leiter der Autorengruppe, Mathias Perleth: "Damit Verbesserungspotenziale in der Versorgung, also mögliche Handlungsfelder für den G-BA, identifiziert werden können, besteht das entscheidende Kernelement des Konzepts im Abgleich von empfohlener und tatsächlich beobachteter Versorgung, der so genannte Soll-Ist-Vergleich". Dieser Vergleich stützt sich zum einen auf die generierten Daten aus einer umfangreichen Recherche der wissenschaftlichen Literatur der letzten 10 Jahre. Darüber hinaus nutzten die AutorInnen Datenauswertungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) hinsichtlich ambulanter Psychotherapie zur Verfügung. Ergänzt wird die Informationsbasis noch durch Expertenmaterialien und -Statements.

Die wichtigsten Ergebnisse sind:

Prävalenz: "Es konnten sechs Studien identifiziert werden, welche die Prävalenz depressiver Störungen bei Patienten von Haus- oder Allgemeinarztpraxen untersucht haben. Trotz dieser methodischen Unterschiede kommen die Studien zu ähnlichen Angaben hinsichtlich der Häufigkeit depressiver Störungen (8,6%-11,3%). … Die Frage, ob depressive Störungen in Deutschland zunehmen, kann anhand der derzeitigen Studienlage kaum beantwortet werden." Hier bekommt also der seit Jahren anhaltende und schon immer sachlich fragwürdige Hype einer plötzlichen Epidemie der Depression einen deutlichen Dämpfer.
Versorgungsqualität beim Hausarzt, der am häufigsten mit depressiven PatientInnen zu tun hat: "Nach den berücksichtigten Studien werden 40% bis 75% der Patienten mit depressiven Störungen in der hausärztlichen Versorgung entsprechend diagnostiziert, 12% bis 18% der Patienten wurden fälschlich als an einer depressiven Störung leidend diagnostiziert. … Auch in den anderen Studien, die den Schweregrad depressiver Störungen nach den strengeren DSM-IV-Kriterien klassifizieren, liegt die Sensitivität hausärztlicher Diagnosen lediglich im Bereich von 40% bis 50%."
"Die vorliegenden Studien weisen somit insbesondere auf eine Untererkennung depressiver Störungen im hausärztlichen Bereich hin, aber auch auf eine Fehldiagnostik (inklusive falsch positiver Befunde)."
• Die wesentlichen Gründen der schlechten Versorgungsqualität bei einer Depression liegen in der nachgewiesenen mangelhaften Anwendung der Leitlinien und einer alles in allem mangelhaften Kompetenz der Hausärzte für die Versorgung depressiv Erkrankter. Als Gründe für ein solches Verhalten nennen die Hausärzte das Arzneimittelbudget, Zeitmangel und eine schlechte Honorierung. Nur ein kleiner Teil der depressiven PatientInnen erhält so eine leitliniengerechte Medikation, wozu z.B. eine medikamentöse Rezidivprophlaxe gehört.
• Zu den Mängeln der Behandlungsqualität gehört schließlich auch die Zahl von 35% ambulant behandelter Personen, die sich nicht therapietreu verhielten. Dies ist am häufigsten die Folge unzulänglicher Aufklärung der Patienten durch ihren Arzt.
• "Es ist noch einmal zu unterstreichen, dass die Datenlage als lückenhaft, methodisch häufig wenig zuverlässig und auch in erheblichen Teilen vermutlich inzwischen veraltet ist."

Der methodisch wie speziell für die gründliche inhaltliche Information über die Behandlung der Depression und der daran erkrankten Personen gedachte ertragreiche 342 Seiten-Abschlussbericht zum "Modellprojekt Verfahren zur verbesserten Versorgungsorientierung am Beispielthema Depression" stammt von der AG Versorgungsorientierung / Priorisierung des Gemeinsamen Bundesausschusses und steht seit dem März 2011 kostenlos zur Verfügung.

Wer sich jetzt fragt, warum dieser Bericht nicht intensiv von den verantwortlichen Akteuren des Gesundheitswesens diskutiert und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird, findet wichtige Hinweise in der jüngsten Ausgabe von "Gerechte Gesundheit. Der Newsletter zur Verteilungsdebatte". Dort heißt es unter der Überschrift "G-BA erprobt Priorisierung Versorgung in den Mittelpunkt stellen statt nach Willkürprinzip verfahren": "Das Modellprojekt ist in die Unterausschüsse verwiesen worden. Erste Meinungsäußerungen zeigen
aber schon deutlich, wohin die Reise geht. Die Kostenträger können
sich mit der Ausrichtung auf Versorgungsnotwendigkeiten nicht anfreunden, ebenso die Patientenvertreter. Die Leistungserbringer
hingegen geben allesamt ein klares Votum für den Versorgungsansatz
ab. Die Kassenbank beklagt vor allem die Ressourcen, die für die
Erstellung dieser Analyse notwendig waren und zukünftig würden."

Bevor diese Art von entscheidungsrelevanter Versorgungsberichterstattung aus "Kostengründen" nicht weiter aus den Startlöchern kommt, sollten sich die Genannten nur einmal die Unsummen und das Leid von PatientInnen vor Augen führen, die solches Nichthandeln in Sachen Über- und Fehlversorgung kosten.

Der auch sonst (aktuelles Thema Priorisierung) lesenswerte und abonnierbare Newsletter Gerechte Gesundheit ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 23.5.11


Unterversorgung: Schwierigkeiten beim Zugang zur ambulanten psychotherapeutischen Behandlung nicht unerheblich!

Artikel 1919 Egal ob es sich bei der der in vielen Krankenkassen-Gesundheitsberichten berichteten Zunahme der Häufigkeit psychischer Erkrankungen um eine Erhöhung der wirklichen oder berichteten Inzidenz handelt, besteht ein eher wachsender Bedarf expliziter psychotherapeutischer Behandlung.
Insofern verdient die an der Universität Duisburg-Essen durchgeführte Erhebung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung besondere Beachtung. Sie beruht auf einer im Januar 2010 durchgeführten schriftlich standardisierten Befragung von insgesamt 7.508 Mitgliedern der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung an der mit einer Erinnerung 33,4 % der Angeschriebenen teilnahmen.

Die wesentlichen Ergebnisse lauten:

• Die berichteten Wartezeiten auf ein erstes Gespräch mit einem Psychotherapeuten von durchschnittlich mehr als 2 Monaten deuten auf eine allgemeine Unterversorgung hin. Nur knapp drei Prozent der 2.500 befragten Psychotherapeuten können aber sofort einen Therapieplatz anbieten. Etwa 52 Prozent aller Psychotherapeuten führen eine Warteliste.
• Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Patienten, für die das Höchstkontingent an Richtlinienpsychotherapie nicht ausreichend ist.
• Es gibt deutliche Hinweise auf Versorgungsunterschiede mit ambulanter Psychotherapie zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Regionen unterschiedlicher Siedlungsdichte zugunsten der Großstadt.
• Psychische Störungen werden in unterschiedlichen demographischen Gruppen unterschiedlich im Rahmen ambulanter Psychotherapien versorgt. Besonders in Bezug auf ältere Menschen über 65 Jahren und auf Männer lässt sich aus den Studienergebnissen im Vergleich mit epidemiologischen Daten eine deutliche Unterversorgung mit Psychotherapie vermuten. Die größte Gruppe der Patienten stellen die 41- bis 50-Jährigen dar. Bei den Männern waren es knapp 29 Prozent, bei den Frauen 27 Prozent. Patienten zwischen 60 und 90 Jahren bilden dagegen eine Minderheit (null bis fünf Prozent). Die möglichen geschlechts-, alters- und kohortenspezifischen Zugangshemmnisse sollten genauer untersucht und eventuell Zuweisungswege an spezifische Hemmschwellen angepasst werden. Hier erscheint insbesondere die Fortbildung der Hausärzte über psychische Erkrankungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten wichtig.
• Obwohl niedrigere soziale Schichten aus epidemiologischer Sicht anteilig stärker von psychischen Erkrankungen betroffen sind, schlägt sich dies in der Versorgung mit psychotherapeutischen Leistungen nicht entsprechend nieder; im Gegenteil ist ihr Anteil an den Patienten unterdurchschnittlich. Die meisten der Patienten haben einen Realschulabschluss (32,1 Prozent). 24,5 Prozent verfügten über Abitur oder Fachhochschulreife und 19,1 Prozent haben ein Studium abgeschlossen. Der Anteil der PatientInnen mit Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss beträgt lediglich 19,8 Prozent bzw. 3,4 Prozent. Auch hier gibt die Erhebung keine Hinweise auf mögliche organisatorische, mentale oder kognitive Zugangsbarrieren.
• In den nächsten 15 Jahren ist ein starker Ersatzbedarf an Psychotherapeuten zu erwarten.
• Zuweisungswege zur Psychotherapie laufen nur bei etwa der Hälfte der behandelten Patienten über das medizinische System. Damit könnte der Zugang zu dieser Versorgungsform ausgerechnet für die schwächsten und antriebslosesten PatientInnen besonders schwer sein. Verbessertes Wissen um psychische Erkrankungen besonders bei Hausärzten und eine Stärkung der Kooperation zwischen Psychotherapeuten und Ärzten könnten zur Verbesserung des Zugangs zur Psychotherapie für alle Betroffenen beitragen.
• Die Teilnahme der Psychotherapeuten an besonderen Versorgungsformen ist noch gering und stark abhängig von regionalen Initiativen z.B. von einzelnen KVen. Hier könnte auch ein Potential für eine bessere Zusammenarbeit mit dem medizinischen Modell liegen.

Leider führt die gewählte Methode dazu, dass die Darstellung der Versorgungssituation ausschließlich durch die möglicherweise professionell deformierten Wahrnehmungen und Erfahrungen der Psychotherapeuten bestimmt wird und nicht aus Sicht der ja überwiegend befragbaren PatientInnen erfolgt oder zumindest ergänzt wird. Die AutorInnen räumen selber ein, dass ihr Versuch, patientenbezogene Fragen von den Psychotherapeuten beantworten zu lassen oder Patientensichten aus Behandlungsdokumenten zu rekonstruieren nicht ertragreich war bzw. zu verzerrten Ergebnissen führte. Unverständlich bleibt dies, weil eine entsprechend differenzierte Befragung von NutzerInnen und NichtnutzerInnen psychotherapeutischer Versorgung nach aller Erfahrung möglich ist und bereits jetzt eine Menge Informationen über die verschiedenen Zugangshemmnisse oder die unter PatientInnen kursierenden Fehlannahmen über die Art und die sozialen Folgen einer psychotherapeutischen Behandlung geliefert hätte.

Die 162-Seiten des Berichtes über die "Erhebung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung 2010" von Anke Walendzik, Cornelia Rabe-Menssen, Gerald Lux, Jürgen Wasem und Rebecca Jahn sind komplett und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 9.3.11


Ein Fall von Über- und Fehlversorgung: Antidepressiva haben bei "minor depression" keinen größeren Nutzen als Placebos!

Artikel 1893 Je nach definitorischer Abgrenzung leiden 2,5 % bis 9,9 % der Bevölkerung und 5 % bis 16 % der primärärztlich versorgten Personen an einer so genannten "minor depression". Dabei handelt es sich um eine in bestimmten Zeitintervallen wiederkehrende aber dann nur kurz anhaltende depressive Störung und entsprechend manische und depressive Episoden kurzer Dauer. Die Erkrankung führt zu psychischem Leiden, einer signifikanten Verschlechterung der Gesundheit und hat eine beachtliche negative Wirkung auf die Lebensqualität. "Minor depression" ist zudem ein starker Risikofaktor für das Entstehen einer "major depression", bei der die Erkrankten wesentlich länger anhaltend und schwerer leiden und eingeschränkt sind. 10 bis 25 % der Personen mit einer "minor depression" entwickeln innerhalb von 1 bis 3 Jahren nach der Erkrankung an einer "minor depression" auch die schwerere Depressionsform.

Nicht zuletzt diese Gefahr führte dazu, dass Personen mit der an sich "leichteren" Form einer Depression häufig antidepressive Arzneimittel und Benzodiazepine verordnet werden, die eigentlich für die Behandlung der "schweren" Form der Depression gedacht sind.
Ob dies wirklich einen Nutzen für die Erkrankten hat und/oder das Hineinwachsen in einer "major depression" verhindert wurde bisher erst in einer Handvoll randomisierter kontrollierter Studien untersucht. Ein systematischer Review und eine Metaanalyse der Effekte dieser Arzneimittel im Vergleich mit denen von Placebos stand aber fast erwartungsgemäß immer noch aus.

Italienische Wissenschaftler beendeten nun diesen Zustand und legten entsprechende Ergebnisse aus 6 RCTs vor. Deren Gesamtergebnisse sehen so aus:

• Bei Benzodiazepinen oder Tranquilizern fanden die Wissenschaftler trotz aufwändiger Suche in allen Standardquellen (z.B. in der Cochrane Library) keine Studie, die den Effekt dieser Arzneimittel mit dem Effekt von Placebos verglichen hatte. Der systematische Review kommt daher für diese Arzneimittel zu keiner Bewertung und Empfehlung. Vorsorglich weisen die Wissenschaftler aber auf das große Potential unerwünschter Wirkungen der meist notwendigen längeranhaltenden Behandlung mit Benzodiazepinen hin (z.B. Suchtabhängigkeit). Um zu einer positiven Nutzenbewertung zu kommen, müsse ihr nachgewiesener gesundheitlicher Nutzen schon extrem und eigentlich unvorstellbar hoch sein.
• Für Antidepressiva gibt es placebokontrollierte Interventionen. Diese zeigen in sämtlichen Studien für die Wirkung der beiden eingesetzten Mittel oder Substanzen keinen statistisch signifikanten Unterschied (RR=0,94). Ebenfalls kein signifikanter Unterschied existiert zwischen beiden Interventionstypen was das subjektive Annehmen (acceptability) der Arzneimittels oder des Placebos (RR=1,06) bei Patienten anbelangt.

Auch wenn die Studienautoren darauf hinweisen, dass sowohl die zum Teil geringe Anzahl von Patienten (drei Studien hatten weniger als 50 TeilnehmerInnen) als auch die bei allen 6 berücksichtigten Studien relativ kurze Nachuntersuchungszeit wichtige Beschränkungen für ihren Review darstellen, sind sie sich sicher, dass der unreflektierte Einsatz von Antidepressiva bei Patienten mit "minor depression" eine Form von Über- und/oder Fehlversorgung darstellt. Die Einnahme solcher Arzneimittel kann ohne gesundheitliche Nachteile für die Patienten unterlassen werden: "Doctors should still shift away from drug intervention as resources may be better spent elsewhere in the health system." Psychotherapeutische Interventionen haben beispielsweise bereits einen spezifischen Nutzen bei depressiven Patienten nachgewiesen und über weitere vergleichbare Ansätze sollte verstärkt nachgedacht werden.

Der Aufsatz "Efficacy of antidepressants and benzodiazepines in minor depression: systematic review and meta-analysis" von Barbui C, Cipriani A, Patel V, Ayuso-Mateos JL und M. van Ommeren ist im renommierten Fachjournal "British Journal of Psychiatry" (2011 Jan; 198:11-16) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 13.1.11


Psychische Erkrankungen: Viel "Epidemie" und relativ wenig evident wirksame Präventionsmaßnahmen in der Arbeitswelt

Artikel 1880 Egal, ob es um Arbeitsunfähigkeit, Maßnahmen zur Rehabilitation oder auch Frühberentung geht, so genannte psychische Erkrankungen schieben sich seit mehreren Jahren scheinbar unaufhaltsam auf die ersten Plätze. So ernst man das Geschehen hinter den Zahlen im Einzelfall nehmen muss, so wichtig und überfällig sind aber differenziertere Betrachtungen der "Epidemie" psychischer Erkrankungen. Dies sollte u.a. beinhalten:

• Das Aufdröseln dessen, was zur Flut der "psychischen Erkrankungen" zusammengefasst wird. Hier geht es sowohl um Depressionen, Ängste, Burnout, Neurosen etc. als auch im quantitativ nicht unerheblichen Maße um Suchterkrankungen wie den Alkoholismus.
• Ein Teil des scheinbar neuen Problembergs entsteht nicht aktuell, sondern existierte objektiv und subjektiv im schamhaften Verborgenen bereits immer. Die aktuelle Entwicklung ist also zum Teil ein Entdeckungs- und Akzeptanzphänomen. Statt einer Depression sprach man vor 20 Jahren lieber über ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom.
• Zu fragen ist aber auch, ob ein Teil der psychischen Erkrankungen nicht Ausdruck der auch sonst verbreiteten Medikalisierung von Lebenslagen oder natürlichen Reaktionen ist oder auch hier z.B. neue Medikamente eine "Krankheit" oder Therapeuten "Patienten" suchen und finden. Der anerkannte Psychiater Klaus Dörner warnte im "Deutschen Ärzteblatt" bereits 2002 mit folgenden Beobachtungen und Kommentaren vor einer solchen Entwicklung: "Seit den 90er-Jahren ist die Depression weltweit als unzureichend vermarktet erkannt. Eine Art Rasterfahndung nach unentdeckten Depressiven, wovon immer einige Menschen real profitieren, die meisten jedoch durch zusätzliche Etikettierung in ihrer Vitalität Schaden nehmen, hat zum Beispiel in den USA dazu geführt, dass sich von 1987 bis 1997 die Zahl der wegen Depression Behandelten von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht hat; ent-scheidend dafür war die suggestive Aufklärungskampagne und aggressive Werbung für Antidepressiva." Und: "Ein Selbstversuch, den jeder wiederholen kann: Ich habe zwei Jahre lang aus zwei überregionalen Zeitungen alle Berichte über Forschungen zur Häu-figkeit psychischer Störungen (zum Beispiel Angst, Depression, Essstörung, Süchte, Schlaflosigkeit, Traumata) gesammelt: Die Addition der Zahlen ergab, dass jeder Bundesbürger mehrfach behandlungsbedürftig ist. Die meist von bekannten Professoren stammenden Berichte versuchten in der Regel, dem Leser zunächst ein Erschrecken über den hohen Prozentsatz der jeweiligen Einzelstörungen zu suggerieren, um ihn dann wieder zu entlasten, weil es heute dagegen die zauberhaftesten Heilmethoden gäbe, fast immer in der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie; denn hier verspricht die Kooperation der Konkurrenten den größten Gewinn."

Egal, wie häufig psychische Erkrankungen wirklich neu entstehen und versorgt werden müssen, gilt aber auch bei ihnen, dass sie nicht unvermeidbar sind, also präventiv verhindert oder ihr Eintritt hinausgezögert werden kann. Und sicher ist auch, dass dabei die Bedingungen der Arbeitswelt eine wichtige fördernde und hemmende Rolle spielen.

Ein 2010 erschienener Forschungsbericht hat daher für Telekommunikationsunternehmen systematisch Faktoren zu identifizieren versucht, "die das psychische Befinden positiv oder negativ beeinflussen oder die Wiedereingliederung nach krankheitsbedingter Abwesenheit erleichtern." Als Erkenntnisquellen dienten mehrere Literaturreviews und qualitative Interviews mit Unternehmensvertretern. Die wichtigsten Funde der Literaturreviews lauteten:

• Dem Problemberg stehen zum Teil lückenhafte Erkenntnisse oder Beweise über mögliche Ursachen gegenüber. Die Evidenz vieler Maßnahmen ist lückenhaft oder schlecht. Viele der in den Betrieben durchgeführten Praxismodelle sind nie evaluiert worden.
• Als Faktoren mit negativem Effekt auf das psychische Wohlbefinden wurden identifiziert: Arbeit-sanforderungen wie hohe Anforderungen, geringer Entscheidungsspielraum, geringe soziale Unterstützung und geringe Kontrolle, Geringe Arbeitszufriedenheit, Monotonie, Rollenunklarheit und -konflikte, schlechte Kommunikation und großes Ungleichgewicht zwischen Anstrengung und Belohnung, Erlebtes Fehlen von Unternehmensgerechtigkeit und Führungsstile.
• Positiv wirken sich dagegen folgende Faktoren auf das psychische Wohlbefinden aus: In Sommerurlaub gehen, optimierte Aufgaben- und Jobgestaltung, multimodale Ansätze für Interventionen bei schlechtem psychischem Befinden unter Berücksichtigung der Faktoren Eigenverantwortung, Engagement und Eignung, Einsatz psychologischer Interventionen bei Störungen des psychischen Wohlbefindens, Flexible Arbeitszeiten und Wertschätzung der Belegschaft.
• Für die Wirksamkeit von Bedingungen, welche die Wiedereingliederung nach krankheitsbedingter Abwesenheit begünstigen, lag zwar nur eine vergleichsweise geringe Evidenz vor, als potenziell positiv gelten aber: Programme zur stufenweisen Rückkehr an den Arbeitsplatz und/oder psychologische Rehabilitation, die Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Kontakts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, systematische Ursachenanalysen und mögliche Anpassungen im Arbeitsumfeld.

In den acht genauer untersuchten Unternehmen gab es "Beispiele guter Praxis", wobei ihre Wirksamkeit oder ihre Effizienz mangels Evaluation nicht gesichert ist.

Der u.a. von der WHO und der EU-Kommission geförderte 108 Seiten umfassende Forschungsbericht 603-00944 "Gute Arbeit, gute Gesundheit" von Joanne O. Crawford, Phil George, Richard A. Graveling, Hilary Cowie und Ken Dixon ist im Juni 2010 in mehreren Sprachen, darunter auch in deutscher Sprache, erschienen und kostenlos erhältlich (ein bisschen aufwändig: auf Evidence based reports und dann auf die deutsche Fassung klicken).

Bernard Braun, 25.11.10


Medikalisierung der emotionalen Höhen und Tiefen - Neu ab 2013 im "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder" (DSM)

Artikel 1776 Seien Sie nicht zu eruptiv und richtig über etwas ärgerlich, nicht allzu verträumt und träge oder horten sie bloß nicht alte Zeitungsausschnitte und Zeitschriften. Sie könnten sonst ab 2013 von Psychiatern, die sich an der dann frisch erschienenen Ausgabe des von der renommierten und mächtigen "American Psychiatric Association (APA)" herausgegebenen und weltweit verbreiteten und genutzten DSM mit den Krankheitsetiketten "intermittent explosive disorder", "cognitive tempo disorder" oder "hoarding disorder" versehen und für behandlungsbedürftig gehalten werden. Und dazu gibt es dann auch sofort oder in naher Zukunft eine meist medikamentöse Therapie antidepressiver, antipsychotischer oder sedierender Art. Deren unerwünschten Wirkungen, nicht selten eine Erhöhung des Selbstmordrisikos, sind dann häufig das einzige wirkliche gesundheitliche Problem.

Dies alles wird noch umfassender eintreffen, wenn die Absicht der Entwickler der fünften Ausgabe des DSM (DSM-V) umgesetzt wird, dort analog zu den physiologischen Risikofaktoren oder Surrogatparametern wie hohem Blutdruck oder Blutzucker, auch für den psychischen oder Verhaltensbereich so genannte "risk syndromes" aufzunehmen. Diese könnten als Frühwarnzeichen für künftige ernste Probleme der mentalen Gesundheit interpretiert und als Startzeichen für eine frühe Behandlung genutzt werden.

Wie einflussreich die APA und ihr Handbuch ist, deutet sie mit der Feststellung "representing 38,000 physician leaders in mental health" selbstbewusst an.

Wer sich die "Küche" genauer ansehen will, aus der möglicherweise 2013 die genannten "psychiatric disorders" oder "mental illnesses" den Weg in die Praxen und die nächsten Krankenkassenberichte über die weiter wachsende Inzidenz und Prävalenz psychischer Erkrankungen finden, kann dies auf einer speziellen Website der APA für die Weiterentwicklung des DSM zum DSM-V tun.

Dort werden unter der Überschrift "Proposed Draft Revisions to DSM Disorders and Criteria" Bezeichnungen und Kriterien für die möglicherweise in der nächsten DSM-Ausgabe enthaltenen "disorders" vorgestellt, die von so genannten "DSM-5 Work Groups" erarbeitet wurden. Hier finden sich dann die bereits zitierten aber auch ernsthaftere psychische Störungen wie "Schizophrenia and Other Psychotic Disorders" oder "Substance-Related Disorders" aufgelistet.

Und als ob die Etikettierung einer menschlichen Lebensäußerung als Krankheit nicht erst als solche wissenschaftlich belegt werden müsste, hängt das weitere Schicksal der ausdrücklich als noch "not final" bezeichneten Krankheitenliste zunächst davon ab, ob und welche Kommentare es zu ihr gibt: "These are initial drafts of the recommendations that have been made to date by the DSM-5 Work Groups. Viewers will be able to submit comments until April 20, 2010. After that time, this site will be available for viewing only."

Ein Kritiker dieser Art der Medikalisierung von normalem Leben und dieses Verfahrens, der Psychiatrieexeperte Christopher Lane, bezeichnet deren wissenschaftliche Untermauerung als "very shaky to non-existent".

Einerseits ist die offene Vorbereitung auf und Verständigung über die nächsten Medikalisierungs-, Pathologisierungs- oder Psychiatrisierungsschübe zu begrüßen - auch wenn es sich dabei um die typisch klandestine Internetoffenheit handelt. Wenn jene LeserInnen, die sich darüber aufregen, noch vor dem 20. April 2010 heftige Beiträge auf der Website platzieren wollen, seien sie hiermit gewarnt: daraus kann schnell eine "explosive disorder" werden!!

Trotzdem sollten die künftigen Gelegenheiten, und dazu gehört dann spätestens die Veröffentlichung des DSM-V im Jahr 2013, der Dokumentation psychischer Erkrankungen genutzt werden, gründlicher und hartnäckiger nach der wissenschaftlichen Evidenz der immer längeren und verzweigteren Symptom- und Syndromkataloge zu fragen und tatsächliche von angeblichen behandlungsbedürftigen Erkrankungen zu trennen.

Die Vorschlags-Liste der potenziell nächsten psychischen Erkrankungen samt der jeweiligen per Link erreichbaren Begründungen ist interaktiv noch bis zum 20.4.2010 zugänglich, danach nur noch als Katalog.

Bernard Braun, 8.4.10


Psychische Störungen: Viele Beschwerden bleiben in der hausärztlichen Praxis unerkannt

Artikel 1551 Eine repräsentative Befragung des "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann-Stiftung bei rund 1.500 Deutschen im Alter von 18-79 Jahren hat jetzt gezeigt, dass bei vielen Patienten, die einen Hausarzt wegen psychischer Beeinträchtigungen aufsuchen, diese Beschwerden unerörtert bleiben und eine Diagnose mit entsprechender Therapie unterbleibt. Gut ein Fünftel der Befragten (21%) gibt an, in den vergangenen zwölf Monaten wegen psychischer Beschwerden einen Arzt oder Psychotherapeuten kontaktiert zu haben, wobei Kontakte zum Hausarzt mit 18 Prozent aller Fälle überwiegen. Nur etwa 7 Prozent nahmen einen Psychiater, Psychotherapeuten oder Behandlungsangebote einer psychiatrischen Institutsambulanz in Anspruch.

Als problematisch wird von den Wissenschaftlern das Ergebnis hervorgehoben, dass bei Patienten, die wegen psychischer Beschwerden ausschließlich von einem Hausarzt behandelt wurden, lediglich in 8 Prozent der Fälle die Diagnose einer psychischen Störung gestellt wurde. Demgegenüber wurde bei 53 Prozent der Patienten, die in den letzten zwölf Monaten wegen psychischer Beschwerden (auch) einen Psychiater oder Psychotherapeuten konsultiert hatten, eine psychische Störung diagnostiziert

Teilweise wird dies dadurch verursacht, dass nur die Hälfte der Patienten mit psychischen Beschwerden diese im Gespräch mit dem Hausarzt auch offen artikuliert. Dies wiederum hat zur Folge, dass psychische Erkrankungen entsprechend seltener erkannt und später oder gar nicht versorgt werden. Ein Verschweigen psychischer Beschwerden bedeutet jedoch nicht, dass Patienten an einer Besprechung dieses Themas kein Interesse haben. Häufig dürften in diesen Fällen vielmehr unterschwellige Bedürfnisse vorhanden sein, dann aber unbefriedigt bleiben. Deutlich wird dies daran, dass Patienten, die psychische Beschwerden nicht von sich aus thematisieren, relativ häufig über (so erlebte) Misserfolge im Rahmen ihrer hausärztlichen Versorgung berichten. Das bezieht sich sowohl auf die Diagnostik als auch auf Therapieentscheidungen des Arztes und negative Therapiefolge. Dabei spielt es keine Rolle, ob Patienten über einen Hausarzt als festen Ansprechpartner verfügen, der ihre Krankengeschichte der letzten Jahre gut kennt.

Auch anhand anderer Daten zeigen sich Defizite hinsichtlich der Diagnostik psychischer Störungen sowie in der Arzt- Patient-Kommunikation. So steht die im Gesundheitsmonitor erfasste Diagnose-Quote für psychische Erkrankung mit 5 Prozent im deutlichen Gegensatz zu den Häufigkeiten von über 20 Prozent, die aus Daten der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung bekannt sind. Die in der Gesundheitsmonitor-Befragung von Patienten erfassten sehr viel niedrigeren Quoten psychischer Diagnosen deuten wohl darauf hin, dass unspezifische Diagnosen psychischer Erkrankungen den Patienten gegenüber nicht in der gebotenen Transparenz mitgeteilt werden.

Will man eine bessere Identifikation psychischer Erkrankungen sowie eine Optimierung der Behandlung erreichen, so sind nach Auffassung der Wissenschaftler das aktive Nachfragen nach psychischen Beschwerden durch den Arzt und die systematische Diagnostik psychischer Störungen in der Primärversorgung wichtige Ansatzpunkte. Die Einführung von Versorgungsleitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen in der hausärztlichen Versorgung, insbesondere der zentralen Indikationen Depression und Angststörungen, verbunden mit spezifischen Fortbildungskonzepten und geeigneten Qualitätsmanagementinstrumenten wären Erfolg versprechende Maßnahmen. Erfahrungen aus dem angloamerikanischen Raum weisen allerdings darauf hin, dass sich eine Verbesserung der Erkennensrate psychischer Störungen in der Primärversorgung nur dann nachhaltig und wirksam auf die Versorgungsqualität auswirkt, wenn die entsprechenden Maßnahmen mit einer Integration und Vernetzung der Versorgungsbereiche einhergehen. Die Einführung isolierter Maßnahmen (wie zum Beispiel ein Screening-Verfahren für depressive Störungen in der Hausarztpraxis) würde dagegen voraussichtlich wirkungslos bleiben.

Volltext der Studie: Timo Harfst, Gerd Marstedt: Psychische Gesundheit in Deutschland: Erkrankungen bleiben oft unentdeckt (Bertelsmann Stiftung, Gesundheitsmonitor, Newsletter 1/2009)

Gerd Marstedt, 5.5.09


Obdachlos in Seattle: Neues Sozialhilfe-Konzept für Alkoholiker ohne festen Wohnsitz ist überaus erfolgreich

Artikel 1526 "Housing First" ist ein in den USA neu entwickeltes Konzept der Sozialhilfe und Sozialpädagogik, das von etablierten Pfaden abweicht. Man versucht obdachlose Alkoholiker nicht mehr wie früher üblich in mehreren Etappen gesellschaftlich zu integrieren: Von der Straße in eine öffentliche Gemeinschaftsunterkunft, von dort in betreute Wohngemeinschaften und am Schluss in eigenes Apartment. Vielmehr bekommen sie in einer Reihe von Gemeinden jetzt sofort eine eigene Wohnung gestellt und - auch dies ist neu - es wird kein strenges Alkoholverbot ausgesprochen. Eine jetzt im "Journal of the American Medical Association" (JAMA) veröffentlichte Studie hat nun gezeigt, dass diese neue Vorgehensweise nicht nur erhebliche finanzielle Vorteile mit sich bringt, sondern auch therapeutisch effektiv ist aufgrund eines deutlich sinkenden Alkoholkonsums.

Das von der Stadt Seattle im Bundesstaat Washington seit einiger Zeit umgesetzte Konzept im Umgang mit obdachlosen Alkoholikern war in der Öffentlichkeit und in den Medien überaus kontrovers diskutiert und zum Teil sehr heftig kritisiert worden, denn den betreuten Person wurde nicht wie sonst üblich eine kleine Wohnung nur unter der strengen Auflage erteilt, fortan konsequent auf Alkohol zu verzichten. Obdachlose mit Alkoholabhängigkeit sind in Seattle wie auch in anderen Städten eine bedeutsame Problemgruppe aufgrund einer häufigen Inanspruchnahme der Notaufnahme von Krankenhäusern und ebenso der Unterbringungskosten in Ausnüchterungszellen oder Gefängnissen. In sozialer Hinsicht ist ihr Schicksal beklagenswert: Sie werden im Durchschnitt nicht älter als 42-52 Jahre, etwa 30-70% der Todesursachen sind alkoholbedingt.

Das in Seattle wie auch in anderen US-Städten seit einiger Zeit erprobte Konzept des "Housing First" wurde nun in einer Studie einmal hinsichtlich seiner Effekte einer Evaluation unterzogen. Teilnehmer an der Studie waren einerseits 95 Obdachlose, die im kommunalen Zentrum in der 1811 Eastlake Avenue eine Wohnung bekommen hatten. Zum anderen wurden als Kontrollgruppe 39 interessierte Obdachlose mit einbezogen, die sich auf eine Warteliste eintragen mussten, weil die Nachfrage deutlich höher war als das Wohnungsangebot.

Zunächst wurden erhebliche finanzielle Vorteile des Konzepts für den Steuerzahler deutlich: Zuvor hatte jeder Obdachlose durch die medizinische Versorgung (ca. 700 US-Dollar für jede Aufnahme in eine Klinik-Notaufnahme) und durch Gefängnisaufenthalte (ca. 200 US-Dollar pro Tag) Kosten in Höhe von 4.066 US-Dollar pro Monat verursacht. Nach Beziehen der Wohnung sanken die Kosten dann im ersten halben Jahr auf durchschnittlich 1.492 US-Dollar und im zweiten halben Jahr auf nur 958 US-Dollar. Berücksichtigt man die Wohnungskosten in dieser Rechnung, so sind die Vorteile immer noch erheblich: Die Kommune spart im Durchschnitt monatlich 2.449 Dollar für jeden Obdachlosen, dem sie eine Wohnung zur Verfügung stellen kann.

Obwohl kein Alkoholverbot in den neu bezogenen Apartments galt, konnten die Wissenschaftler durch Befragung feststellen, dass der Alkoholkonsum nicht anstieg, sondern im Gegenteil sank: Von durchschnittlich etwa 16 Standard-Drinks am Tag auf 10 Drinks nach einem Jahr. Ebenso sank die Zahl der Tage, an denen die Betroffenen einen Vollrausch hatten.

Abstract der Studie: Mary E. Larimer et al: Health Care and Public Service Use and Costs Before and After Provision of Housing for Chronically Homeless Persons With Severe Alcohol Problems (JAMA. 2009;301(13):1349-1357)

Gerd Marstedt, 3.4.09


"Süchtige Halbgötter" oder "entmachtete Übermenschen" - Haben Ärzte Probleme mit Suchtsubstanzen?

Artikel 1473 Die Frage, ob Ärzte Probleme mit Suchtsubstanzen haben, kann auf internationaler wie nationaler Ebene bejaht werden. Im Ausland allerdings liegen hierzu und auch zur Frage, ob und wie dies geändert werden kann, mehr Daten vor. Die Situation und das inländische Dilemma brachte ein "FAKT"-Fernsehbeitrag im Jahr 2002 auf folgenden Nenner: "Ärzte sind stärker suchtgefährdet als die Normalbevölkerung. Amerikanische Studien belegen das. Für Deutschland gibt es keine Zahlen. Angenommen, daß nur rund 5 Prozent der Ärzte süchtig sind, hieße das: über 17.000 süchtige Ärzte praktizieren in Deutschland. Jeder von ihnen ist eine potentielle Gefahr für seine Patienten. Die Kunstfehlerquote dieser Ärzte liegt 10 - 100 mal höher, so Schätzungen. Die übliche Reaktion der Kollegen: Wegschauen."

Fünf Jahre später fasste ein Beitrag über Arztmythen die Situation so zusammen: "Etwa sieben bis neun Prozent der Ärzte in Deutschland stecken in der Suchtfalle, sagen vorsichtige Schätzungen. Legt man diese Zahl zugrunde, wären 30.000 deutsche Mediziner betroffen. Damit liegt der Anteil um ein dreifaches höher als in der restlichen Bevölkerung." In der "Suchtfalle" sitzen nach derselben Quelle, aber ohne primäre Belege, keineswegs alle Ärzte, sondern bevorzugt Klinikärzte, allen voran Chirurgen und Anästhesisten oder auch angehende Ärzte, die Panikattacken oder Erwartungsdruck mit Alkohol oder Tabletten betäuben. Der Großteil der süchtigen Ärzte ist dem Alkohol verfallen. Positiv zu berichten ist schließlich doch noch, dass Mediziner, die in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten, weniger anfällig für die suchtfördernden Veränderungen sind, die eine Arztkarriere mit sich bringt.

Dass über dieses für die Gesundheit der Ärzte und der eines Teils ihrer Patienten vorhandene Problem auch genauer, offener, öffentlicher und hilfsbereiter kommuniziert und gehandelt werden kann, zeigen die gerade in den USA veröffentlichten Ergebnisse einer fünfjährigen retrospektiven longitudinalen Kohortenstudie mit 904 konsekutiv zwischen 1995 und 2001 in eine Suchttherapie aufgenommenen ÄrztInnen der für diesen Zweck gesondert existierenden 16 staatlichen und unter der Aufsicht der Zulassungsbehörde für ärztliche Approbiation laufenden Gesundheitsprogramme für Ärzte.

Nach dieser Studie entwickeln etwa 10 % der US-Ärzte Suchtprobleme. Die primären Suchtsubstanzen waren Alkohol, Opiate und Stimulanzien (wie Amphetamine).

Das zentrale Ziel der Studie war, die Effektivität dieser Gesundheitsprogramme für Ärzte bei der Behandlung von Ärzten mit Substanzabhängigkeit zu evaluieren. Als Endpunkte galten das vollständige Absolvieren des Programmes, der mögliche weitergehende Alkohol- und Arzneimittelmissbrauch (reguläre Urintests) sowie der berufliche Status nach fünf Jahren.

Die Ergebnisse sahen so aus:

• 155 von 802 Ärzten (19,3%) mit bekannten Ergebnissen beendeten das Programm nicht, der Abbruch war meistens am Anfang der Behandlung.
• Von den 647 (80,7%), die die Behandlung beendeten und die unter Aufsicht und Kontrolle wieder ihrer ärztlichen Tätigkeit nachgingen, wurde auch nach 5 Jahren ein Alkohol- oder Medikementenmissbrauch mittels Urinuntersuchungen bei 126 (19%) Ärzten festgestellt; von diesen hatten 33 (26%) wiederholt positive Testergebnisse.
• Nach fünf Jahren Nachbeobachtung hatten 631 (78,7%) Ärzte noch eine Approbation und arbeiteten, 87 Ärzten (10.8%) wurde die Approbation entzogen, 28 (3,5%) waren pensioniert, 30 (3,7%) sind gestorben, und 26 (3,2%) hatten einen unbekannten Status.

Sofern also weder die Öffentlichkeit noch "die Kollegen" das Problem verschweigen, sondern es als ernsthaftes gesundheitliches Problem behandeln und offen Hilfen anbieten und diese Hilfen auch angenommen werden, zeigen etwa Dreiviertel der Ärzte mit Substanzabhängigkeit gute Prognosen nach dieser Therapie. Solche Programme scheinen eine angemessene Kombination von Behandlung, Unterstützung sowie Sanktionen zu geben, um die Abhängigkeit von Ärzten effektiv zu bewältigen. Das Programm ist ausdrücklich kein ärztlich-medizinisches Behandlungsprogramm für Ärzte als Patienten, sondern ein komplexes soziales Interventions- und Unterstützungsprogramm. Eine klassische medizinische Behandlung gegen die physiologischen Suchtfolgen kommt also noch hinzu und wird durch das hier dargestellte Programm nur umfassend ergänzt oder wirksamer.

Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich noch mehr und dringlicher die Frage, warum es in Deutschland weder über die Häufigkeit von Substanzabhängigkeit von Ärzten, deren Auswirkungen auf die Gesundheit und soziale Situation der davon betroffenen Ärzte und die Gesundheit ihrer PatientInnen genauere Daten gibt und warum weder Staat noch Ärzteverbände vergleichbare Angebote für diese Gruppe erkrankter Ärzte anbietet noch einen spürbaren Druck auf die sich selbst und Dritte gefährdenden Ärzte ausübt, sich in Behandlung zu geben oder die Ausübung ihres Berufes untersagt zu bekommen. Ein Blick in die USA zeigt, dass die Befürchtung, Ärzte verlören durch den offeneren Umgang mit ihren Suchtproblemen ihren "Heiligenschein" und entwerteten sich, eher damit unwahrscheinlich ist bzw. kulturell modifiziert werden kann.

Der sechsseitige Aufsatz "Five year outcomes in a cohort study of physicians treated for substance use disorders in the United States" von McLellan A.T. et al. ist bereits im November 2008 im "British Medical Journal" (BMJ 2008 Nov 4; 337:a2038) erschienen und komplett als PDF-Datei kostenlos erhältlich.

Wer Genaueres über das "Physician Health Programm (PHP)" wissen will, kann dies ausführlich in einem Aufsatz der Programmevaluatoren (Robert L. DuPont, A. Thomas McLellan, William L. White, Lisa J. Merlo, Mark S. Gold) tun. Er erscheint zwar erst im März 2009 in der Zeitschrift "Journal of Substance Abuse Treatment" (36 (2009) 159-171) unter dem Titel "Setting the standard for recovery: Physicians' Health Programs" , ist aber jetzt schon in einer Onlineversion und als PDF-Datei kostenlos erhältlich. Weitere Publikationen der Autoren über die Wirksamkeit von PHP sind "in press".

Bernard Braun, 29.1.09


Cochrane-Studie: Johanniskraut hilft gegen Depressionen ebenso gut wie Psychopharmaka - ohne deren Nebenwirkungen

Artikel 1363 Noch 2005 hatten vier Münchener Wissenschaftler in einer Cochrane-Studie "St John's wort for depression" festgestellt, der Forschungsstand hinsichtlich der Wirksamkeit von Johanniskraut gegen Depressionen sei widersprüchlich und verwirrend. Jetzt revidierte die Forschungsgruppe um Klaus Linde vom Zentrum für naturheilkundliche Forschung der Technischen Universität München in einer um neuere Veröffentlichungen ergänzten Cochrane-Studie ihr Urteil: "Johanniskraut-Extrakte, die in den untersuchten Studien verwendet worden waren", heißt es in der Zusammenfassung, "seien bei Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen a) wirkungsvoller als Placebos, b) genau so wirkungsvoll wie Antidepressiva, hätten aber c) weitaus weniger Nebenwirkungen als diese Psychopharmaka."

29 Studien mit insgesamt 5.489 Patienten schlossen die Wissenschaftler diesmal in ihre Analyse ein, durchweg randomisierte (mit zufälliger Zuordnung der Teilnehmer zu verschiedenen Untersuchungsgruppen) und verblindete Studien (ohne Kenntnis der beteiligten Wissenschaftler über die Art der jeweiligen Intervention in den verschiedenen Gruppen). Durchgeführt wurden zwei Vergleiche hinsichtlich der Wirkung: Johanniskraut-Extrakte vs. Placebo, Johanniskraut-Extrakte vs. Antidepressiva, und zwar Standard-Medikamente. Als Ergebnis zeigte sich:
• In neun größeren Studien zeigte sich, dass der Effekt von Johanniskraut 1,28mal besser war als der eines Placebo. In weiteren neun Studien mit allerdings kleinerer Teilnehmerzahl war der Effekt sogar 1,87mal größer.
• Beim Vergleich von Johanniskraut mit Antidepressiva zeigten sich unterschiedliche, teils positive, teils negative Befunde. Dies bestätigte sich auch, wenn man Studien nach der Teilnehmerzahl - in Studien mit größerer und kleinerer Teilnehmerzahl - aufteilte. Unter dem Strich blieb dann das Ergebnis stehen: Der Effekt von standardmäßig eingesetzten Antidepressiva (aus unterschiedlichen Wirkstoffgruppen) ist genau so groß wie der von Johanniskraut.
• Überraschend war für die Wissenschaftler, dass Ergebnisse von Studien aus dem deutschsprachigen Raum sehr viel positiver für die Wirkung von Johanniskraut ausfallen. Eine endgültige Erklärung liefern die Forscher hierfür nicht, diskutieren jedoch verschiedene Hypothesen. So sind möglicherweise in den deutschen Studien anderen Formen depressiver Erkrankungen berücksichtigt worden, bei denen Johanniskraut besser wirkt. Ursächlich könnte aber auch sein, dass die Studienteilnehmer unterschiedlich rekrutiert wurden, in Deutschland oft aus Arztpraxen, im Ausland öfter aus Universitäts-Kliniken und Forschungseinrichtungen.

Ein kostenloses Abstract der Cochrane-Studie ist hier: Linde K, Berner MM, Kriston L.: St John's wort for major depression (Cochrane Database of Systematic Reviews 2008, Issue 4. Art. No.: CD000448. DOI: 10.1002/14651858.CD000448.pub3)

Gerd Marstedt, 15.10.2008


Meta-Analyse zeigt: Langzeit-Psychotherapien sind bei komplexen Störungen wirksamer als kurze Interventionen

Artikel 1354 "Psychoanalyse", so urteilte einst der österreichische Schriftsteller und Kritiker Karl Kraus, "ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält." Und viele Repräsentanten der Gesprächs- oder Verhaltenstherapie kritisierten immer wieder, dass die wissenschaftliche Belege für eine Effektivität der psychoanalytischen Therapie trotz einer über 100jährigen Tradition immer noch ausstünden. Wie es scheint, hat eine Metastudie zweier deutscher Wissenschaftler, zumindest solcher Fundamentalkritik erst einmal den Wind aus den Segeln genommen. Falk Leichsenring (Universitätsklinikum Gießen) und Sven Rabung (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) hatten in einer jetzt in der Zeitschrift JAMA (Journal of the American Medical Association) veröffentlichten Meta-Analyse die Ergebnisse von insgesamt 23 Studien noch einmal bilanziert.

Die berücksichtigten Studien waren zwischen dem 1.Januar 1960 und dem 31.Mai 2008 veröffentlicht worden. Als Kriterium für eine Berücksichtigung galt den Wissenschaftlern:
• ein prospektives Studiendesign (also keine retrospektive, im Nachhinein erstellte Bewertung des Therapieerfolgs),
• Designs entweder im Rahmen von randomisierten Kontrollstudien (mit Vergleichsgruppen und zufälliger Zuweisung zu den Gruppen) oder Beobachtungsstudien,
• Studien, die auch Langzeittherapien bestimmter Richtungen (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie) einbezogen hatten und zwar mit einer Dauer von mindestens 50 Sitzungen,
• Verwendung zuverlässiger Indikatoren (z.B. psychiatrische Fragebögen) für den Therapieerfolg,
• Einbezug nur komplexer Erkrankungen, z.B. schwere Borderline-Störung, multiple psychische Störungen.

Die beiden Wissenschaftler konnten in ihrer Meta-Analyse dann insgesamt 23 Studien mit 1053 Patienten/innen auswerten. Zur Bewertung des Therapieerfolgs wurden verschiedene Indikatoren verwendet, unter anderem Gesamteffekt, psychiatrische Symptome, Persönlichkeitsstörungen, Sozialverhalten. Im Vergleich zu den verschiedenen Kurzzeitinterventionen, die in den einzelnen Studien teilweise auch berücksichtigt worden waren, zeigte sich dann, dass es den Patienten bei psychoanalytischer oder tiefenpsychologischer Vorgehensweise - mit sehr langer Dauer - im Durchschnitt besser geht als jenen mit einer Kurzzeittherapie. Ob Langzeittherapien bei schwerwiegenden psychischen Erkrankungen trotz ihrer Zeitdauer gleichwohl auch unter Kostenaspekten als effizient zu bewerten sind, solle in künftigen Studien untersucht werden, schreiben die Wissenschaftler.

Hier ist ein Abstract der Studie: Falk Leichsenring, Sven Rabung: Effectiveness of Long-term Psychodynamic Psychotherapy. A Meta-analysis (JAMA. 2008;300(13):1551-1565)

Gerd Marstedt, 5.10.2008


Ist die bipolare Depression überdiagnostiziert? Trägt die Industrie dazu bei?

Artikel 1243 Diese Fragen wirft eine Studie von Mark Zimmermann und Kollegen aus einer psychiatrischen Klinik in Rhode Island, USA auf. Die bipolare Störung ist eine ernste psychiatrische Erkrankung, die mit wechselnden Phasen von depressiver, bedrückter und manisch gehobener Stimmung einhergeht, in der Regel mit dazwischen liegenden Phasen normaler Stimmung. Die Störung gilt sowohl in den USA als auch in Deutschland als unterdiagnostiziert. Insbesondere geht man davon aus, dass bei vielen Patienten mit der Diagnose Depression tatsächlich eine bipolare Störung vorliegt.

Die Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen behauptet auf ihrer Website, nur die Hälfte der von der Störung Betroffenen erhalte die korrekte Diagnose.
Folge der Fehl- und Unterdiagnose sind laut Zimmermann eine Unterversorgung mit stimmungsstabilisierenden Medikamenten, ein ungünstigerer Verlauf und höhere Kosten.

Zimmermann und Kollegen betreiben ein Projekt zur Verbesserung der Diagnosestellung psychiatrischer Störungen, in dem zwei Methoden verglichen werden - die unstrukturierte klinische Befragung und ein semistrukturiertes Interview (Structured Clinical Interview for DSM-IV / SCID), mit welchem die diagnostischen Kriterien präzise abgefragt werden.

Frühere Untersuchungen hatten gezeigt, dass die Anzahl der erhobenen Diagnosen mit dem genaueren Interviewinstrument SCID viel höher liegt als mit einer unstrukturierten Befragung. In ihrem klinischen Alltag gewannen die Untersucher den Eindruck, dass sich die Verhältnisse für die bipolare Störung umgekehrt hätten. Daher untersuchten sie diese Frage systematisch.

In den Jahren 2001 bis 2005 befragten sie 700 Patienten ihrer psychiatrischen Ambulanz mit dem Diagnose-Interviewinstrument. In einem weiteren Fragebogen gaben die Patienten darüber Auskunft, ob die Diagnose bipolare Störung bei ihnen schon einmal gestellt worden war.
Das strukturierte Interview ergab bei 90 der 700 Patienten die Diagnose bipolare Störung. 145 Patienten (20,7 Prozent) berichteten jedoch, die Diagnose sei bei ihnen bereits gestellt worden. Somit wurde die vom Patienten berichtete Diagnose nur in weniger als der Hälfte der Falle durch das Interviewinstrument bestätigt - ein deutlicher Hinweis auf Überdiagnose. Auf der anderen Seite hatten 30 der 90 Patienten, die mit dem Interviewinstrument eine bipolare Störung zeigten, die Diagnose von ihrem Arzt bis dahin nicht erhalten - ein Zeichen für die weiter bestehende Unterdiagnose.

Die Autoren diskutieren verschiedene mögliche Ursachen für die Überdiagnose, wie z.B. Uneinigkeit der Psychiater bezüglich der diagnostischen Kriterien. Als bedeutsam schätzen sie die Marketing-Aktivitäten der Industrie ein. Mit der Zulassung neuer Substanzen für die Behandlung der bipolaren Störung, wie z.B. Seroquel® (Substanz: Quetiapin) von AstraZeneca, werden sog. Awareness-Kampagnen durchgeführt und Informationen angeboten. Patienten werden durch Direktwerbung im Fernsehen und in anderen Medien auf das Krankheitsbild aufmerksam gemacht. Ein selbst durchzuführender Screeningtest führt häufig zu einem Verdachtsbefund (falsch-positives Ergebnis), der anscheinend von einigen Ärzten unkritisch übernommen wird.
Dieses Erklärungsmuster steht im Einklang mit Erkenntnissen über die Effekte der Direktwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente aus anderen Quellen (s.u.).

Abstract der Studie "Is Bipolar Disorder Overdiagnosed?"
Informationen zur bipolaren Störung bei Wikipedia

Zwei Studien zu Effekten der Direktwerbung (Volltext kostenlos)
Creating Demand for Prescription Drugs: A Content Analysis of Television Direct-to-Consumer Advertising. Annals of Family Medicine 5:6-13 (2007)
Benefits and harms of direct to consumer advertising: a systematic review. Quality and Safety in Health Care 2005;14:246-250

David Klemperer, 19.5.2008


"No voice, no choice" - Ergebnisse der Evaluation des NHS-Programms zur Versorgung und Behandlung psychiatrisch Kranker

Artikel 0842 Die sich selbst als "health watchdog" des britischen NHS-Gesundheitssystems bezeichnende "Healthcare Commission" hat sich in den letzten Monaten zusammen mit der "Commission for Social Care Inspection (CSCI)" speziell um eine Bestandsaufnahme des komplexen Angebots an Gesundheitsdienstleistungen für psychiatrisch erkrankte Erwachsene gekümmert.
Ein weltweit existierendes und unterschiedlich weit und tief bearbeitetes Ziel der Versorgung dieser Personengruppe ist, sie möglichst nicht (mehr) in speziellen ortsfernen Krankenhäusern (z. B. Landeskrankenhäusern in Deutschland) behandeln oder - wie die Kritiker sagen - "wegsperren" zu lassen, sondern ambulante örtliche Versorgungs- und Betreuungsstrukturen aufzubauen ("community care").

Dass es sich dabei nicht um extreme Minderheitsherausforderungen handelt, zeigen die Zahlen für Großbritannien: Ein Sechstel der dortigen Bevölkerung leidet zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebenslaufes an einer psychiatrischen Erkrankung wie einer Depression oder an Schizophrenie.

Beim Report der Healthcare Commission handelt es sich um die aktuelle Bewertung einer noch recht jungen Reform (seit 1999 und z. B. in Wales ab 2005) der integrierten gesundheitlichen und sozialen Versorgung dieser Personengruppe. Diese Reform schuf ein "National Service Framework", spezialisierte lokale und regionale "mental health services" und so genannte "Local Implementation Teams (LITs)", von denen 2005/2006 174 existierten. Dieses Programm wurde auch noch durch einen allgemeineren "Care Programme Approach (CPA)" begleitet.

Die Evaluation der LIT-Arbeit bewertete drei Aspekte: die Einbeziehung oder Beteiligung der NutzerInnen der Dienstleistungen, der Zugang zu einer angemessenen Versorgung und Behandlung (wie z. B. der Gesprächstherapie) und der Grad der sozialen Re-Inklusion.

An wesentlichen Ergebnissen fand der "Gesundheitswachhund" folgende:

• Insgesamt gab es eine ständige Verbesserung der Verbreitung und Qualität der neuen Behandlungs- und Versorgungskonzeption für psychiatrisch Kranke und
• die LIT erwiesen sich als wirksame Instrumente, diese neuen Angebote aufzubauen und an die Zielgruppe heranzutragen.
• Trotzdem arbeiten erst 54 % der LIT in allen drei untersuchten Bereichen gut oder exzellent, 46 % aber lediglich mittelmäßig oder schwach. Dabei gibt es erhebliche regionale Schwankungen.
• Der Review identifizierte in jedem der drei untersuchten Bereiche erhebliche Leistungsmängel.
• Dies betraf auch erheblich die Einbeziehung der Patienten in Entscheidungen über ihre Versorgung und Behandlung oder andere leitlinienartig im CPA empfohlene Aktivitäten. So erhielt nur die Hälfte der betroffenen Personen eine Kopie ihres Versorgungs-/Behandlungsplanes, nur 29 % der Behandlungspläne enthielten Bestimmungen was zu tun ist, wenn der Patient über irgendetwas nicht selber entscheiden kann, ein Drittel der Personen wussten nicht, wer ihr Versorgungs-Koordinator war, über 50 % der Nutzer der "mental health services" wurden nicht nach ihrer Meinung über verordnete Arzneimittel gefragt und ein Drittel erfuhr keinerlei Information über die Nebenwirkungen der verordneten Medikamente.
• Weniger als die Hälfte der Patienten hatte die Telefonnummer einer für Notfälle zuständigen Fachperson und trotz eines von NICE für alle Patienten empfohlenen Angebots der kognitiven Verhaltenstherapie verfügten nur 46 % über einen realen Zugang.
• Auch die soziale Wiedereingliederung ließ zu wünschen übrig: Die Beschäftigungsrate von psychiatrisch Kranken ist die niedrigste unter den Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Nur 50 % der Personen, die Hilfe bei der Suche nach einem Arbeitsplatz benötigten, erhielten sie. Eine Reihe von Patienten hatte das Gefühl, dass ihre Gesundheitsbedürfnisse "are not taken seriously".
• Einer der Ratschläge der Commission, die Möglichkeit direkter Bezahlung der Dienste zu stärken und damit den Erkrankten mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten einzuräumen, hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl: Einerseits stellt dies eine Möglichkeit des Ernstgenommenwerdens und der Integration dar, andererseits sind Angehörige dieser Erkranktengruppe zumindest teilweise nicht besonders durchsetzungsfähig und könnten somit auch leicht für Anbieterinteressen vereinnahmt werden.

Wer mehr über die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen des Berichts "No voice, no choice. A joint review of adult community mental health services in England" wissen will, kann dies in einer langen Zusammenfassung für die Presse machen oder sich den 52 Seiten umfassenden Report als PDF-Datei kostenlos herunterladen.

Bernard Braun, 8.8.2007


"We need a New Deal for depression and anxiety - a complete revolution"

Artikel 0597 Mit diesen Worten endet nicht das Sonntags-Meeting einer linksalternativen Selbsthilfegruppe von depressiven Angelsachsen, sondern der von Mitgliedern der "Mental Health Policy Group" des "Centre for Economic Performance" der international anerkannten "London School of Economics and Political Science (LSE)" verfasste und gerade erschienene "The Depression Report. A New Deal for Depression and Anxiety Disorders".

Ausgangspunkt des Reports und der in ihm enthaltenen gezielten Forderung nach der Implementation der wissenschaftlich abgesicherten Leitlinien des in Großbritannien für evidenzbasierte Versorgungsangebote verantwortlichen "National Institute for Clinical Excellence (NICE)" ist, dass Depressionen und chronische Angststörungen in Großbritannien die aktuell größten Ursachen von Krankheitsnot sind: Nach dem seriösen "Psychiatric Morbidity Survey" kann bei einem Sechstel der britischen Bevölkerung eine dieser beiden Erkrankungen diagnostiziert werden. Ein Drittel aller britischen Familien sind davon betroffen.

Dieser schlechten Nachricht steht die gute Neuigkeit gegenüber, dass man mit psychologischen Therapien, deren Evidenz wissenschaftlich gesichert ist, mindestens die Hälfte der Depressions- und Angsterkrankten beseitigen könnte. Egal ob diese Störungen und Erkrankungen eher vor sich hinschlummern oder gerade akut sind, sollte die so genannte kognitive Verhaltenstherapie (cognitive behaviour therapy [CBT]) für jeden dieser Patienten erhältlich sein.

Der einzige Grund, warum dies nicht funktioniert, ist der akute Mangel an Therapeuten. Die Wartezeiten für Therapien betragen dadurch in den meisten Gegenden Großbritanniens über 9 Monate oder es gibt mangels Therapeuten gar keine Wartelisten. Die "general practitioners (GP)" beschränken sich vielfach auf die Verordnung von Medikamenten, was von vielen Patienten wegen der tatsächlichen oder befürchteten Nebenwirkungen nicht akzeptiert wird.
Das tragische Resultat ist, dass nur ein Viertel der derartig Erkrankten irgendeine Art von Behandlung erhält. Was dies sozial und ökonomisch für die Kranken und die Gesellschaft bedeutet, stellen die LSE-Forscher sehr detailliert und leicht verständlich dar.

Um so deprimierender ist die Gegenrechnung der Kosten einer erfolgreichen Behandlung mit CBT: 750 britische Pfund oder 1.119 Euro!
Soviel kostete die Arbeit von zusätzlich 10.000 Therapeuten, die in Teams zusammen arbeiten sollten, pro geheiltem depressiven oder angstgestörten Menschen. Eine Betrag, der sich nach den Berechnungen der LSE-Ökonomen im übrigen durch den Wegfall der hohen direkten und indirekten Arbeitsunfähigkeitskosten selber finanzieren, ja überfinanzieren würde.

Den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kostenwirksamkeit von Behandlung generell und darunter der mit CBT oder Arzneimitteln fassen die LSE-Forscher wie folgt zusammen: "The general finding is that therapy is as effective as drugs in the short-run, and both are better than no treatment. In the longer run therapy has more longlastíng effects than drugs."

Der 13-seitige, vorbildlich klar und verständlich geschriebene Report endet mit der kurzen Beschreibung der wichtigsten Inhalte eines in ihm propagierten "Siebenjahresplan" zur Heranbildung der genannten Anzahl von zusätzlichen CBT-Therapeuten und ihrer flächendeckenden Niederlassung und Verfügbarkeit.

Auch wenn in Deutschland oftmals schlechte Erfahrungen mit Mehrjahresplänen gemacht wurde, verdiente das in Deutschland nicht geringere und nach allen Gesundheitsberichten noch wachsende Problem der Depressionen und ähnlicher psychischer Erkrankungen eine vergleichbare wissenschaftsangetriebene Lösungsoffensive.

Bernard Braun, 27.2.2007


Arzt-Patient-Kommunikation ist bei funktionellen Störungen wirksamer als Spritzen

Artikel 0584 Psychotherapeutische Gespräche zwischen Arzt und Patient, Entspannungsübungen und Bewegung sind bei Patienten mit so genannten funktionellen Störungen oder psychosomatischen Beschwerden, deren körperliche Ursache unklar ist, oftmals wirksamer als Spritzen oder Operationen. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler der Universität Tübingen aufgrund einer Auswertung internationaler wissenschaftlicher Übersichtsarbeiten zu funktionellen Störungen.

Funktionelle Störungen sind in der hausärztlichen Praxis überaus häufig. "Rund 30 Prozent aller Patienten beim Hausarzt leiden an diesen Erkrankungen ", erklärte Professor Dr. Wolfgang Herzog, Ärztlicher Direktor der Heidelberger Universitätsklinik für Allgemeine Klinische und Psychosomatische Medizin. Das Spektrum der Beschwerden ist breit, und häufig sind die Erkrankungen nicht klar voneinander abgrenzbar. Daher plädieren die Forscher auch dafür, den typischen Scheuklappenblick, mit dem z.B. der Rheumatologe nur auf die Muskel- und Gelenkschmerzen, der Orthopäde auf den Rücken und der Gastroenterologe nur auf die Verdauungsprobleme achtet, aufzugeben und umfassender zu erheben, unter welchen körperlichen und seelischen Beschwerden die Patienten insgesamt leiden. Nicht jeder, aber viele Patienten haben Beschwerden aus mehreren Bereichen, die leicht übersehen werden.

Da eindeutige körperliche Befunde fehlen, haben die Patienten oft eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich, bevor die Funktionelle Störung erkannt wird. Die drei häufigsten Erkrankungen dieser Art sind der Reizdarm, das chronische Müdigkeits-Syndrom und die Fibromyalgie, eine Erkrankung mit chronischen Schmerzen in Muskel- und Bindegewebe. Genetische Ursachen spielen bei Funktionellen Erkrankungen nur eine geringe Rolle, vielmehr sind traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit, aber auch belastende Ereignisse im späteren Leben wie körperliche Krankheiten, Unfälle oder Verluste der Auslöser. Soziale und kulturelle Einflüsse sind ebenfalls bedeutsam: So neigen deutsche Patienten im Vergleich zu englischen doppelt so häufig zu psychosomatisch bedingten Rückenschmerzen.

Einen großen Einfluss hat auch das Verhalten des Arztes. Es kann sogar dazu beitragen, dass ursprünglich psychische Probleme sich immer stärker in körperlichen Beschwerden niederschlagen, wenn nämlich immer mehr diagnostische Maßnahmen in die Wege geleitet werden, die auf körperliche Befunde fixiert sind. Die Wissenschaftler fordern deshalb, ein spezielles Trainingsprogramm im Medizinstudium und in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung zu etablieren, das Studenten und Ärzte in der Kommunikation mit diesen Patienten schult.

Ein Abstract der im der renommierten Zeitschrift "The Lancet" (The Lancet Early Online Publication, 6 February 2007) veröffentlichten Studie ist hier zu lesen:
W Herzog, P Henningsen, S Zipfel: Management of functional somatic syndroms.
Der Originalartikel kann bei der Pressestelle des Universitätsklinikums Heidelberg angefordert werden: contact@med.uni-heidelberg.de

Gerd Marstedt, 21.2.2007


Volkskrankheit Kopfschmerzen: DAK Gesundheitsreport zeigt Versorgungsdefizite auf

Artikel 0577 Die DAK hat mit dem Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) die Krankschreibungen von 2,6 Millionen erwerbstätigen Mitgliedern ausgewertet und besonders Kopfschmerzerkrankungen untersucht. Ergebnis des Reports: Mehr als die Hälfte aller Deutschen hatte im letzten halben Jahr Kopfschmerzen oder Migräne, diese Symptome zählen daher zu den häufigsten gesundheitlichen Leiden in der Bevölkerung. Als Ergebnis einer zusätzlichen Befragung von Versicherten und wissenschaftlichen Experten aus Forschungseinrichtungen und Universitätskliniken zeigte sich: Nicht nur in der Bevölkerung, auch bei vielen Ärzten gibt es Informationsmängel, darüber hinaus finden sich teilweise erhebliche Versorgungsdefizite.

Es gelte, so die Experten mehrheitlich, den Kenntnisstand der Ärzte zur Diagnostik und Therapie von Kopfschmerzerkrankungen zu verbessern. Leitliniengerechte medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapieverfahren würden zu selten eingesetzt. Insbesondere das Risiko, zu viele Schmerzmittel zu nehmen, sollte stärker kommuniziert werden. Auch beim ärztlichen Anamnesegespräch gäbe es Handlungsbedarf. Jeder fünfte Kopfschmerz-Betroffene und zwölf Prozent der Migräne-Kranken gaben in der DAK-Bevölkerungsbefragung an, mit ihrem Arzt kein ausführliches Gespräch vor Behandlungsbeginn geführt zu haben. Im Hinblick auf die Arbeitswelt zeigte sich, dass die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz bei vielen Betroffenen, die trotz Migräne zur Arbeit gehen, erheblich eingeschränkt ist. Durch Fehlzeiten und Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz infolge Migräne entstehen jährlich Kosten von rund 2 Mrd. Euro. Migräne ist damit neben den zum Teil erheblichen Beeinträchtigungen auf Seiten der Betroffenen nicht zuletzt - volkswirtschaftlich betrachtet - teuer.

Viele behandeln den Schmerz im Kopf selbst, wie die Befragung bei Versicherten ergab. Knapp zwei Drittel (62 Prozent) der Kopfschmerz-Betroffenen und gut die Hälfte der Migräne-Kranken nehmen in Deutschland rezeptfreie Schmerzmittel. Selbstmedikation kann jedoch gefährlich sein, denn eine übermäßige Schmerzmitteleinnahme kann selbst Kopfschmerz auslösen und langfristig zu Organschäden führen. Gerade hier gibt es Wissens-Defizite: 40 Prozent der Kopfschmerz-Patienten und fast ein Viertel der Migräne-Kranken, die ärztlich verordnete Schmerzmittel einnehmen, erhielten nach eigener Aussage keine Aufklärung durch ihren Arzt. Insbesondere über die Folgen eines übermäßigen Schmerzmittelkonsums rezeptfreier Mittel und das Risiko eines medikamentenabhängigen Dauerkopfschmerzes gab es kein ärztliches Gespräch.

Die Wissenschaftler des IGES formulieren als gesundheitspolitische Konsequenzen und Forderungen aus ihrer Studie:
• Neben einer medikamentösen Prophylaxe werden wirksame nicht-medikamentöse Therapieverfahren zu selten eingesetzt. Hierzu zählen insbesondere Verhaltenstherapien und Muskelentspannungsverfahren.
• Kopfschmerzen treten sehr häufig auf, dennoch ist der Kenntnisstand sowohl auf Seiten der Ärzte als auch in der Bevölkerung nicht immer adäquat. Aus- und Fortbildung der Ärzte und die Aufklärung der Bevölkerung gilt es deshalb zu verbessern.
• Dies gilt insbesondere für den Bereich der Selbstmedikation: Das Risiko eines Medikamenten-induzierten Kopfschmerzes bzw. für Folgeschäden an Organen infolge eines Übergebrauchs von Schmerzmitteln muss den Betroffenen bewusst gemacht werden. Gleichwohl müssen Alternativen zur Schmerzmittel-Einnahme angeboten werden. Verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und Muskelentspannungsverfahren kommt hier einen hoher Stellenwert zu. Hier gibt es Verbesserungsbedarf, sowohl auf Seiten des Angebots als auch bei der Inanspruchnahme.
• Integrative Therapiekonzepte sollten gefördert werden, um den Betroffenen eine umfassende Kopfschmerz-Behandlung zu ermöglichen.

Hier findet man eine Pressemitteilung mit den wichtigsten Ergebnissen der Studie
Die gesamte Studie ist hier verfügbar: DAK-Gesundheitsreport 2007: Arbeitnehmer kaum noch krank - Schwerpunkt Kopfschmerz und Migräne

Gerd Marstedt, 16.2.2007


Folgen schwerer Unfälle langwieriger, schwerer und vielfältiger als erwartet. Reha und ambulante Betreuung verzahnen!

Artikel 0562 In einer weltweit einmaligen Längsschnittstudie untersuchten Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zusammen mit einem Personen-Rückversicherungsunternehmen seit 2000 die Krankheits- und Lebensverläufe von 1.148 so genannten Polytrauma-Patienten (Patienten, die mehrere schwere Verletzungen verschiedener Körperregionen oder Organe haben, die einzeln oder in Kombination lebensbedrohlich sind) an der MHH.

Die so genannte "Hannover Polytrauma Langzeitstudie (HPLS)" beleuchtete neben den medizinischen Aspekten auch das soziale Umfeld, den Beruf, die Rentensituation, Sport und Hobbys der Patienten, die finanzielle Situation, Rehabilitationsmaßnahmen und Versicherungsbelange.

In einer ersten Zwischenbilanz im Jahr 2003 wurden bereits die folgenden - aktuell bestätigten - Ergebnisse veröffentlicht, die sich auf die Daten von 637 überlebenden PatientInnen stützen konnten:

• Besonders auffällig waren soziale Probleme. Fast die Hälfte der Patienten hatte nach dem Unfall weniger Freunde als zuvor, bei mehr als 60 % schränkten die Unfallverletzungen die Freizeitaktivitäten ein. Nahezu 40 % beklagten, dass ihre Partnerschaft oder das Familienleben unter den Folgen des Unfalls gelitten haben. Eine gleich hohe Zahl steht nach der Schwerstverletzung finanziell schlechter da als vor dem Unfall.
• Die Verletzungen wirkten sich auch gravierend auf das Berufsleben aus. 16,6 Prozent der Patienten mussten umgeschult werden, und etwa 20 Prozent waren als Folge des Unfalls erwerbsunfähig und mussten in Rente gehen. Für die Berufsunfähigkeit waren meist Verletzungen des Beckens oder der unteren Extremitäten verantwortlich. 30 Prozent der Patienten waren in Folge des Unfalls arbeitslos geworden. Wenn es den Betroffenen gelungen war, in das Berufsleben zurückzukehren, dauerte die Rehabilitation länger als zwei Jahre. Trotz der negativen Einflüsse bewerteten die Teilnehmer ihre derzeitige Situation als gut oder befriedigend. Gleichwohl berichteten 56 Prozent der Patienten über Probleme mit ihrer Lebenssituation nach dem Unfall.

Die Studie gab eindeutige Hinweise, dass die bis dahin landläufige Schätzung, nach einer solchen schweren Verletzung sei eine Rehabilitationszeit von maximal zwei Jahren notwendig, unrealistisch ist. Außerdem wurde klar, dass auch die beste Medizin nur einen Teil der Folgeprobleme beheben kann.

Die Forscher hoben in ihren jüngsten Äußerungen, die in einem Artikel der "Ärzte Zeitung" vom 6.2.2007 enthalten sind, folgende Aspekte besonders hervor:

• "Die Unfallfolgen sind auch noch nach zehn oder 15 Jahren viel gravierender als wir bislang geglaubt haben."
• Laut der Studie stieg die Arbeitslosigkeit bei den Männern nach dem Unfall von 6,9 Prozent auf 30 Prozent, die der Frauen von 5,5 Prozent auf 27,6 Prozent.
• Zu den langfristigen finanziellen und beruflichen Folgen der Unfälle trug nach Erkenntnissen der Forscher auch eine fehlende Verzahnung zwischen medizinischer Rehabilitation und anschließender ambulanter Betreuung bei.
• Von den 511 nach ihrer Entlassung aus der Akutbehandlung in der MHH gestorbenen PatientInnen starben 24 % an Herzerkrankungen, 22 % an erneuten Traumata sowie 10 % an Suiziden.

Bernard Braun, 9.2.2007


"Epidemie" psychischer Erkrankungen im Spiegel der Gesundheitsreporte von Krankenkassen - ein Überblick

Artikel 0538 Bei seit Jahren fast kontinuierlich sinkendem Krankenstand, stiegen die Fälle von gemeldeter Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Störungen ebenso kontinuierlich an. Dies zeigen eine Reihe von voneinander unabhängigen Gesundheitsberichte verschiedener gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland.
Eine vergleichende Analyse der Arbeitsunfähigkeitsberichte der AOK, Barmer Ersatzkasse, BKK, DAK, IKK und Techniker Krankenkasse für das Jahr 2005 zeigt, dass psychische Erkrankungen bei diesen Krankenkassen an die dritte bis fünfte Stelle aller Ursachen für Arbeitsunfähigkeit gerückt sind. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht jede psychische Erkrankung zu Arbeitsunfähigkeit führt oder auch aus Rücksicht auf den oder die Erkrankte von einer psychischen Diagnose abgesehen wird, also AU-Analysen die spezifische Erkrankungslast eher untererfassen, bestätigen die Ergebnisse andere Untersuchungen. So macht nach einem WHO-Bericht aus dem Jahre 2006 mindestens jede vierte Person in ihrem Leben eine psychische Krankheitsepisode durch und der Bundesgesundheitssurvey zeigte im Jahre 1998, dass 32 % der 18- bis 65-Jährigen von einer oder mehreren psychischen Störungen betroffen waren. Alles in allem werden nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 2002 fast 10 % der Gesamtausgaben für Gesundheit für die Behandlung psychischer und Verhaltensstörungen ausgegeben.

In der bereits angesprochenen und in Heft 2/2006 des "Psychotherapeutenjournal" (S. 123-129) veröffentlichten Analyse "Psychische Erkrankungen im Fokus der Gesundheitsreporte der Krankenkassen" von Julia Lademann, Heike Mertesacker und Birte Gebhardt vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen werden die unterschiedlich differenzierten Resultate der verschiedenen Gesundheitsberichte ausführlich dargestellt.
Sofern die Analysen so differenziert durchgeführt wurden, zeigt sich eine Dominanz affektiver (z.B. Depression) und neurotischer Störungen. Alle betrachteten Krankenkassen berichten über ein höheres Ausmaß von entsprechenden Krankheitsfällen und -tagen bei Frauen. Auffällig ist auch der bei mehreren Kassen beobachtete überproportionale Anstieg psychischer Erkrankungen bei jüngeren Menschen zwischen 15 und 35 Jahren. Zu den durchgängigen Mustern gehört ferner eine besondere Betroffenheit von Angehörigen der Dienstleistungsberufe und von Arbeitslosen.

Psychische Störungen führen aber nicht nur zu mehr Arbeitsunfähigkeit, sondern auch zu einer höheren Inanspruchnahme stationärer Behandlung, psychotherapeutischer Angebote und spezifischer Arzneimittelverordnungen. Hier zeigen die Auswertungen der Daten der genannten Kassen z.B. einen enorm hohen (43 % aller Fälle) Anteil der Krankenhauseinweisungen wegen Substanzmissbrauch (vor allem Alkohol) bei den männlichen Versicherten.
Der Überblick der Bremer Autorinnen zeigt auch die Einigkeit der verschiedenen Gesundheitsberichte über den multifaktoriellen Hintergrund dieser Entwicklung.

Der Beitrag schließt mit einem kurzen Überblick über einige von den genannten Krankenkassen gestarteten Programme zu neuen Versorgungsansätzen bei der Behandlung psychischer Störungen. Gefordert werden aber auch Programme, die sich den speziellen Ursachen der psychischen Erkrankungen von jungen Menschen, Frauen oder Angehörigen personaler Dienstleistungsberufe widmen. Die vorhandenen Programme sollten nach Ansicht der Autorinnen auch gründlich evaluiert werden.

Der Vollständigkeit halber und teilweise auch zur Bestätigung und Vertiefung des von Lademann et al. aus den Berichten anderer Kassen zusammengestellten Kenntnisstandes, sei auch auf weitere zu ähnlichen Ergebnissen kommende Berichte verwiesen: In Frage kommen beispielsweise der GEK-Gesundheitsreport 2004 mit dem Schwerpunkt Gesundheitsstörungen durch Alkohol oder der GEK-Gesundheitsreport 2001 mit dem Schwerpunkt Psychische Störungen.

Hier können Sie den Übersichtsartikel "Psychische Erkrankungen im Fokus der Gesundheitsreporte der Krankenkassen" von Julia Lademann, Heike Mertesacker und Birte Gebhardt herunterladen.

Bernard Braun, 4.2.2007


Fehl- oder nützliche Versorgung? Von den Schwierigkeiten einer Entscheidung am Beispiel der Versorgung von Selbstmordpatienten

Artikel 0368 Wie schwierig Entscheidungen über den Nutzen einer Behandlung oder eine mögliche Fehlversorgung sein können, zeigt die bei über 15.000 finnischen PatientInnen mit einem Selbstmordversuch zwischen 1997 und 2003 gemachte Studie "Antidepressants and the Risk of Suicide, Attempted Suicide, and Overall Mortality in a Nationwide Cohort" von Tiihonen et al., die in der Dezemberausgabe der Zeitschrift "Archives of General Psychiatry" (63: 1358-1367) veröffentlicht wurde.

Die gesamte Gruppe wurde in eine Untergruppe aufgeteilt, deren Angehörige mit Antidepressiva behandelt wurde, die andere Untergruppe wurde ohne Einsatz dieser Medikamente behandelt. Nach jeweils etwas mehr als 3 Jahren wurde der weitere Lebensverlauf untersucht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen weitere Selbstmordversuche und die gesamte Mortalität während der Behandlungszeit.

Das jetzt bekannte Ergebnnis ist verblüffend bzw. paradox: Wer mit Antidepressive behandelt wurde, wies gegenüber den nicht mit Antidepressiva Behandelten einen deutlichen Anstieg (60 %) des Risikos eines erneuten Selbstmordversuches auf, aber ein ebenfalls deutlich geringeres Risiko eines vollendeten Selbstmordes (10 %) oder der Sterblichkeit insbesondere an Herz-Kreislauf- oder Gehirndurchblutungserkrankungen (40 %).
Die Autoren empfehlen bei diesen Outcomes eine Behandlung mit Antidepressiva, weil die generelle Mortalität gesenkt würde.

Hier finden Sie das Abstract des Aufsatzes ".Antidepressants and the Risk of Suicide, Attempted Suicide, and Overall Mortality in a Nationwide Cohort".

Bernard Braun, 5.12.2006