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Zunahme der bildgebenden Diagnostik: Unerwünschte Strahlenbelastungen und geringer Nutzen gegen Fehldiagnosen. Lösung in den USA?

Artikel 1725 Ohne dass es lückenlose und uneingeschränkte Nachweise der Notwendigkeit und des Nutzens gibt, wächst die Anzahl der Verfahren der bildgebenden Diagnostik und darunter besonders auch der mit einer Röntgenstrahlenexposition verbundenen Verfahren in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahren stetig an.

Der aktuellste Bericht zu dieser Entwicklung, der im Dezember 2008 erschienene "Jahresbericht 2007 Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung" des Bundesamtes für Strahlenschutz stellt in seinem Hauptabschnitt über den medizinischen Beitrag zum Problem trotz einer Reihe methodischer Probleme und Skrupel folgende ZUstände und Tendenzen dar:

• Zur Generaltendenz: "Der größte Beitrag zur zivilisatorischen Strahlenexposition wurde durch die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung in der medizinischen Diagnostik verursacht. Insbesondere der Beitrag der Röntgendiagnostik zur effektiven Dosis ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Wesentliche Ursache für die Zunahme ist die steigende CT-Untersuchungshäufigkeit. Von daher bleibt in diesem Bereich Handlungsbedarf weiterhin angezeigt."
• Tendenz des klassischen Röntgen: "Für das Jahr 2005 wurde für Deutschland eine Gesamtzahl von etwa 132 Millionen Röntgenuntersuchungen abgeschätzt (ohne zahnmedizinischen Bereich: etwa 84,5 Mio. Röntgenuntersuchungen). Die Häufigkeit von Röntgenuntersuchungen in Deutschland während des betrachteten Zeitraums 1996 bis 2005 nahm leicht ab, wobei der Wert für das Jahr 2005 bei etwa 1,6 Röntgenuntersuchungen pro Einwohner und Jahr liegt." 1996 betrug dieser Wert 1,8.
• Tendenz des "modernen" Röntgen=Computertomographie: "In der Trendanalyse am auffälligsten ist die stetige Zunahme der Computertomographie(CT)-Untersuchungen - insgesamt um nahezu 80% über den beobachteten Zeitraum." Die Häufigkeit stieg von rund 0,06 (1996) auf rund 0,11 (2005) CT-Untersuchungen pro Einwohner und Jahr.
• Bildgebende Verfahren ohne Röntgenexposition: "Ein erheblicher Anstieg ist auch bei den "alternativen" bildgebenden Untersuchungsverfahren, die keine ionisierende Strahlung verwenden, zu verzeichnen, insbesondere bei der Magnetresonanztomographie (MRT)." Der Anstieg von 1996 auf 2005 erfolgte von 0,02 auf 0,08 Untersuchungen pro Einwohner und Jahr.
• Zu den Strahlenbelastungseffekten: Unter verschiedenen Annahmen "beläuft sich die - rein rechnerische - effektive Dosis pro Einwohner in Deutschland für das Jahr 2005 auf ca. 1,8 mSv und stieg damit über den Beobachtungszeitraum nahezu kontinuierlich an. Der festgestellte Dosisanstieg ist im Wesentlichen durch die Zunahme der CT-Untersuchungshäufigkeit bedingt."
• Wo steht Deutschland international?: "Im internationalen Vergleich liegt Deutschland nach den vorliegenden Daten bezüglich der jährlichen Anzahl der Röntgenuntersuchungen pro Einwohner und Jahr im oberen Bereich." In Ländern wie den USA betrug die effektive Dosis pro Kopf in den USA im Jahr 2006 3,2 mSv.
• Was tun?: "Darüber hinaus ist es weiterhin erforderlich, bei der Ärzteschaft ein Problembewusstsein für eine strenge Indikationsstellung unter Berücksichtigung der Strahlenexposition der Patienten zu schaffen."

Dem gesundheitspolitikfernen Bundesamt ist es nicht übel zu nehmen, dass es bei Appellen an das "Problembewusstsein" und bei den technischen Möglichkeiten der Röntgenverordnung verharrt, die Strahlenexposition zu reduzieren.
Außerdem stellt sich auch hier die Frage warum zu diesem quantitativ und qualitativ relevanten gesundheitsbezogenen Geschehen nicht die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Daten liefert und sich auf dieser Datenbasis verstärkt um die wahrscheinliche diagnostische Über- oder Fehlversorgung kümmert?

Um über andere, ausdrücklich gesundheitspolitische Methoden und deren Wirksamkeit Genaueres zu erfahren, muss man schon in die USA schauen. Angesichts der gerade genannten sehr hohen Strahlenbelastung und den damit auch noch verbundenen hohen Gesundheitsausgaben ist es nicht verwunderlich, dass dort bereits vor mehreren Jahren versucht wurde, die Zunahme aller bildgebenden und besonders der röntgenbasierten Verfahren zu stoppen und den Trend u.U. umzukehren.

Ob es dort gelungen ist eine wirksame Lösung zu finden und wodurch, arbeitet nun ein im Januar 2010 in der renommierten US-Public Health-Zeitschrift "Health Affairs" erschienener Aufsatz akribisch auf.

Zu den wesentlichen Daten und Einflussfaktoren der Untersuchung gehören:

• Zwischen 2000 und 2005 nahm die Anzahl der bildgebenden Untersuchungen für die ambulante Behandlung mit so genannten entwickelten diagnostischen Bildverfahren (MRT, CT und Nuklearmedizin - hier vor allem die Positronenemissionstomographie PET) für Medicare-Versicherte um 72,7% zu (von 365,7 Untersuchungen pro 1.000 Versicherte auf 631,4 Untersuchungen pro 1.000 Versicherte). Die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate war mit 11,3% bei MRT-Untersuchungen am höchsten, dicht gefolgt von der Nuklearmedizin mit 10,7% und der CT mit 9,2%.
• Während die Zunahme der Häufigkeit bildgebender Diagnostik in ambulanten Praxen (inklusive alleinstehende Diagnosezentren bzw. "imaging centers") von 2000 bis 2006 jährlich rund 15,4% betrug, stieg derselbe Indikator in ambulanten Einrichtungen innerhalb von Krankenhäusern lediglich um 6,1% pro Jahr.
• Mit dem "Deficit Reduction Act (DRA)" von 2005, der allerdings voll erst mit dem Beginn des Jahres 2007 wirkte, versuchte die US-Regierung diese Entwicklung in ambulanten Praxen zu bremsen. Das Gesetz enthält aber keine direkten Blockaden des Zugangs der Versicherten zu diesen Leistungen.
• Bereits 2006 und dann vor allem 2007 verringerte sich die Zunahme der bildgebenden Untersuchungen beträchtlich: Das jährliche Wachstum betrug bei allen drei Verfahren zusammen nur noch 1,7% pro Jahr. Dahinter steigt ein Wachstum von 4,3% bei CTs, von 1% bei MRTs aber ein Minuswachstum von 0,8% bei nukleartechnischen Verfahren.
• Sieht man sich insbesondere die Entwicklung im Jahr 2007 nach Art des Leistungserbringern an, steigt die Rate aller Untersuchungen pro 1.000 Medicareversicherten in privaten Praxen um 2,8% und in ambulanten Einrichtungen in Krankenhäusern um gerade einmal 0,4% an. Dies ist insofern ein paradoxes Ergebnis, weil der erwartete Anreiz des DRA vor allem zu einem Rückgang bei den privaten Praxen führen sollte. Gegen eine Stagnation oder gar einen Rückgang der Untersuchungsrate in Krankenhäusern hätte auch gesprochen, dass ein Teil des bisher ambulanten Diagnostikgeschehens wegen der Schließung ambulanter Einrichtungen in die Krankenhäuser hätte wandern müssen.
• Da damit der DRA nicht mehr der einzige oder entscheidende Faktor für die Stagnation der Zunahme zu sein scheint, fragen die Forscher nach anderen Ursachen. Sie halten generell mehrere Erklärungen für möglich. Dazu zählen das Aufkommen von so genannten "radiology business management companies", die besonders hart die Notwendigkeit des Einsatzes bildgebender Verfahren überprüfen und evtl. auch das Bewusstsein für die Angemessenheit derartiger Untersuchungen schärfen. Eine weitere mögliche Erklärung ist der verbesserte Zugang zu fachlichen Kriterien, mit denen sich Ärzte die Angemessenheit einer bildgebenden Diagnostik vergegenwärtigen können.
• Selbst wenn die Abnahme der Zunahme ("slowdown") auch nach 2007 anhält, handelt es sich um eine anhaltende Stagnation auf dem erreichten hohen Niveau. Bei der Nutzung dieser Untersuchungen dürfte es sich daher immer noch um eine Menge Überversorgung oder angesichts der Strahlenrisiken auch um Fehlversorgung handeln.

Im Zusammenhang mit der Einführung innovativer bildgebender Verfahren sind aber nicht nur die Menge, der Preis und die Strahlenbelastung zu hinterfragen, sondern auch der tatsächlich mit den neuen Verfahren zusätzlich zu realisierende Nutzen.

Dass auch hier die Formel "neu-teuer-gut-nützlich" nicht uneingeschränkt gilt, zeigten u.a. zwei Studien einer deutschen Forschergruppe. Dieser untersuchten bereits Mitte der 1990er Jahre für die Jahre 1959, 1969, 1979 und 1989 und dann erneut für die Jahre 1999/2000, also während der alten Röntgenzeit und der Einführungszeit von CT, MRT, Ultraschall und weiteren Verfahren, via Obduktion die Entwicklung der Raten klinischer Fehleinschätzungen an einer Universitätsklinik. Diese Ergebnisse beruhten auf den Autopsiedaten von jeweils 100 zufällig ausgewählten und im Krankenhaus oder kurz danach verstorbenen PatientInnen.

Ernüchterndes Ergebnis: Die Verbesserung der Diagnostik hat die Raten der Fehldiagnosen, des Übersehens der Grundkrankheit, irrtümlich gestellter Diagnosen und übersehener anderer Krankheiten nicht nennenswert beeinflusst.

Im Einzelnen:

• Die Rate von 11% Fehldiagnosen veränderte sich während der gesamten Untersuchungszeit nicht.
• Die Häufigkeit falsch negativer Diagnosen stiegen sogar von 22% im Jahr 1979 auf 34% und 41% in den Jahren 1989 und 1999/2000.
• Die Häufigkeit von falsch positiven Diagnosen stieg ebenfalls vom Jahr 1989 bis zum Jahr 1999/2000 von 7% auf 15%.
• Zu den verbreitetsten und häufigsten Diagnoseirrtümern gehörte im Jahr 1999/2000 wie in den Vorjahren Lungenembolien, Myokardinfarkte, Neubildungen und Infektionen.

Interessante Ergebnis am Rande und auch ein Beitrag zur Debatte über den Nutzen neuer Techniken:

• Die gründliche Erhebung der Erkrankungs- und Behandlungsgeschichte der Patienten und die einfache körperliche Untersuchung hatten durchweg eine wichtige diagnostische Bedeutung. Mit diesen Methoden gelangten die nur so diagnostizierenden Ärzte in 75% der Fälle zu einer korrekten Diagnose.
• Die Autopsierate sank von 88% im Jahr 1959 auf 20% im Jahr 1999/2000. Dies bewerten die Autoren als enorme Beschränkung der Möglichkeiten für Ärzte, aus Fehlern zu lernen. Es könnte aber auch Ausdruck der vermessenen und mit Sicherheit unbegründeten Überzeugung sein, keine Fehler zu machen.

Der erste Aufsatz "Misdiagnosis at a University Hospital in 4 Medical Eras: Report on 400 Cases" von Wilhelm Kirch und Christine Schafii erschien in der Zeitschrift "Medicine" (January 1996; Volume 75, Issue 1: 29-40) und hat weder einen freien Zugang zum Abstract noch zum kompletten Text.
Der zweite Aufsatz bzw. die Fortsetzung der Beobachtungszeitpunkte des Autorenteams "Health care quality: Misdiagnosis at a university hospital in five medical eras. Autopsy-confirmed evaluation of 500 cases between 1959 and 1999/2000: a follow-up study" von Wilhelm Kirch, Fred Shapiro und Ulrich R. Fölsch erschien im "Journal of Public Health" (Volume 12, Number 3 / June, 2004: 154-161) und von ihm ist kostenlos das Abstract zugänglich.

Von der Studie "Physician Orders Contribute To High-Tech Imaging Slowdown" von David C. Levin, Vijay M. Rao und Laurence Parker in der Zeitschrift "Health Affairs" (29, no. 1 (2010): 189-195) gibt es leider nur ein Abstract. Da die Zeitschrift seit Januar 2010 auch ein etwas aufgelockerteres Layout hat, ist Interessenten an der US-Gesundheitspolitik und -wissenschaft aber auch allen Anderen ein Abonnement als "individual" empfohlen, das zumindest normal bezahlte Beschäftigte nicht überfordert.

Der 308-Seiten-Bericht "Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung. Jahresbericht 2007" wird seit Anfang des Jahrhunderts vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) herausgegeben, ist vom Bundesamt für Strahlenschutz erstellt und kostenlos herunterladbar.

Bernard Braun, 2.2.10