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Public Health als Weg zur Optimierung des Menschen im Sinne besserer Resilienz

Artikel 2470 Mitte Juni legte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften e. V. und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e. V. ihre Stellungnahme Public Health in Deutschland (2015) vor. Das Papie mit dem Untertitel Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen geht erklärtermaßen der Frage nach, ob Deutschland sein Potenzial im Bereich Public Health in Hinblick auf nationale und globale Herausforderungen ausschöpft. Dazu hat "eine internationale Arbeitsgruppe aus hochrangigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bestehenden Grundlagen von Public Health in Deutschland untersucht und die zukünftigen Anforderungen an die Förderung und Weiterentwicklung des Gebietes ausgelotet" (S. 3).

Die Stellungnahme umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte von Public und Global Health und geht im Einzelnen auf die folgenden Themenbereiche ein: Ziele und Funktionen von Public Health, Herausforderungen, Fortschritte und Aussichten von Public Health, Globale Herausforderungen bewältigen: Erfolgreiche globale Gesundheitspolitik beginnt zu Hause, Geschichte und aktuelle Situation von Public Health in Forschung und Lehre in Deutschland und europäischer Hintergrund, und leitet daraus einschlägige Folgerungen und Empfehlungen für die Zukunft von Public Health in Deutschland ab.

Die mit der Stellungnahme unterstrichene Forderung nach stärkerer Beachtung und Bedeutung von Public Health in der Wissenschaft ist grundsätzlich begrüßenswert und könnte eine wichtige Weichenstellung in diese Richtung darstellen. Auch erscheint die einleitende Verortung dieses Wissenschaftszweigs plausibel, nachvollziehbar und korrekt: "Public Health ist mehr als Medizin" (S. 13) und "Public Health ist eine wichtige integrative Wissenschaft, die Ergebnisse der Grundlagenforschung in praktische Maßnahmen für die Gesundheit der Bevölkerung umsetzt" (S. 6). Auch der Forderung, Public-Health-Forschung müsse dazu beitragen, "effektive politische Maßnahmen, Programme und Strategien zur Verbesserung der Gesundheit, auch im nichtmedizinischen Bereich, zu entwickeln und Gesundheitssysteme zu stärken" (S. 9), ist nicht zu widersprechen.

Die Überlegungen der beteiligten WissenschaftlerInnen beruhen nicht zuletzt auf der beklagenswerten Situation, dass deutsche Forschungsergebnisse und praktische Erfahrungen nur geringen Einfluss auf die internationale Debatte und globale Gesundheitsansätze haben. Daher fordern sie: "Hier kann sich Deutschland verstärkt in die internationale Zusammenarbeit einbringen, vor allem da, wo es über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt, beispielsweise in den Bereichen Forschung, Innovation, flächendeckende Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit" (S. 7) und kommen zu der Analyse: "Letztlich ist festzustellen, dass die in Deutschland erzielten Forschungsergebnisse und praktischen Erfahrungen zu Public Health bisher nicht in dem ihnen angemessenen Umfang in die Debatte zu Global Health eingeflossen sind" (ibid.). Das wiederholt in dem Papier eingeforderte Mehr an Forschung lässt sich aus dieser Formulierung allerdings schwerlich ablesen, hapert es doch vielmehr an der richtigen Vermarktung in der merkantilisierten Welt der Wissenschaft. Dieses Dilemma ist in erster Linie Folge des sprachlich, inhaltlich und machtbedingten Publikationsbias der internationalen wissenschaftlichen Publikationsszene und zum anderen dem in Deutschland vielfach zu beobachtenden gesundheitswissenschaftlichen und -politischen Germano- oder zumindest Eurozentrismus geschuldet. Dies zu ändern, erfordert eher Publikations- als Wissenschaftsförderung. Doch davon steht in dem Papier nichts, ebenso wenig wie von den möglichen Ursachen der aufgeführten unterschiedlichen nationalen Publikationsumfänge (S. 48ff).

Eine Kernforderung des Leopoldina-Papiers ist die nach "Entwicklung einer innovativen Forschungsagenda für die Bereiche Public Health und Global Health, die die globale, sich wandelnde Krankheitslast widerspiegelt" (S. 9, 61). Dieser Satz spiegelt unübersehbar den überwiegend medizinisch-naturwissenschaftlichen Hintergrund der AutorInnen wider und entlarvt gleichzeitig ihre eigentliche Absicht. Wer Public Health primär als Antwort auf die "Krankheitslast" begreift und funktionalisiert, degradiert sie zu einem verlängerten Arm von Medizin und Biowissenschaften. Dazu passt der ausgesprochen beschränkte Präventionsbegriff der Leopoldina-AutorInnen (S. 30; wenngleich nachgehend wieder etwas aufgeweitet, s. S. 44). Die Verkürzung von Prävention auf Impfungen und Früherkennung entspricht dem Verständnis von BiologInnen, MedizinerInnen und anderen NaturforscherInnen - einem gesundheitswissenschaftlichen Ansatz wird sie aber ebenso wenig gerecht wie dem tatsächlichen Umfang von Krankheitsvorbeugung bzw. -vermeidung und dem Bedarf an gesund erhaltenden Maßnahmen. Der Leopoldina-Standpunkt ist nicht nur biomedizinisch geprägt ("Wie verbessern wir den Beitrag von Forschung und Wissenschaft, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern?" (S. 7)), sondern erkennbar selbstreferenziell: "Inwiefern könnte eine Reform der wissenschaftlichen Einrichtungen im Bereich Public Health in Deutschland die Rolle Deutschlands auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene stärken? (S. 7f). Zwar enthält die Stellungnahme auch Empfehlungen für die Rückbesinnung auf die öffentliche Hand ("Ein starker Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) und eine angemessene Ausbildung sind wichtige Voraussetzungen für ein funktionierendes Public-Health-System" (S. 8) - was auch immer ein "Public-Health-System" sein soll). Aber die Betonung vertikaler Ansätze wie der Bekämpfung von HIV/AIDS und chronischer Krankheiten (NCD, s. S. 6) weckt gleichzeitig Zweifel an der Komplexität und Integralität des Public-Health-Verständnisses der Leopoldina.

Insgesamt wappnen sich die AutorInnen des Papiers durch die stetige Verwendung genereller Begrifflichkeiten, gängiger Allgemeinplätze und unspezifischer Worthülsen gegen den Vorwurf einer inakzeptablen Einengung und der Auslassung relevanter Aspekte. Bedenklich ist dabei zugleich die Gewichtung bzw. wiederholte selektive Hervorhebung einzelner Gesichtspunkte, die zwar durchaus ihre Bedeutung haben mögen, deren grundlegende gesundheitswissenschaftliche Relevanz man allerdings in Frage stellen muss. So heißt es in der Zusammenfassung des Papiers: "Darüber hinaus müssen mehr Mittel für Sozial- und Verhaltenswissenschaften sowie für Genomik und andere, auf Omics-Technologien basierende Forschungsansätze und deren systematische Verbindung untereinander bereitgestellt werden" (S. 9; s. auch S. 33, 61, 66). Schön ist, dass auch Sozial- und Verhaltenswissenschaften benannt sind; schade ist dabei, dass viele andere Teile der Gesundheitswissenschaften keine zusätzlichen Mittel erhalten sollen; und besorgniserregend die einseitige Betonung von Genomik und Omics-Technologien. Die auf den ersten Blick willkürlich erscheinende, bei genaueren Hinsehen erkennbar interessensgeleitete Fokussierung auf einen bio-technokratischen Ansatz verdeutlicht den kaum verhohlenen Versuch, die Gesundheits- im Dienste der Krankheitswissenschaften zu instrumentalisieren und zu Hilfswissenschaften der Biomedizin zu degradieren.

Die grundlegenden und hinlänglich bekannten, in dem Papier ja zumindest auch benannten Auswirkungen sozialer Determinanten auf die Gesundheit der Bevölkerung lassen sich aber weder durch Genforschung noch durch Omics beseitigen oder kompensieren - erst recht nicht, wenn gleichzeitig soziale Ungleichheit und Depravation weltweit zunehmen. Ohne die Probleme aufgrund bestehender Patentregelungen zu benennen - das Wort Patent taucht nicht ein einziges Mal auf -, entbehrt die Forderung nach Forschungsförderung in Gentechnologie und sonstigen Bereichen der Biomedizin nicht nur einer überzeugenden Grundlage, sondern ist grob fahrlässig: Unter den bestehenden Bedingungen der Renditeorientierung und Gewinnmaximierung werden innovative biomedizinische Erkenntnisse bestehende soziale und gesundheitliche Ungleichheiten verstärken und eben nicht dazu beitragen, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern.

Vor diesem Hintergrund entlarven sich die Verweise der mit ihrem traditionellen Namen Nationale Akademie der Naturforscher wesentlich treffender beschriebenen Leopoldina auf soziale Determinanten als Alibi, wenn nicht gar als Ablenkungsmanöver. "Weitere Forschungsanstrengungen sind erforderlich, um diese bereichsübergreifenden Themen zu verstehen; dazu zählt das breite Feld der Ungleichheit und der die Gesundheit beeinflussenden sozialen Determinanten" (S. 9). Hier ist deutlicher Widerspruch angezeigt: Es braucht nicht mehr und immer mehr Forschung, um die Zusammenhänge immer wieder aufs Neue zu belegen, die seit Jahrzehnten und letztlich spätestens seit Rudolf Virchow in diesem Land hinlänglich bewiesen sind. Die Beforschung sozialer Bedingungen und Ungleichheiten bleibt Selbstzweck, solange die Ergebnisse keine hinreichende Berücksichtigung in einer nationalen und globalen Health-in-All-Politik finden. Und so lange wie realitätsferne Modellbetrachtungen aus der Ökonomie erheblich größeren Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheidungen nehmen als tausendfach belegte Zusammenhänge zwischen Lebensbedingungen und Gesundheit.

Auf den ersten Blick erscheint die Stellungnahme der Leopoldina zu Public Health als hervorragend gelungene Komposition aus Wort- und Begriffshülsen, die praktisch alle Aspekte benennen, aber kaum etwas davon mit Inhalt hinterlegen. Das Ganze ist garniert von wiederholten abrupten und inhaltlich nicht nachvollziehbaren Aneinanderreihungen (z.B. S. 30, linke Spalte Mitte und re. Spalte oben). Aus diesem dahin plätschernden Sammelsurium fallen allein biomedizinisch-naturwissenschaftliche Einzelaspekte heraus, die ein armseliges Verständnis von "Public Health" offenbaren, dabei aber klar die Stoßrichtung der angestrebten Neuausrichtung dieser Wissenschaft in Deutschland vorgeben.

Das lässt nichts Gutes ahnen. Tatsächlich ist die eigentliche Botschaft bedrohlich. Auch wenn der Begriff an keiner Stelle auftaucht, kann die Omics-Forschung - zumal bei ihrer bisher (?) ausschließlich individualmedizinischen Ausrichtung - letztlich doch eher auf die menschliche Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit der Spezies Mensch gegenüber den herrschenden Umwelt- und Lebensbedingungen Einfluss nehmen als "die Umgebung und Gesellschaft so zu ändern, dass sie zum menschlichen Körper passen" (S. 33), wie das Leopoldina-Papier vollmundig behauptet. Mit dieser Logik lässt sich nicht nur die Forderung nach Änderung der krank machenden Verhältnisse aushebeln und damit die Auseinandersetzung mit machtvollen Strukturen vermeiden. Sie ist zynisch, bahnt sie doch bisher ungeahnte Möglichkeiten zur sozialen Selektion: Only the fittest survive - wer nicht genügend Resilienz erwerben kann, muss mit den katastrophalen Verhältnissen leben und sterben.

Die Leopoldina-NaturforscherInnen stellen ihre Stellungnahme als Volltext kostenfrei zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 28.6.15