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GKV-Versicherte warten 15 Tage länger auf einen Dermatologen-/Neurologentermin als PKV-Versicherte

Artikel 2711 Zu den immer wieder kritisierten und debattierten Auswirkungen des international nahezu einzigartigen Nebeneinanders von gesetzlicher und privater Krankenversicherung in Deutschland, gehört, dass privat Versicherte insbesondere Termine bei Fachärzten mit wesentlich geringeren Wartezeiten erhalten als gesetzliche Versicherte.
Dies wurde in der Vergangenheit mehrfach durch standardisierte Befragungen von Versicherten beider Versicherungssysteme und Ärzt:innen bestätigt.

Die mit dieser Art von Erhebungsdesign verbundenen methodischen Limitationen (z.B. retrospektives Design, Unterrepräsentation Privatversicherte) motivierte eine Wissenschaftler:innengruppe der Universität Marburg und der Technischen Hochschule Nürnberg die Frage einer "[institutionellen Diskriminierung]" (zur Begriffswahl und ihrem theoretischen Hintergrund siehe Ausführliches im Beitrag) durch die Terminvergabe von Fachärzten mit einer anspruchsvolleren und erweiterten Methodik zu untersuchen.

Dabei handelt es sich um ein so genanntes [Mixed-Methods-Design]. Als erstes wurde in einem zweisemestrigen studentischen Forschungsprojekt eine Stichprobe von 410 Praxen der Fachgebiete Dermatologie und Neurologie in 41 Großstädten gezogen. Im April und Mai 2019 wurden dann diese Praxen von den Studierenden entlang eines einheitlichen Anrufprotokolls mit Angaben zum Krankheitsbild (kein akuter Notfall aber Untersuchungsbedarf) mit dem Ziel eines Termins zweimal angerufen. Einmal gaben sich die Anrufenden als gesetzlich und beim zweiten Mal als privat versicherte Personen aus. Vereinbarte Termine wurden nach wenigen Tagen wieder storniert.

Die Ergebnisse der 708 erfolgreichen Anrufversuche (zu den Gründen der Differenz zu den theoretisch möglichen 820 Anrufen siehe den Aufsatz) zeigen deutliche Unterschiede in den Wartezeiten:
• Gesetzlich Versicherte warten durchschnittlich 15 Tage länger auf einen Termin bei den beiden Facharztgruppen als privat Versicherte.
• Der Median der Wartezeit bei GKV-Versicherten beträgt 34, der von PKV-Versicherten 19 Tage.
• Die Wartezeit bei Dermatolog:innen ist signifikant kĂĽrzer (Median 23 Tage) als bei Neurolog:innen (Median 33 Tage).
• In Ostdeutschland warten Patient:innen signifikant länger auf einen Facharzttermin (Median 33, Westdeutschland 24 Tage).

An einer sich anschließenden qualitativen Fragebogenbefragung der angerufenen Praxen zu den Gründen ungleicher Wartezeiten und den Vorstellungen wie dies zu ändern wäre, antworteten von 378 kontaktierten Praxen nur 22. Die Ergebnisse müssen daher nach Ansicht der Autor:innen "vorsichtig interpretiert" werden.
Als Hauptursache werden diverse wirtschaftliche Nachteile bei der Behandlung von GKV-Versicherten genannt (bei PKV-Versicherten bessere Bezahlung und schnellerer Erhalt des Geldes).
Die am häufigsten genannte Änderungsforderung war die Abschaffung des GKV-Budgetierungssystems und die Wiedereinführung der Vergütung nach Einzelleistungen.

Der 23 Seiten umfassende Aufsatz Diskriminierung im deutschen Krankenversicherungssystem: Werden gesetzlich Versicherte bei der Terminvergabe von Fachärzten benachteiligt? von A. Breitenbach (Marburg) und M. Heinrich (Nürnberg) ist 2023 im "Social Science Open Access Repository" veröffentlicht worden und komplett erhältlich.

Bernard Braun, 17.10.23


Bei einem Drittel der Beschäftigten passt der Job nicht zum Abschluss - Mismatches, unbezahlte Überstunden und GKV-Finanzen

Artikel 2683 Viele der ständig heiß diskutierten sozialpolitischen Projekte sind nachträgliche Flickversuche unerwünschter Folgen jahrzehntelang zu geringer Einkommen - ganz aktuell gilt dies für die Grundrente. Dies gilt auch, wenn es um die (Über-)Lebensfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geht. Wie schon mehrfach in diesem Forum dargestellt, entstehen Finanzierungs- und damit auch Leistungsprobleme der GKV also gar nicht oder lediglich sekundär durch die Über-Inanspruchnahme von Leistungen oder eine "Kostenexplosion", sondern von zu geringen Einnahmen auf der Basis von zu niedrigen beitragspflichtigen Bruttoeinkommen.

Auf eine besondere Variante der Verringerung der insgesamt verbeitragbaren Einkommen weist jetzt eine Studie über das relativ häufige Mismatch zwischen Qualifikations- und Anspruchsniveau des Arbeitsplatzes hin. Dies bedeutet, dass Arbeitnehmer "Tätigkeiten aus(üben), die nicht ihrer formalen Qualifikation entsprechen. Wenn beispielsweise eine Hochschulabsolventin eine Stelle hat, die keinen akademischen Abschluss erfordert, so ist sie für ihren Arbeitsplatz formal überqualifiziert. Geht der Absolvent einer beruflichen Ausbildung einer Beschäftigung nach, die normalerweise von Akademikern ausgeübt wird, so ist er formal unterqualifiziert." Geht man davon aus, dass formale Qualifikation und Art der Tätigkeit bei rund zwei Drittel der Beschäftigten zueinander passen dürfte dies auch zu einem angemessenen Einkommen führen. Bei den rund 20% der unterqualifiziert Beschäftigten und den 15% der überqualifiziert Beschäftigten dürfte dies nicht der Fall sein oder entspricht das Gesamteinkommen beider Beschäftigtengruppen nicht dem aufgrund ihrer formalen Qualifikation "eigentlich" angemessenen Einkommensniveau. Die unterqualifizierten Beschäftigten dürften in der Regel mit Hinweis auf das Fehlen formaler qualifikatorischer Voraussetzungen für ihre Arbeit ein geringeres Einkommen erhalten, als wenn formal höher qualifizierte Personen an ihrer Stelle beschäftigt wären. Und überqualifizierte Beschäftigten dürften unter Hinweis auf die Art ihrer Tätigkeit ein geringeres Einkommen erhalten als das welches ihrer Qualifikation entspricht oder das sie erhalten würden, wenn sie höherwertigere Tätigkeiten ausüben würden. In beiden Konstellationen sind die Arbeitgeber dieser Beschäftigten die Gewinner, ohne dass bewiesen ist, dass sie das Mismatching gezielt herbeiführen.

Da der Einkommenssprung von einer unterbezahlten Tätigkeit in eine dem formal höheren Qualifikationsniveau entsprechende Tätigkeit in der Regel größer ist als die Einkommensverringerung, die eintritt, wenn ein formal unterqualifizierter Beschäftigter eine Tätigkeit ausübt für die er auch formal qualifiziert ist, ist bei einem inhaltlich korrekten Matchen von Qualifikation und Tätigkeit das Gesamteinkommen der 35% dieser Beschäftigtengruppen angehörigen Personen höher und damit auch die Einnahmen durch Beiträge.

Unabhängig davon führt aber eine qualifikationsgerechte Beschäftigung schließlich zu einer höheren Zufriedenheit und in deren Folge fällt auch die Produktivität oder die Gesundheit dieser Beschäftigten besser aus als bei dem existierenden Mismatching. Selbst wenn eine Korrektur dieser Fehlbeschäftigungen keinen direkten Einkommens- und Beitragseffekt hätte, wirkt sie sich für Sozialversicherungsträger also insgesamt positiv aus.
Die beschriebenen Zusammenhänge verdienen aber in jedem Fall weiterer Untersuchungen.

Die Basis liefert der Aufsatz Berufliche Qualifikationsmismatches bei Beschäftigten von Pierre-André Gericke und Alfons Schmid, der in den WSI-Mitteilungen Ausgabe 6/2019: 451-458 erschienen ist. Leider ist nur eine magere Kurzzusammenfassung kostenlos erhältlich.

Man braucht aktuell nicht lange suchen, um weitere Beispiele für einkommens- und damit auch beitragsmindernde Praktiken zu Lasten von Arbeitnehmern und Sozialversicherungsträger zu finden. So meldete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit am 3.12.2019 in der Pressemitteilung Durchschnittliche Arbeitszeit und ihre Komponenten in Deutschland, dass es im 3. Quartal 2019 223,2 Millionen unbezahlte Überstunden gab. Hochgerechnet auf das gesamte Jahr ergäbe dies zwischen 900 Millionen und 1 Milliarde Stunden unbezahlter und damit beitragsloser Arbeit, obwohl in diesen Stunden produktive Arbeit geleistet wird und mit den geschaffenen Gütern oder Dienstleistungen Gewinne erzielt werden. Hinzu kommen noch etwas mehr bezahlte Überstunden.

Wer glaubt, es handle sich um ein vorübergehendes Phänomen findet dafür keinen Beleg. Laut der jüngsten IAB-Auswertung bewegte sich die Anzahl der unbezahlten Überstunden seit dem ersten Quartal 2017 - und wahrscheinlich auch davor - in jedem Quartal immer mehr oder weniger deutlich über der 200 Millionen-Marke.

Bernard Braun, 12.12.19


Wie Geringqualifizierte in Deutschland zur Einnahmeschwäche der GKV beitragen und wie dies vermieden werden könnte.

Artikel 2664 Nachdem die Debatte um eine durch die Nachfrage(r) von Gesundheitsleistungen verursachte "Kostenexplosion" im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit einiger Zeit eingeschlafen zu sein scheint, lohnt es sich quasi prophylaktisch die Ursachen und Triebkräfte der für die Beitragssatzentwicklung hauptsächlich verantwortlichen Einnahmeschwäche der GKV zu identifizieren.

Eine im Juli 2019 veröffentlichte Studie, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit und dem Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung über Geringqualifizierte in Deutschland erstellt wurde, liefert dafür aktuelle Belege und zeigt vor allem, dass und wie es auch anders als in Deutschland gehen könnte.

Die Studie beginnt mit zwei erfreulichen Nachrichten: Der Anteil der Menschen mit geringer Qualifizierung, d.h. ohne Schulabschluss oder höchstens mit Haupt-/Realschulabschluss an der erwerbsfähigen Bevölkerung ist zwischen 25 und 64 Jahren von 27% im Jahr 1985 auf 12% im Jahr 2016 gesunken. Die Erwerbstätigenquote der Geringqualifizierte ist in den alten Bundesländern von 48% auf 63% gestiegen.

Betrachtet man die Entwicklung und heutige Situation differenzierter, enden die erfreulichen Ergebnisse: Auch wenn in Westdeutschland der Anteil der Geringqualifizierten mit einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung von 1985 bis 2016 nahezu unverändert bei rund 30% liegt, steigt im selben Zeitraum der Anteil mit atypischen Beschäftigungsverhältnissen (u.a. marginale oder geringfügige Beschäftigung, Befristung/Zeitarbeit) kräftig an.
Trotz eines leichten Rückgang von 2015 auf 2016 (Ursache dürfte die Einführung des Mindestlohns sein), stieg der Anteil der beschäftigten Geringqualifizierten seit 1990 bzw. 1995 in den alten wie neuen Bundesländern um über 25 bzw. rund 20 Prozentpunkte an und erreicht fast 30% bzw. etwa 80% im Jahr 2016. Niedriglohn bezieht man, wenn man weniger als zwei Drittel des Median-Bruttostundenlohn (dieser liegt genau in der Mitte, wenn man die Gruppe der Lohnbezieher in zwei große Gruppen teilt).
Für die beitragsfinanzierte GKV in welcher der Beitrag bis zu einem bestimmten Einkommen ein Teil des Bruttoeinkommens ist, bedeutet diese Situation ohne Beitragssatzerhöhung geringe oder deutlich unterdurchschnittliche Einnahmen bei vollem Leistungsanspruch.
Die sozial- und gesundheitspolitisch zentrale Frage ist, ob diese Einnahmeschwäche vermeidbar oder wenigstens deutlich gemindert werden könnte.

Die Studie zeigt dann mittels eines internationalen Vergleichs, dass und welche Einflußmöglichkeiten auf die Lage der Geringqualifizierten außerhalb des Verantwortungs- und Handlungsbereichs der GKV existieren und in anderen Ländern auch mit sichtbarem Erfolg genutzt werden.
So erhielten 2014 in Deutschland 50% der Geringqualifizierten einen Niedriglohn. In Großbritannien waren es 33%, 25% in Dänemark, 18% in Frankreich und schließlich nur 5% in Schweden. Dieser Anteil war nur in der Slowakei und Kroatien höher, also schlechter als in Deutschland.
Als Ursachen der besseren Einkommenssituation der Geringqualifizierten in den genannten Ländern nennen die AutorInnen einen höheren Mindestlohn und vor allem das nachhaltige Angebot von Bildung und Weiterbildung. Laut einer entsprechenden Frage in der EUROSTAT-Befragung nahmen 2018 4,3% der 25-64-jährigen deutschen Befragten mit einem maximalen Bildungsniveau Sekundarbereich I an einer Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahme teil und 7,1% der Befragten mit dem maximalen Bildungsniveau Sekundarbereich II/postsekundar/nichttertiär. Diese Anteile betrugen z.B. in Schweden 21,1% und 24,7% und auch in Großbritannien noch 5,9% und 12,2%.
Mit einer Erhöhung des Mindestlohns, der Abschaffung von Vermeidungs-"Schlupflöchern", einer aktiveren Arbeitsmarkt-und Bildungs-/Weiterbildungspolitik speziell für Geringqualifizierte ließe sich also in Deutschland sowohl deren Lebensqualität erheblich verbessern als auch die mit geringer Qualifikation assoziierte Einnahmeschwäche der GKV und anderer beitragsfinanzierter Sozialversicherungsträger reduzieren.
Diese und noch viele andere Einblicke in die soziale Lage von Geringqualifizierten finden sich in der kostenlos erhältlichen 120-seitigen Studie Geringqualifizierte in Deutschland. Beschäftigung, Entlohnung und Erwerbsverläufe im Wandel von Werner Eichhorst, Paul Marx, Tanja Schmidt, Verena Tobsch, Florian Wozny und Carolin Linckh.

Bernard Braun, 31.8.19


Deutschland mal wieder Weltmeister: Geburt eines Kindes verschlechtert erheblich und nachhaltig das Einkommensniveau von Frauen

Artikel 2643 Über die systematische soziale und ökonomische Benachteiligung von erwerbstätigen Frauen gegenüber Männern auch und gerade in entwickelten Ländern oder Wohlfahrtsstaaten (diverse gender gaps) und die dadurch auch für Sozialversicherungsträger, deren Beiträge auf der Basis von Erwerbseinkommen erhoben werden, entstehenden Nachteile wurde in diesem Forum bereits mehrere Male berichtet.

Eine Anfang 2019 erschienene international vergleichende empirische Studie von WissenschaftlerInnen aus den USA, Großbritannien und der Schweiz über so genannte "child penalties" (Strafe für oder Nachteil durch ein Kind) in Dänemark und Schweden, Österreich und Deutschland sowie Großbritannien und den USA weist auf eine besonders gravierende und vor allem langfristig-dauerhaft folgenreiche Variante hin.
Untersucht wurde in den sechs Ländern mit unterschiedlichen längsschnittlichen Daten (in Deutschland z.B. mit den Daten des Sozioökonomischen Panels) die Entwicklung der Einkommen von Männern und Frauen von vor der Geburt des ersten Kindes bis zum zehnten Jahr nach dieser Geburt. Auch wenn bereits vor dieser Studie bekannt war, dass Frauen auch in Ehen oder festen Partnerschaften immer noch (nach einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer Stiftung gibt es sogar auf dem sowieso nicht hohen Niveau der Männer/Väterbeteiligung an der Kindererziehung eine Art Roll-Back der Lastenverteilung zu Ungunsten der Frauen/Mütter im Verlauf einer Ehe oder Partnerschaft) die Hauptarbeit mit der Kinderbetreuung und deren Folgen haben und damit auch Einkommenseinbußen erleiden, war die Intensität und Dauerhaftigkeit der "Strafe" für Frauen noch nicht so klar.

Das generelle Ergebnis ist, dass in allen Ländern Männer/Väter gar keine oder höchstens kleine und schnell vorübergehende Einkommenseinbußen erfuhren, Frauen/Mütter dagegen unmittelbar nach der Geburt beträchtliche Einbußen, die sich auch 10 Jahre nach der Geburt des ersten Kindes lediglich auf einem immer noch deutlich unter dem Einkommensniveau im Jahr vor der Geburt einpendelte. Die "Kindergebärstrafe" verstetigte sich also wahrscheinlich für den größten Teil des Erwerbslebens, wenn nicht sogar für die gesamte Erwerbseinkommenzeit. Dabei gibt es aber zwischen den und innerhalb der Ländergruppen erhebliche Unterschiede was die Intensität der Einkommensverluste von Frauen mit Kindern angeht.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie lauten:

— Die so genannte "long-run penalty" für die Frauen nach Geburt ihres ersten KIndes pendelte sich in Dänemark und Schweden auf 21% und 27% ein. Im ersten Jahr nach der Geburt war die "Strafe" in Schweden (rund minus 62%) unerwartet deutlich größer als in Dänemark (rund minus 33%)
— Die "long-run penalty" betrug in Großbritannien 44% und in den USA 31%. Die Verringerung des Einkommens der Frauen unmittelbar nach der Geburt ihres ersten Kindes war weniger groß als in den skandinavischen Ländern. Während dort die Einkommen der Männer nach der Geburt ihres ersten Kindes kaum zurückgingen und sogar im 10-Jahres-Beobachtungszeitraum anstiegen, nahmen sie in den angelsächsischen Ländern ab, allerdings bei weitem nicht so stark wie bei Frauen.
— In den beiden deutschsprachigen Ländern gleicht die Verringerung der Einkommen der Frauen einem Absturz und zwar um knapp unter (Deutschland) und über 80% (Österreich). Die "long-run penalty" betrug dann in Österreich 51% und in Deutschland 61% - was dann auch der Spitzenwert der Untersuchung war.
— Langfristig war also der Einkommensverlust von Frauen mit Kind in Deutschland fast dreimal so hoch wie der der skandinavischen Frauen.

So klar die Ergebnisse sind, so unsicher fallen die Erklärungsversuche aus. Als erstes wird der mögliche Einfluss der unterschiedlichen staatlichen Kinderpolitiken (z.B. Dauer des Mutterschaftsurlaubs, Steuervergünstigungen) untersucht. Obwohl sie einige "short-run effects" sehen, kommen die AutorInnen zu dem Schluss, "that child penalties are not driven primarily by public policies". Als Erklärungsalternative verweisen sie dann auf "gender norms and culture" in der Gesellschaft und in Familien. Ein Ergebnis der "correlation between child penalties and gender norms" lautet dann auch: "The countries that feature larger child penalties are also characterized by much more gener conservative views". Da es sich bei der Studie aber um eine Beobachtungsstudie handelt, schränken die AutorInnen selber ihre Erklärungsergebnisse mit dem Hinweis ein, dass kausale Schlüsse unzulässig sind und in die Irre führen können. Hier besteht also weiterhin dringender Forschungsbedarf.

Egal welche Erklärung letztlich zutrifft oder eben nur eine Mischung verschiedener Erklärungen hilft, verschlechtern derartige Einkommensverluste einerseits spürbar die laufende materielle Lebensqualität der Frauen, mindern andererseits kurz- bis langfristig bei gleichen Leistungsansprüchen die Einnahmen der Sozialversicherungsträger und wirken sich langfristig negativ auf die materielle Situation von Frauen im Rentenalter aus. Gründe genug um noch wesentlich genauer hinzuschauen, warum die unerwünschten Folgewirkungen von Geburten insbesondere in Skandinavien deutlich geringer sind.

Die Studie Child Penalties Across Countries: Evidence and explanations von Henrik Kleven, Camille Landais, Johanna Posch, Andreas Steinhauer und Josef Zweimüller ist im Januar 2019 erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 25.1.19


Wie sich die Sozialversicherungsbeiträge um bis zu 6,7 Beitragspunkte senken ließen - die versicherungsfremden Leistungen

Artikel 2625 Zu den gewichtigsten und in unregelmäßigen Abständen kritisch betrachteten "Zügen" auf dem "Verschiebebahnhof" von beträchtlichen Ausgaben zu Lasten der Sozialversicherungsträger gehören die so genannten versicherungsfremden Leistungen. Dabei handelt es sich um gesellschaftspolitisch gewollte oder erwünschte Leistungen, die nicht dem Charakter der Renten-, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung entspringen oder entsprechen, also "eigentlich" auch nicht mit den von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (letzteres ist letztlich auch als Lohnbestandteil eine Arbeitnehmerleistung) bezahlten Beiträgen finanzieret werden dürften, sondern aus Steuermitteln.

Dass es dabei nicht um die sprichwörtlichen Peanuts geht, zeigt die aktuellste Studie zum Thema für das "Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)" der Böckler-Stiftung. Danach beliefen sich die versicherungsfremden, also nicht adäquat finanzierten Leistungen 2016 auf folgende Beträge:

• Nach Verrechnung der versicherungsfremden Leistungen zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) (vor allem die familienpolitisch erwünschte beitragsfreie Mitversicherung von Kindern, Jugendlichen und nicht erwerbstätigen Ehegatten der Mitglieder oder beitragsfrei mitversicherte Familienmitglieder der Rentner) mit dem Bundeszuschuss in die GKV-Kassen kosteten versicherungsfremde Leistungen die GKV 28,7 Milliarden Euro, also knapp 13% ihrer Gesamteinnahmen in Höhe von 224,15 Mrd. Euro.
Dabei dürfte es sich um einen Mindestbetrag handeln, da zum einen die Ausgabenschätzungen differieren und zum anderen dabei noch beispielsweise die beträchtlich über den Einnahmen liegenden Ausgaben für Bezieher von Arbeitslosengeld fehlen.
• Je nach Schätzung schwanken die Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen (z.B. Renten für Spätaussiedler, diverse Leistungen vor dem Beginn der normalen Altersrenten, Hinterbliebenenrente) ach Abzug der Bundeszuschüsse aus Steuermitteln der Gesetzlichen Rentenversicherung zwischen 26,1 und 48,5 Mrd. Euro.
• Bei der Bundesagentur für Arbeit liegt der Betrag für versicherungsfremde Leistungen (z.B. Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben, spezielle Maßnahmen für Jüngere) nach Abzug von Zuschüssen aus Steuern 3.3 Mrd. Euro.
• Insgesamt mussten die drei Sozialversicherungsträger im Jahr 2016 versicherungsfremde Leistungen in Höhe von minimal 58,1 und maximal 80,5 Mrd. Euro aus ihren Beiträgen finanzieren.

Würden alle diese Leistungen wegen ihres gesellschaftlichen Charakters aus Steuermitteln finanziert, könnten die Träger entweder ihre Leistungsniveaus erhöhen oder die Beiträge senken. Bei der Rentenversicherung könnte der Betrag zwischen 2,2 und 4,2 Beitragspunkte sinken, in der GKV um 2,2 Prozentpunkte und in der Arbeitslosenversicherung um 0,3 Punkte. Die in internationalen Vergleichen regelmäßig beklagte Sozialbeiträge"last" könnte also im Extremfall um insgesamt 4,7 bis 6,7 Beitragspunkte sinken. Wenn man erlebt, mit welchem Aufwand um die Reduktion von wesentlich weniger Beitragssatzpunkten oder um bescheidenste Erhöhungen der Leistungsausgaben z.B. in der GKV gerungen wird, ist die fast immer geringe Rolle, die dabei die Fehlfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen, verwunderlich, aber durchaus erklärlich.

Der Autor der Studie verweist zu Recht darauf, dass bei der Umfinanzierung zu Lasten der Steuerkasse "nicht angestrebte Verteilungseffekte entstehen" könnten, also z.B. die dann möglicherweise fälligen Steuererhöhungen (z.B. im Fall einer Mehrwertsteuererhöhung) vorrangig die BürgerInnen mit geringem oder mittleren Einkommen, also zum Großteil Sozialversicherte treffen könnten.

Die im April 2018 veröffentlichte, 20 Seiten umfassende Studie Versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung von V. Meinhardt (Reihe: IMK Studies, Nr. 60.) ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 10.5.18


18,7 Millionen Hartz IV-Empfänger zwischen 2007 und 2017 bedeuten auch zig Milliarden Euro Mindereinnahmen für die GKV

Artikel 2618 Seit Beginn der erklärten Politik zur Kostendämpfung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 1977 gehört paradoxerweise der Verschiebebahnhof von eigentlich aus Steuermitteln zu finanzierenden Ausgaben (z.B. die familienpolitisch für sinnvoll erachtete beitragsfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern, der Aufbau der GKV in den neuen Bundesländern, Absenkung der von der Renten- und Arbeitslosenversicherung zu zahlenden GKV-Beiträge) zum Stammrepertoire der Gesundheitspolitik.
Dies setzt sich mit der Einführung des Arbeitslosengelds II durch die Hartz-Gesetzgebung bruchlos und massiv fort.

In einem Gutachten des IGES-Instituts für das Bundesgesundheitsministerium vom 7. Dezember 2017 wurde auch gezeigt wie viel die Bundesregierung zu Lasten der GKV einspart:

• Um die bei vielen langjährigen Hartz IV-Empfängern sowieso überdurchschnittlichen Gesundheitsausgaben decken zu können, hätte die GKV 2016 15,486 Milliarden Euro einnehmen müssen. Tatsächlich waren es aber nur 5,896 Mrd. Euro, d.h. nur rund 38%.
• Statt der knapp 100 Euro, die der Bund monatlich für jeden Hartz IV-Bezieher Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeiträge bezahl, wäre ein monatlicher Beitrag zwischen 275,31 Euro und 289,20 Euro kostendeckend.
• Dass diese Beträge nicht außerhalb des Finanzhorizonts der Bundesregierung liegen zeigt die Tatsache, dass in der PKV versicherte Hartz IV-Bezieher bis zu 341 Euro Beiträge erhalten.

Wer hier vielleicht noch denkt, dass es sich hier um ein Einjahresereignis handelt, wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eines Schlechteren belehrt. Auf eine kleine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann zur Anzahl der Hartz IV-Empfänger seit 2005 antwortete die parlamentarische Staatssekretärin des BMAS am 13. März 2018, zwischen 2007 und 2017 hätte es 18,23 Millionen so genannte Regelleistungsberechtigte gegeben, darunter 5,47 Millionen unter 15-Jährige. Auch wenn diese nicht die gesamte Zeit mit Hartz IV leben mussten, lässt sich bei durchschnittlich rund 5 Millionen Hartz IV-Bezieher pro Monat (im Februar 2018 waren es laut der Bundesagentur für Arbeit 5,95 Millionen, von denen 4,26 erwerbsfähig waren) leicht schätzen, dass für diese 10 Jahre der GKV mindestens 70 bis 80 Mrd. Euro zu wenig Beiträge bezahlt worden sind und diese für die Versorgung notwendigen Beträge solidarisch von den restlichen Beitragszahlern bezahlt worden sind.

Darüber hinaus zeigen aber diese Zahlen, dass Hartz IV-Armuts- oder Mangelerfahrungen durchaus zur Normalität breiter Bevölkerungsteile gehören. Wäre nicht die deutlich höhere Beitragszahlung für die in der PKV versicherten Personen, könnte die Bundesregierung eventuell noch darauf hinweisen, dass in der GKV als Solidargemeinschaft (§ 1 SGB V) der Beitrag nicht kostendeckend sein muss, sondern die höheren Ausgaben für viele Versicherte durch Beiträge von anderen Versicherten, die deutlich weniger Ausgaben haben als sie Beiträge zahlen, ausgeglichen wird.

Das IGES-Gutachten GKV-Beiträge der Bezieher von ALG II. Forschungsgutachten zur Berechnung kostendeckender Beiträge für gesetzlich krankenversicherte Bezieher von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld im SGB II von M. Albrecht et al. Ist kostenlos erhältlich.

Die Auskünfte zur Anzahl der Hartz IV-Empfänger 2007-2017 findet man in der Bundestagsdrucksache 19/1241 auf den Seiten 52ff.

Bernard Braun, 26.3.18


Trotz Boom: Fast 40% atypisch Beschäftigte. Negative Folgen für die Finanzierung der Sozialversicherungsleistungen!

Artikel 2565 Schon seit vielen Jahren spielt der Anteil so genannter atypischer Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung für die bruttolohnbasierte Beitragsfinanzierung aller Sozialversicherungsträger eine belastende Rolle. Relevant ist dabei sowohl die absolute Anzahl dieser oft teilzeitbeschäftigten Personen als auch die teilweise geringe Höhe ihrer Einkommen.

Die neueste Auswertung der WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung" sieht so aus:

• 2016 waren rund 39,6 Prozent aller abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse (ohne Beamte und Selbständige) solche mit atypischen Bedingungen. 2015 lag die Quote bei 39,3 Prozent.
• Die Zahl der oft besonders schlecht bezahlten und abgesicherten Minijobber im Haupterwerb hat zwar im selben Zeitraum um etwa 46.000 Beschäftigte abgenommen - lag aber immer noch bei 5,14 Millionen.
• Etwa 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten arbeiteten in Teilzeitjobs - zum Teil unfreiwillig. Diese Gruppe machte den größten Anteil der atypischen Beschäftigung aus.
• Mit einem Anteil von gut 28 Prozent sind bei den Teilzeitbeschäftigten Stundenlöhne unter der Niedriglohngrenze von 9,75 Euro brutto weit verbreitet. Bei den Vollzeitbeschäftigten beträgt diese Quote nach Auswertungen des Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) für 2015nur etwa 11 Prozent.
• Ähnlich schlecht entlohnt werden die Leiharbeiter deren Anteil an den abhängig Beschäftigten im Jahr 2016 bei 2,6 Prozent lag. 46% von ihnen waren von niedrigen Löhnen betroffen.

Obwohl immer wieder von einer arbeitsmarktpolitisch äußerst günstigen Situation in Deutschland gesprochen wird, sinkt nicht nur der Anteil atpisch Beschäftigter nicht, sondern steigt noch leicht an. Und damit ändert sich nichts daran, dass ein erheblicher Teil von ihnen wegen ihrer niedrigen Bruttoeinkommen auch nur relativ geringe Beiträge in die gesetzlichen Sozialversicherungen (z.B. Kranken- oder Pflegeversicherung)einzahlen kann.

Die WSI-Datenbank "Atypische Beschäftigung" ist für weitere Recherchen kostenlos zugänglich.

Bernard Braun, 19.5.17


Deutschland: Platz 15 im EU-Vergleich der Lohnnebenkosten oder wie wenig gefährden sie den Wirtschaftsstandort

Artikel 2464 Zu den jahrzehntelangen Lieblingsargumenten von Arbeitgeberverbänden, ihnen nahestehenden politischen Akteuren und unterschiedlichen Regierungen gehört die Gefährdung des Wirtschaftsstandortes durch die zu hohen Lohnnebenkosten und Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung. Es blieb auch nicht bei Argumenten, sondern führte zuletzt zum Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags zur gesetzlichen Krankenversicherung und damit zur ausschließlichen Beitragsbelastung der GKV-Mitglieder im Falle künftiger Ausgabensteigerungen. Wer für die Vergangenheit mehr über diese ideologische Kampagne wissen will, wird mit dem Suchwort Lohnnebenkosten im forum-gesundheitspolitik.de vielfach fündig.

Der jüngste EU-Vergleich der Lohnnebenkosten der Privatwirtschaft im Verhältnis zu den Bruttoverdiensten im Jahr 2014 zeigt, was von dem Gefährdungsargument im Moment zu halten ist.
Sämtliche Lohnnebenkosten kosteten Arbeitgeber nämlich in der EU-28 zusätzlich zu 100 Euro Bruttoverdienst 31 Euro und in der EU-18 35 Euro. Spitzenreiter waren Frankreich mit 47 Euro, Schweden mit 46 Euro, Belgien mit 44 Euro und erst an fünfzehnter Stelle Deutschland mit 28 Euro. Schlusslichter waren Dänemark mit 15 Euro und Malta mit 9 Euro. Wichtige Handelspartner, mithin Wettbewerber, hatten also mehr Lohnnebenkosten als Deutschland, deren Arbeitgeber sogar im EU-Bereich unterdurchschnittlich belastet wurde.
Berücksichtigt man nun noch, dass Lohnnebenkosten auch und vor allem Ausgaben für Urlaub, Weiterbildung, Arbeitsschutz und nur zum kleineren Anteil Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sind, erkennt man die Hohlheit der Lohnnebenkostendebatte als Arbeitgeberbeitrags-Kürzdebatte noch klarer. Deren Ziel ist nicht die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Erhöhung des Gewinns.

Die Tabelle mit dem EU-Vergleich der Lohnnebenkosten findet sich seit Mitte April 2015 auf der Website des Statistischen Bundesamtes.

Und selbst wenn dagegen u.a. im wirtschaftsnahen Handelsblatt eingewandt wird, bei den Arbeitskosten sähe es belastender aus, stimmt dies nicht in der beabsichtigten Dramatik. In dem am 4. Mai 2015 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Arbeitskostenvergleich, d.h. der Bruttoverdienste und Lohnnebenkosten 2014 lag Deutschland mit 31.80 Euro im Bereich der Privatwirtschaft auf Platz 8 und beim verarbeitenden Gewerbe auf Platz 4. Richtig ist aber, dass dieser Betrag über dem EU-Durchschnitt liegt und nach über einem Jahrzehnt Stagnation seit 2011 stärker steigt als in anderen Ländern. Die Übersicht Arbeitskosten in der EU gibt es kostenlos .

Bernard Braun, 5.5.15


Kosten für den Einzug aller Sozialversicherungsbeiträge zwischen Selbstverwaltung, Wollen, Können und Rechtsverordnung

Artikel 2462 Für alle diejenigen, die sich kritisch mit der Verwaltungspraxis von gesetzlichen Krankenkassen beschäftigen und diese selbsteinschüchternd für omnipotent halten, könnte eine mehrjährige ungeklärte und jetzt vom Bundesrechnungshof monierte Debatte über die Kosten des Einzugs des Gesamtsozialversicherungsbeitrags durch die GKV-Kassen, doch etwas nachdenklicher stimmen.

Den Sachverhalt fasst der Rechnungshof in einem am 24. April 2015 veröffentlichten Nachtrag zu seinem seinem Jahresbericht 2014 so zusammen: "Arbeitgeber müssen für ihre Beschäftigten an die Krankenkassen den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zahlen. Er enthält die Beiträge zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Krankenkassen ziehen diese Beiträge ein und leiten sie weiter, und zwar an den Gesundheitsfonds (Beitrag zur Krankenversicherung), die Pflege-kassen (Pflegeversicherung), die Bundesagentur für Arbeit (Arbeitslosenversicherung) und an die Rentenversiche-rungsträger (Rentenversicherung). Im Jahr 2014 beliefen sich die Gesamtsozialversicherungsbeiträge auf insgesamt 333 Mrd. Euro."

Und: "Die Krankenkassen haben den Beitragseinzug wirtschaftlich und sparsam durchzuführen (§ 69 Absatz 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IV). Außerdem ist in geeigneten Bereichen eine Kosten- und Leistungsrechnung einzuführen (§ 69 Absatz 4 SGB IV)."

Seitdem sich die damit vom Gesetzgeber betrauten (Stichwort: Stärkung der Selbstverwaltung) Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger zuletzt 2009 auf einen jährlichen Verwaltungskostenbetrag von 863 Mio. Euro geeinigt hatten, bewegt sich trotz mancher Veränderung der Versichertenzahl und technischen Veränderungen finanziell nichts mehr und trotz einiger Mahnungen steht hinter diesem oder einem anderen Betrag keinerlei Leistungs- und Kostenberechnung.

Es droht daher, dass den gesetzlichen Krankenkassen mal wieder nach eigenem Nichtstun(wollen/können) eine Selbstverwaltungsaufgabe weggenommen und durch Rechtsverordnung ersetzt wird: "Einigen sich die beteiligten Spitzenorganisationen nicht bald auf eine Vergütung, hält der Bundesrechnungshof gesetzgeberische Maßnahmen für dringend erforderlich. In diesem Fall käme auch in Betracht, die Vergütung wieder durch Rechtsverordnung festzulegen."

Die Bemerkungen 2014 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes- Weitere Prüfungsergebnisse und darin die Seiten 9 bis 11 gibt es kostenlos.

Bernard Braun, 27.4.15


Alter, saurer Wein wird auch nicht süßer, wenn der Kellner wechselt: Bundesbank und Dämpfung möglicher Gesundheitskosten-Explosion

Artikel 2377 In regelmäßigen Abständen prognostizieren wechselnde Institutionen und mehr oder weniger traditionelle Player der Gesundheitspolitik eine in absehbarer Zeit bevorstehende Finanzierungs- oder Ausgabenkrise der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), bewerten die bisherigen gesetzlichen Interventionen als wirkungslos und fordern stattdessen meist den "sauren Wein" oder die Ladenhüter von gut über 35 Jahren Kostendämpfungs-Gesundheitspolitik.
Die neuesten gesundheitspolitischen "Kellner" sind im Juli 2014 die Experten der "Deutschen Bundesbank", die einen Beitrag ihres "Monatsberichts" diesem Themenbereich widmen.

Die "Gänge" der Bundesbanker lauten so:

• "Die aktuelle Finanzlage der GKV stellt sich mit einem nochmaligen Überschuss im vergangenen Jahr und hohen Rücklagen auf den ersten Blick gut dar. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelt und ein wieder größerer finanzieller Druck absehbar ist. Nicht nur aufgrund des demografischen Wandels, sondern auch aufgrund einer grundsätzlich steigenden Nachfrage dürften die Gesundheitsleistungen künftig weiter an Bedeutung gewinnen. Soweit sich dies in der GKV niederschlägt, ist bei konstanten Beitragssätzen auch künftig eine Finanzanspannung infolge einer grundsätzlich schwächer wachsenden Beitragsbasis zu erwarten."
• "In Beitragssätze umgerechnet, würde sich gemäß den Vorausberechnungen der Europäischen Union bis zum Jahr 2060 ein Anstieg auf einen Wert zwischen 16,5 und 21,5 Prozent ergeben."
• "Diese grundlegenden Probleme im Rahmen einer Versicherung können mit verschiedenen Instrumenten eingedämmt werden, die in der gesetzlichen Krankenversicherung noch intensiver genutzt werden könnten. Ein Ansatzpunkt wäre eine höhere Transparenz für die Patienten über die in Rechnung gestellten Behandlungen und Kosten. Diese könnte beispielsweise durch einen (teilweisen) Wechsel vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungsprinzip verbessert werden."
• Und wenn Patientenquittungen, Selbstbehalte und Kostenerstattung kredenzt werden, dauert es meist nur wenige Zeilen bis die Kapitaldeckung an Stelle der angeblich untauglichen und nicht zukunftsfesten Umlagefinanzierung auftaucht: "Ein kapitalgedecktes System mit Alterungsrückstellungen wäre diesen Veränderungen weniger stark ausgesetzt. Allerdings wäre ein Wechsel des Finanzierungssystems übergangsweise mit Doppelbelastungen der Mitglieder verbunden, da sie zusätzlich zu den laufenden Ausgaben den Aufbau eines Kapitalstocks zu finanzieren hätten." Dass dieser Übergang Jahrzehnte dauern müsste und die Protagonisten der Kapitaldeckung bereits jetzt über eine zu hohe Sozialabgabenlast klagen, wird ebenso reflexartig verschwiegen.

Wer schließlich glaubt, die Maßnahmen der Bundesbank-"Kellner" seien wirklich hilfreich, sollte u.a. folgenden empirischen Sachverhalte in die Diskussion einbeziehen:

• Die Private Krankenversicherung (PKV) für rund 10% aller Krankenversicherten in Deutschland verfügt bereits über Kostenerstattung, Kapitaldeckung/Altersrückstellung, Selbstbehalte und eine Reihe weiterer "guten Tropfen", die Über- oder Fehlinanspruchnahme von Gesundheitsleistungen vermeiden helfen sollen. Dies hat empirisch bisher nicht die erwarteten oder erhofften Wirkungen gezeigt - im Gegenteil!
• Andere Länder mit jahrzehntelang dominierendem Kostenerstattungsprinzip, so Frankreich, planen gerade jetzt wegen seiner z.B. seit 1946 nicht wirklich nachweisbaren positiven Effekte, das Sachleistungsprinzip ŕ la GKV einzuführen.

Die wenigen Hinweise der Bundesbanker, es müsse z.B. auch über die Erhöhung der Erwerbstätigenrate etwas für die Finanzierung der GKV getan, also nach jahrzehntelanger Austrocknung durch Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit und Niedriglöhne die Einnahmenseite gestärkt werden und die guten Längsschnittübersichten über die Entwicklung wichtiger Eckgrößen der GKV, ändern an dem im Titel dieses Beitrags zugespitzt formulierten Eindruck nichts.

Der Aufsatz Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung und Herausforderungen für die Zukunft findet sich im "Monatsbericht der Deutschen Bundesbank - Juli 2014" und ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 24.7.14


Zwischen 14 und 20% aller abhängig Beschäftigten haben nach Einführung des Mindestlohns Anspruch auf Lohnerhöhung

Artikel 2338 Die aktuelle Ausgabe des seit Jahren vom "Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ)" der Universität Esssen-Duisburg erarbeiteten Niedriglohnbeschäftigungs-Report für das Jahr 2012 zeigt, dass sich entgegen manchen interessierten Debatten das Niedriglohnproblem für die Betroffenen aber auch die einkommensabhängig finanzierten Sozialversicherungsträger keineswegs "im Aufschwung" erledigt hat.

Auf der Basis der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) präsentiert der Report u.a. folgende Daten:

• Im Jahr 2012 arbeiteten 24,3% aller abhängig Beschäftigten für einen Stundenlohn unterhalb der bundeseinheitlichen Niedriglohnschwelle von 9,30 €. Diese Schwelle liegt bei zwei Drittel des mittleren Stundenlohns (Median) in Deutschland. Die Stundenlöhne wurden auf der Basis der Angaben zum Bruttomonatsverdienst und zur tatsächlich geleisteten Arbeitszeit berechnet. Es handelt sich demnach um die effektiven Stundenlöhne, die von vertraglich vereinbarten Stundenlöhnen abweichen können - etwa, wenn unbezahlte Mehrarbeit geleistet wurde.
• Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten ist seit 1995 von 5,9 auf 8,4 Millionen im Jahr 2012 gestiegen, was einer Zunahme um rund 2,5 Millionen (bzw. 42,1%) entspricht. Der prozentuale Anstieg der Niedriglohnbeschäftigung war in Westdeutschland weitaus höher als in Ostdeutschland.
• Der Anteil der Beschäftigten, die bei einem Mindestlohn von 8,50 € Anspruch auf eine Lohnerhöhung hätten, liegt je nach Berechnungsweise des Stundenlohns und der Grundgesamtheit zwischen 13,6% und 19,7% der abhängig Beschäftigten. Diese Anzahl von Beschäftigten würden daher auch etwas mehr an Sozialversicherungsabgaben zahlen - einen also nicht unerheblichen Betrag.
• Nicht zuletzt wegen dieser Zahlen warnen die Autoren vor einer quantitativ relevanten Ausdehnung der Ausnahmen vom Mindestlohn und fürchten andernfalls einen Wettbewerb zwischen Mindestlohn- und Nicht-Mindestlohngruppen bei den Beschäftigten. Außerdem würde durch die dann notwendigen Kontrollen ein sehr hoher Verwaltungsaufwand entstehen, den dann die jetzt Verantwortlichen wieder dem Mindestlohn anhängen und dessen Finanzierung an anderer Stelle Mangel erzeugt.

Der Report 2/2014 des IAQ Niedriglohnbeschäftigung 2012 und was ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € verändern könnte von Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf ist 15 Seiten lang und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 4.3.14


Niedriglöhne in Deutschland europaweit am höchsten und weit verbreitet - Ein nicht geringer Beitrag zur Einnahmeschwäche der GKV!

Artikel 2257 Egal, ob es nach den Bundestagswahlen im September 2013 eine politische Mehrheit für eine Bürgerkrankenversicherung gibt und die Wahlversprechungen auch in die Tat umgesetzt werden oder ob die schwarz-gelbe Koalition weiterregiert, wird es verstärkt um eine stabile Finanzierung der Gesundheitsversorgung gehen und darum, woher das Geld kommen soll. In den verschiedenen Szenarien spielen u.a. einkommensunabhängige Beiträge, eine stärkere Steuerfinanzierung oder auch einkommensunabhängige Kopfpauschalen mit steuerfinanziertem Sozialausgleich wichtige Rollen. Dabei geraten leider die Prozesse und Folgeerscheinungen einer vielgestaltigen Reichtums- und Einkommensumverteilung aus dem Blickwinkel, die seit Jahrzehnten dazu beitragen, dass die traditionelle einkommensabhängige Finanzierung nicht mehr ausreichend und verlässlich erscheint. Zur so genannten Einnahmeschwäche tragen u.a. die Arbeitslosigkeit, die fast ein Jahrzehnt lang nur schwach oder gar nicht steigenden Lohneinkommen oder die Zunahme so genannter atypischer Tätigkeiten (z.B. Teilzeit- oder Leiharbeit, befristete Tätigkeiten) bei.

Ein aktueller Report des "Instituts für Arbeitsmarkt-. und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit weist auf eine sogar im internationalen Vergleich einmalige Entwicklung zu verbreitetem Niedriglohn hin, der neben den direkten Folgen für die Lebensqualität der Niedrigverdiener zu einem Dauer-Einflussfaktor auf die Einnahmeschwäche von Sozialversicherungsträgern mit einkommensabhängiger Beitragsfinanzierung zu werden droht.

• Danach bezog 2010 fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten einen Niedriglohn, das heißt weniger als 2/3 des mittleren Lohns, was weniger als 9,54 Euro brutto bedeutet. Nimmt man alle Beschäftigten, ist die Niedriglohnquote in einem Feld von 17 EU-Ländern nur in Litauen höher. Betrachtet man nur die Vollbeschäftigten ist der Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten in Deutschland der sechsthöchste, nach Litauen, Zypern, Bulgarien, Großbritannien und Polen.
• In Deutschland gehören vor allem Frauen und Teilzeitbeschäftigte zur Gruppe der Niedriglohnbezieher.
• Der manchmal zu hörende Einwand, hier handle es sich um Phänomen eines "zweiten Arbeitsmarktes" oder vorübergehender Teilarbeitsmärkte wird vom Autor des Berichts zum Teil entkräftet: ".Auch Beschäftigte, die zum Kernbereich des "ersten" Arbeitsmarkts gezählt werden können, zählen hierzulande häufiger zu den Geringverdienern." Es handelt sich um 6,3% der "über 30-jährigen vollzeitbeschäftigten Männer mit inländischer Staatsangehörigkeit und unbefristeten Verträgen, mit abgeschlossener Ausbildung oder Studium, in Betrieben ab 50 Beschäftigten".
• Ein Hinweis zu den Ursachen und damit auch zum Lösungsweg enthält die folgende Feststellung: "Tendenziell sind Niedriglöhne in Ländern mit hoher Tarifabdeckung weniger verbreitet als in solchen mit stark dezentralisierter Lohnfindung."
• Dass die Hoffnung trügerisch ist, Niedriglohn-Arbeitsverhältnisse würden sich mit im Wirtschafts- und damit auch Beschäftigungsaufschwung auflösen, zeigt eine weitere Beobachtung des Autors: "Deutschland ist neben einem längerfristigen Trend zu mehr Lohnungleichheit durch einen zuletzt robusten Beschäftigungsaufschwung gekennzeichnet. Im Ländervergleich ergeben sich jedoch keine Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Arbeitslosen- bzw. Erwerbstätigenquoten einerseits und dem Ausmaß der Lohnungleichheit andererseits." Vielmehr sehen die Verfasser "Indizien" dafür, dass die "Lohnungleichheit der Preis" für die möglichen Beschäftigungseffekte der Hartz-Reformen gewesen sein könnten.

Das sehr zurückhaltend formulierte Fazit des Forschers lautet dann auch: "Nachdem die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts gesteigert werden konnte, geht es künftig auch darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die materielle Teilhabe an den Erfolgen der Strukturreform auf eine breitere Basis gestellt werden kann."

Egal wie die künftige Finanzierungsdiskussion im Krankenversicherungsbereich läuft, sollte sie eine Strategie zur Re-Regulierung oder einen Einstieg in eine Umkehr der wichtigsten Umverteilungsprozesse der letzten Jahre einbinden.

Der IAB-Kurzbericht 15/2013 Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich von Thomas Rhein ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 1.8.13


Auf rückwärtsgewandten Pfaden weiter zur Zweiklassenmedizin

Artikel 2253 Der 116. Deutsche Ärztetag vom 28. Bis 31. Mai 2013 in Hannover hat einen Antrag des Vorstands der Bundesärztekammer (BÄK) zur zukünftigen Finanzierung der Krankenversicherung angenommen. Nach längerer und teilweise kontroverser Diskussion sprach sich eine Mehrheit der Delegierten für die Beibehaltung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland und vor allem für einen Übergang von der einkommensabhängigen Finanzierung zu einer Kopfpauschale aus. Offenbar sind die deutschen Ärzte mehrheitlich in erster Linie an der Sicherung ihrer eigenen Pfründe interessiert. Trefflicher als ein Blog im radikalen Ärztenetzwerk Hippokranet zum Ärztetag kann man es kaum ausdrücken: "Egal ob Armut krank macht oder Krankheit arm macht, die zukünftigen Ärzte sind wegen persönlicher Armut (...) immer dabei - und sollen auch noch die enorme Verantwortung für die Patienten tragen obgleich ihnen die finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit dafür genommen wurde."

Dass eine Kopfpauschale ärmere Menschen relativ höher als Gutverdiener belastet, entzieht sich offenbar dem gängigen Medizinerverständnis. Inhaltliche Kritik an dem BÄK-Vorstand-Antrag war bereits laut geworden, bevor die deutsche Ärzteschaft überhaupt über diesen Antrag diskutieren konnte, nachdem der Vorstand das politisch ausgesprochen einseitige Papier an die Öffentlichkeit lanciert hatte. Doch bei Weitem nicht alle Ärztinnen und Ärzte fühlen sich bei den BÄK-Vorschlägen zur Zukunft der Gesundheitsfinanzierung in Deutschland richtig vertreten. Deutlichen Diskussions- und Nachbesserungsbedarf meldeten beispielsweise der verein demokratischer Ärztinnen und ärzte (vdää) an, der sich über die Vorabveröffentlichung wundert. "Es ist äußerst ungewöhnlich und befremdlich, dass dieser Antragsentwurf - bevor er überhaupt in der Ärzteschaft diskutiert wurde - schon heute als Meinung der deutschen Ärzteschaft an die Presse gegeben wird" heißt es in der Presseerklärung des vdää vom 23. April dieses Jahres.

Der Antrag der Bundesärztekammer Anforderungen zur Weiterentwicklung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland entstand aufgrund einer entsprechenden Entschließung auf dem letztjährigen Ärztetags in Nürnberg: "Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 fordert den Vorstand der Bundesärztekammer auf, zum 116. Deutschen Ärztetag 2013 in Hannover ein tragfähiges Konzept zur Finanzierung des Krankenversicherungssystems in Deutschland vorzulegen. Dieses muss den Grundsätzen der ärztlichen Freiberuflichkeit sowie der Subsidiarität und Eigenverantwortung gerecht werden und die Sicherstellung der Versorgung gewährleisten."

Schon dieser Auftrag war überaus tendenziös, denn erstens stellt sich die Frage, was die vielzitierte ärztliche Freiberuflichkeit überhaupt mit tragfähiger Finanzierung zu tun hat, und zweitens sticht die Betonung der Eigenverantwortung hervor, die wirtschaftliberaler Ideologie entspringt und den Realitäten im Gesundheitswesen kaum angemessen gerecht werden kann. Unverkennbar trägt der BÄK-Antrag die Handschrift des BÄK-Vorsitzenden Frank Ulrich Montgomery, der als gefragter Talkshow-Gast und anderswo gerne seine Vorstellungen von einer einheitlichen Beitragspauschale darlegt, die Segnungen der Privaten Krankenversicherungen preist oder die ach so arge Belastung der deutschen Wirtschaft durch Sozialabgaben geißelt. Von nennenswertem gesundheitspolitischem Fachwissen sind seine Beiträge nicht geprägt, dafür bedient er klassische Mythen und greift gerne zu schlichten Falschaussagen wie der, deutsche Arbeitgeber hätten die weltweit höchsten Lohn"neben"kosten zu tragen.

Beratend stand der einschlägig als Befürworter von Kopfpauschalen in der GKV bekannte Leiter des Kieler Instituts für Mikrodaten-Analyse (IfMDA), Thomas Drabinski, zur Seite, der seine Vorstellungen beispielsweise im Januar 2010 in einem längeren Beitrag im Deutschen Ärzteblatt zum Besten gab. Diese Beratung war zwar sicherlich ideologisch passend, trug aber offenbar nicht hinreichend dazu bei, die in der Ärzteschaft offenkundig mangelnde gesundheitspolitische Sachkenntnis und insbesondere grundlegenden Verständnismängel im Bereich der Gesundheitsfinanzierung auszugleichen.

Während sich die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) schon lange von ihrer eigenen Idee einer Kopfpauschalenfinanzierung der GKV verabschiedet hat, weil die Mehrheit der WählerInnen die einkommensabhängige Finanzierung bevorzugt, halten einige Lobbyisten-Gruppen unbeirrbar an dieser regressiven Finanzierungsform fest, die Gutverdiener begünstigt und vor allem die Existenz der PKV nicht in Frage stellt.

Damit findet die BÄK-Führung zwar uneingeschränkte Zustimmung in den Teilen der niedergelassenen Ärzteschaft, die sich als wehrlose Systemopfer und an angemessener Gewinnerzielung gehindert fühlen. Wie Hippokranet im Februar dieses Jahres meldete, zeigte eine Umfrage von TNS Emnid im Auftrag von "Focus-money", dass 86 % der befragten Niedergelassenen gegen die Bürgerversicherung seien; die Befürworterquote für die Kopfpauschale dürfte im Umkehrschluss ebenso hoch anzusiedeln sein. Zwar fordern auch Hippokranet-Blogger in einem Beitrag gelegentlich die Überarbeitung des BÄK-Antrags. Allerdings wurde im Hippokranet nach dem Ärztetag auch überraschend offene Kritik daran laut, dass sich die Ärzteschaft mit Themen befasst, von denen sie eigentlich gar keine Ahnung hat: "Seit wann ist es Aufgabe der Ärzteschaft, sich um Versicherungsmodelle zu kümmern? Was befähigt die Ärzteschaft, sich darum zu kümmern?" ist in einem anderen Beitrag zu lesen. Wohl wahr!

Neben der vdää-Presseerklärung zum Antrag der BÄK zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung finden Sie hier kostenfrei eine lesenswerte Kritik des Gesundheitspolitikers Hartmut Reiners am BÄK-Papier mit dem Titel Die Bundesärztekammer: Vertretung der Ärzteschaft oder Lobbyorganisation der PKV?.

Jens Holst, 24.5.13


Niedriges Einkommen=niedrige Beitragseinnahmen. Löhne erwerbstätiger Ausländer nach 8 Jahren bei 72% des Lohns deutscher Arbeiter

Artikel 2220 Die Ankündigung möglicher Zusatzbeiträge durch einige gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2015 lassen es ahnen: Ändert sich z.B. nach der Bundestagswahl nichts an den einkommensbezogenen Finanzierungsinstrumenten der Gesetzlichen Krankenversicherung, wird die strukturelle Einnahmeschwäche der GKV wieder relevanter als im Moment. Dass diese Schwäche existiert und wodurch sie entsteht und was man daran ändern könnte, spielt dann ebenfalls eine größere Rolle.
Neben vielen anderen Faktoren (z.B. langjährige generelle Einkommensstagnation, Arbeitslosigkeit, Zunahme und Stabilisierung von atypischen Arbeitsverhältnissen, "gender gap") spielen dann auch die speziellen Einkommensverhältnisse von ArbeitsmigrantInnen eine Rolle.

Der erste Kurzbericht des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2013 macht auf die besonderen Defizite der Entlohnung von sozialversicherungspflichtig beschäftigten männlichen Ausländern im Vergleich zu den deutschen Beschäftigten aufmerksam.

Die Situation der seit 2000 und bis 2008 vollzeitbeschäftigten ausländischen Bürger sieht in diesem Zeitraum so aus:

• Ihr durchschnittliches Lohnniveau lag beim Start ihrer Beschäftigung insgesamt bei 64 % des durchschnittlichen Lohnniveaus der vollzeitbeschäftigten deutschen Männer.
• Bis zum Jahr 2008 stieg dieser Anteil auf rund 72 %. Migranten holten also einkommensmäßig im beobachteten Zeitraum im Durchschnitt gegenüber den deutschen Erwerbstätigen zwar auf, lagen aber immer noch beträchtlich unter dem Durchschnittslohn ihrer deutschen Kollegen.
• "Eine Zerlegung der Anpassungsrate in einzelne Effekte zeigt, dass sich die Löhne überwiegend infolge beobachteter Merkmale wie Betriebszugehörigkeit, den Wechsel in besser bezahlte Berufe und Sektoren oder auch durch eine zunehmende Beschäftigungsstabilität anpassen. Diese Effekte sind zum einen Ausdruck erfolgreicher Suche, zum anderen deuten sie auf eine Verbesserung des betriebsspezifischen Humankapitals einer Person hin. Auf der aggregierten Ebene scheinen weder Alters- und Trendeffekte noch Kompositionseffekte eine bedeutende Rolle zu spielen."
• "Die Gesamtergebnisse verdecken allerdings völlig die Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalitäten in Deutschland." Eine Betrachtung von dreißig Gruppen zeigt höchst unterschiedliche Anpassungsraten, die von +43 Prozentpunkten bei den Franzosen bis zu -6 Prozentpunkten bei Afghanen reichen.
• Eine Minderheit der Ausländer aus Ländern wie Österreich, den Niederlanden oder Großbritannien starten bereits 2000 mit mehr als 100% des Einkommens deutscher Männer und verdienen 2008 sogar noch deutlich mehr. Die Mehrheit der Ausländer starten aber mit deutlich weniger als ihre deutschen Kollegen und bleiben dauerhaft unter deren Lohnniveau.
• Ein Teil der höheren und schneller zunehmenden Einkommen z.B. von französischen Erwerbstätigen auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruht auf dem so genannten Kompositionseffekt. Dies bedeutet, dass Franzosen, deren Einkommen auf Dauer niedriger ist als das der deutschen Erwerbstätigen eher wieder in ihr Heimatland zurückkehren als etwa Afghanen. Allein dadurch steigt das Durchschnittseinkommen der in Deutschland verbleibenden Ausländer an.

In einem einkommensabhängigen Finanzierungssystem der sozialen Sicherung bedeutet dies, dass der größere Teil der ausländischen Erwerbstätigen bei vollem Leistungsanspruch dauerhaft geringere Beiträge bezahlt als deutsche Erwerbstätige. Unklar bleibt in der Analyse des IAB wie stark sich die Tätigkeit der ausländischen qualitativ von der der deutschen Erwerbstätigen unterscheidet und zumindest ein Teil der Einkommensunterschiede daher rührt.

Unabhängig von dem hier dargestellten Zusammenhang zwischen Einkommens- und Einnahmeschwäche bedeutet die dauerhaft geringere
Entlohnung der meisten ausländischen Beschäftigten natürlich auch ein zusätzliches sozialpolitisches Problem.

Der IAB-Kurzbericht 1/2013 Lohnanpassung von Ausländern am deutschen Arbeitsmarkt. Das Herkunftsland ist von hoher Bedeutung von Florian Lehmer und Johannes Ludsteck ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 6.2.13


Produktionsverlagerungen ins Ausland und "zu hohe" Lohnnebenkosten? Aktuelle Industriedaten zur Verlagerung und Rückverlagerung

Artikel 2200 Die zum gesundheitspolitischen Standardrepertoire der Arbeitgeber und den ihnen nahestehenden Politiker und Wissenschaftler in Deutschland gehörende Lohnnebenkostendebatte suggeriert, insbesondere der Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungsbeiträgen sei so hoch, dass der "Wirtschaftsstandort Deutschland" kostenmäßig im internationalen Wettbewerb immer weniger bestehen könne. Unternehmen, die weiterexistieren wollen bliebe nichts anderes übrig, als ihre Produktion ins billigere Ausland zu verlegen. Die jahrzehntelange Welt- und Vizeweltmeisterschaft beim Export, die anders als bei vielen "Konkurrenten" Deutschlands seit Jahren stagnierenden Lohnstückkosten und nicht zuletzt die wiederum im internationalen Vergleich stabile aktuelle wirtschaftliche Situation zeigen, dass in der Lohnnebenkostendebatte zum Teil mit falschen Karten gespielt wird. Trotzdem zeigt die Debatte Wirkung, d.h. der Arbeitgeberbeitrag zu GKV-Beiträgen ist seit Jahren eingefroren, die Lohneinkommen bewegen sich insgesamt seit über 10 Jahren nur so leicht nach oben, dass EZB wie OECD darin eine Gefahr für die konjunkturelle Entwicklung in Europa sehen und der Anteil dauerhafter Niedriglohneinkommen aus "atypischer Beschäftigung" verfestigt sich auf relativ hohem Niveau immer mehr.

Über die Wirklichkeit der Abwanderung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in Niedriglohnländer gibt die aktuelle Ausgabe einer vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) und der Hochschule Karlsruhe im Auftrag des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) durchgeführten Erhebung "Produktionsverlagerungen und Auslandsproduktion" bei maximal 1.600 Betrieben der Metall- und Elektroindustrie (M & E) und des Verarbeitenden Gewerbes (VG) Auskunft.

Danach ergibt sich folgendes Bild:

• Der Anteil der Betriebe der M & E-Industrie, die zwei Jahre vor der Befragung eine Verlagerung realisiert hatten, stieg von 17% im Jahr 1995 auf ein Maximum von 27% im Jahr 1999. Von diesem Jahr an nahm der Anteil von Betrieben mit Verlagerungen ins Ausland, abgesehen von einem Zwischenhoch von 25% im Jahr 2003, kontinuierlich auf 11% im Jahr 2012 ab.
• Dieser Anteil sank im VG in den Jahren 2006 bis 2012 von 15% auf 8%.
• Zu den Gründen dieser Produktionsverlagerungen zählten bei 72% der Produktionsverlagerer vor allem die Personalkosten. Der zweitwichtigste Grund waren bei 29% die Markterschließung und bei 26% die Kundennähe.
• Der Anteil der M & E-Betriebe, die zwei Jahre vor der Befragung ihre ausgelagerten Betriebe wieder nach Deutschland zurückverlagerten, schwankte schon immer zwischen 4% und 6%. Bei insgesamt geringerer Verlagerung stabilisierte sich der Anteil der rückverlagernden Betriebe auf 2% bis 3%.
• In den Jahren 2006 bis 2012 verlagerten ebenfalls 2% bis 3% aller VG-Betriebe ihre ausländischen Produktionsstandorte wieder zurück. Als Gründe für diese Rückverlagerung gaben diese Betriebe Flexibilitätseinbußen (59 %) und Qualitätsprobleme (52 %) an den ausländischen Standorten an.

Auch wenn die Gründe für Rückverlagerungen sicherlich noch etwas komplexer sind (z.B. Anstieg der Lohnkosten in den lange beliebten südosteuropäischen Ländern), erweist sich das "Gespenst" des Arbeitsplatzexportes auch als weniger fürchterlich als es die Protagonisten eines weiteren Abbaus der Lohnnebenkosten erscheinen lassen wollen.

Dabei bleibt noch völlig unberücksichtigt, dass Lohnkosten in der M & E-Industrie oder im VG nur noch durchschnittlich 20%der Gesamtkosten ausmachen, also z.B. die gesamten GKV-Arbeitgeberbeiträge nur noch mit höchstens 1% zu den Gesamtkosten beitragen.

Die Ergebnisse der Befragung sind am 18.12.2012 unter dem Titel ""made in Germany" oder Niedriglöhne? Produktionsverlagerung und Auslandsproduktion. Produktionsverlagerungen auf niedrigstem Stand seit 18 Jahren" veröffentlicht worden. Kostenlos erhältlich sind die Presseerklärung und eine Grafikpräsentation.

Bernard Braun, 31.12.12


Verborgene Kosten des Gesundheitssystems der USA. 15,4% aller Kosten sind unbezahlte gesundheitsbezogene Tätigkeiten

Artikel 2192 Die vom "National Health Expenditure Accounts (NHEA)" für die USA veröffentlichten Gesundheitsausgaben betrugen im Jahr 2010 2,6 Billionen US-Dollar und entsprachen damit 17,9% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der USA. Damit wurden pro Kopf der Bevölkerung rund 8.402 US-Dollar ausgegeben. Für die nächsten Jahre wird eine jährliche Zunahme dieser Kosten um 5,8% geschätzt. Dies würde über dem geschätzten jährlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstum von 1,1% liegen und zur Folge haben, dass 2020 4,6 Billionen US-Dollar für Gesundheit ausgegeben werden, was dann 19,8% des BIP entspräche.

Es mag an der Größe dieser Zahlen liegen, dass sowohl in den USA als in anderen Ländern die Gesundheitsausgabenrechnung hier endet oder nicht sehr differenziert weitergeführt wird. Dass weitere gesundheitsbezogene Ausgaben in nicht unerheblichem Umfang existieren und welche Aufwendungen dazu im Einzelnen gehören, hat nun das "Deloitte Center for Health Solutions" ebenfalls für das Jahr 2010 berechnet. Deloitte ist eines der vielen weltweit aktiven großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die sich immer intensiver für die Gesundheitssysteme als bereits jetzt relativ großem und vermutlich weiter wachsenden Wirtschaftsbereich interessieren.

Berücksichtigt man sämtliche anderen gesundheitsbezogenen Ausgaben, erhöht sich der Gesamtbetrag um 23,9% auf 3,2 Billionen oder 10.392 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung. Dies sind bereits 22% des BIP.
Welche Arten von Gütern, Dienstleistungen etc. zu den im weiteren Sinne verstandenen Gesundheitsausgaben gehören und welche Anteile einige Ausgabenblöcke haben, ist den folgenden Angaben zu entnehmen:

• So genannte notwendige oder nicht ermessensartige ("non-discretionary") Ausgaben für professionelle Behandlung durch diverse Ärzte (26% aller Ausgaben) und Kliniken (25%) und Arzneimittelausgaben (8%) umfassen 60% aller Gesundheitsausgaben. Darunter befinden sich aber auch Wahlleistungen wie beispielsweise Tests, die als nicht notwendige Leistungen betrachtet werden könnten.
• Mit den restlichen 40% werden die Langzeitpflege, die direkten administrativen Ausgaben, die Ausgaben für Medizinprodukte wie Nahrungsergänzungsmittel oder Gesundheitspublikationen und vor allem auch die so genannte "supervisory care" bezahlt. Mit letzterem ist die meist unbezahlte, aber für diese Analyse der verborgenen Kosten monetarisierte Behandlung und Pflege von Familienmitgliedern oder anderen Gemeindeangehörigen für schwer erkrankte Angehörigen oder MitbürgerInnen gemeint. Monetarisiert bedeutet, dass ein Betrag berechnet wird, der für professionelle Pflege etc. aufgebracht werden müsste, wenn es diese unbezahlten Tätigkeiten bzw. HelferInnen nicht gäbe.
• 479 Milliarden US-Dollar, d.h. 79% der über die NHEA-Ausgabenwerte hinausgehenden verborgenen Ausgaben oder 15,4% aller Gesundheitsausgaben werden für die "supervisory care" ausgegeben. Dabei handelt es sich um mehr als das Dreifache was z.B. für Pflegeheime oder ambulante Heimpflege aufgebracht wird. Der Großteil dieser Ausgaben entfiel auf die Behandlung/Pflege von Individuen, die in Familien mit niedrigem Einkommen oder in Zwei-Personen-Familieneinheiten lebten und meistens zur Gruppe der Senioren gehörten. Die Schlussfolgerung der Verfasser der Deloitte-Studie lautet daher auch: "The hidden burden of supervisory care is substantial and has significant implications for employers, consumers, and the health care sector."
• Für die Gesamtcharakteristik des US-Gesundheitswesens ist schließlich Folgendes interessant: 40% der für 2010 geschätzten Gesamt-Gesundheitsausgaben von 3,2 Billionen US-Dollar sind durch Medicare, Medicaid und weitere staatliche Versicherungen steuerfinanziert, private Krankenversicherungen bezahlten für 27% aller Ausgaben und so genannte "out-of-pocket"Zuzahlungen machten 13% aller Ausgaben aus. Dies unterstreicht plastisch, dass auch das us-amerikanische Gesundheitswesen keineswegs ein dominant privatwirtschaftlich finanziertes und organisiertes ist, sondern wie viele andere Systeme Hybridcharakter besitzt.
• Der Anteil der direkten Verwaltungsausgaben an den Gesamt-Gesundheitsausgaben beträgt 2010 mit 408 Milliarden US-Dollar rund 12,8%.

Der Bericht enthält noch zahlreiche andere, zum Teil neue oder auch nur neu zusammengestellte Informationen zu den offenen und verborgenen Kosten des US-Gesundheitssystems. Vor allem der Versuch, die von den Versicherten, Patienten und ihrem sozialen Umfeld erbrachten gesundheitsbezogenen Ausgaben als verborgene Kosten geldwert darzustellen, verdient angesichts der ständigen Rufe im deutschen Gesundheitswesen nach "mehr Eigenverantwortung" sprich höherer finanziellen Beteiligung, besondere Beachtung. Nachahmung ist dringend empfohlen!!!

Der 26 Seiten umfassende Bericht "The hidden costs of U.S. health care: Consumer discretionary health care spending" von Paul H. Keckley, Sheryl Coughlin und Leslie Korenda ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 17.12.12


Warum selbst Arbeitgeber im Moment nicht so richtig über die Last zu hoher Lohnnebenkosten durch die Sozialversicherung klagen ?

Artikel 2187 Eine Triebkraft der jetzt schon mehrere Jahre geführten Debatte über die wirtschaftliche und soziale Zukunft von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien, für die Aussichten der diversen Rettungsschirm- und Schuldensschnittprogramme, für die Zukunft des Euro, und der aktive Beitrag Deutschlands zu dieser Entwicklung, ist der bereits mehr als 10 Jahre alte Sonderweg der deutschen Lohnstück- und Arbeitskosten.
Dadurch, dass sie im EU-Vergleich auf einem leicht überdurchschnittlichen Niveau am langsamsten wachsen, erhalten und verbessern sie zum einen die Wettbewerbsfähigkeit und Exportmacht deutscher Unternehmen. Diese Entwicklung verschlechtert dann andererseits die schon traditionell nicht besonders starke Wettbewerbsposition u.a. der genannten Ländervolkswirtschaften, aber auch die Einnahmen der einkommensbasierten deutschen Sozialversicherungsträger und last not least die Binnen- oder Konsumnachfrage in Deutschland.

Die diese Position bestätigenden Daten liefert anschaulich der im November 2012 erschienene Report 77 des "Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)" in der Hans-Böckler-Stiftung.
Die wichtigsten Erkenntnisse lauten:

• "In Deutschland kostete 2011 eine Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft 30,1 Euro. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich weiterhin an siebter Stelle. Im Dienstleistungssektor kostete die Arbeitsstunde 20 % weniger als im Verarbeitenden Gewerbe. In keinem anderen EU-Land ist dieser Rückstand so gross." Dieses Tiefstniveau bei Dienstleistungssektor-Einkommen trägt selbst in den Berechnungen des arbeitgebernahen "Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)" zum extrem günstigen Kostenniveau der Vorleistungen z.B. in der verarbeitenden Industrie bei. Während das IW den direkten Kostenvorteil im Jahr 2011 auf 5,8% oder 2,05 Euro pro Stunde schätzt, spart das verarbeitende Gewerbe, also eine Stütze der Exportstärke durch das Preisniveau der gesamten Vorleistungsproduktion fast 13%.
• Das IMK weist zu Recht darauf hin, dass mit den niedrigen Einkommen im Diestleistungsbereich nicht nur die gegenwärtige Einkommenssituation vieler dort Beschäftigter schlecht ist und ihre Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung relativ niedrig sind. Die Kehrseite ihres Beitrags zur Wettbewerbsfähigkeit der heutigen Unternehmen sind drohende Niedrigstrenten und geringe Krankenversicherungsbeiträge.
• "In Deutschland stiegen seit Beginn der Währungsunion Arbeitskosten und Lohnstückkosten also die Kosten im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung nur wenig. Dies lähmte die Binnennachfrage und schadete den sozialen Sicherungssystemen."
Eine der Schlussfolgerungen und Ratschläge der traditionell nachfrageorientierten Oekonomen des IMK lautet daher, die Lösung der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht allein den europäischen Ländern zu überlassen, die u.a. Opfer des Wettbewerbsvorteils a la Deutschland geworden sind. Um diese jemals vom Dauertropf der Rettungsschirmen oder der EZB-Hilfen loszubekommen und drohende soziale Schieflagen in der eigenen Zukunft frühzeitig zu vermeiden, schlägt das IMK dagegen vor: "Um die Leistungsbilanzungleichgewichte im Euroraum schneller abzubauen und die Anpassung in den Krisenländern zu erleichtern, müssen die deutschen Löhne über etliche Jahre um mehr als 3 % zulegen."

Der 22 Seiten umfassende faktenreiche IMK-Report "Zu schwache deutsche Arbeitskostenentwicklung belastet Europäische Währungsunion und soziale Sicherung. Arbeits- und Lohnstückkosten in 2011 und im 1. Halbjahr 2012" von Ulrike Stein, Sabine Stephan und Rudolf Zwiener ist komplett kostenlos erhältlich.

Zum Schluss: Keine Sorge, dass sich an der relativen Ruhe an der Mythenfront über zu hohe Lohnnebenkosten bereits bei der ersten Absatzkrise alles schlagartig ändert.

Bernard Braun, 3.12.12


Aufgewärmtes zur Praxisgebühr: Unbelehrbar, unbe-irr-bar oder einfach nur irre?

Artikel 2114 In einer kürzlich vorgelegten Stellungnahme mit dem Titel Die Praxisgebühr reformieren - andere Zuzahlungen überdenken versucht die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie, sich in die aktuelle Debatte über die Praxisgebühr im deutschen Gesundheitswesen einzumischen. Darin fordert der 2008 gegründete Fachverband eine grundsätzliche Umstellung der finanziellen Selbstbeteiligung in der ambulanten Versorgung: In auffälliger Übereinstimmung mit den Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände - siehe hierzu beispielsweise die Meldung Arbeitgeber fordern fünf Euro pro Arztbesuch im Spiegel vom 4. Juni 2010 - schlägt die DGGÖ nun eine Praxisgebühr von fünf Euro pro Arztbesuch vor.

Gerade hatte die gesellschaftliche und politische Diskussion über die ungeliebte Praxisgebühr, die Rot-Grün 2004 im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes auf Druck der CDU/CSU-Fraktion eingeführt hatte, kritischer denn je Patientenzuzahlungen im Gesundheitswesen ins Visier genommen. Es herrscht parteiübergreifender Konsens, dass sie keinerlei Steuerungswirkung entfaltet hatte. Für die einen war das ebenso wenig zu erwarten wie bei anderen Zuzahlungsformen, für andere lag das an der Fehlkonstruktion der einmal vierteljährlich anfallenden Gebühr. Im Mittelpunkt der Debatte standen zuletzt unübersehbar die mehr als zwei Milliarden Euro, die über die Praxisgebühr bei Ärzten und Zahnärzten in das Gesundheitswesen fließen, und die Frage der Praxisgebühr reduzierte sich praktisch ausschließlich auf diesen Einnahmeposten und mögliche Auswirkungen einer Abschaffung auf die Finanzierung der GKV.

Nun treten deutsche Gesundheitsökonomen mal wieder mit einem alten Hut auf den Plan und versuchen, die Debatte in eine Ecke zu bewegen, die sie längst hinter sich gelassen hatte. In der Logik ihrer eigenen Profession, aber weitgehend losgelöst vom realen Leben und vor allem von der weltweiten empirischen Evidenz verlangen sie nun eine Rückbesinnung auf vermeintliche Steuerungswirkungen von Zuzahlungen. Wie die Ärztezeitung in ihrem Beitrag Praxisgebühr für jeden Arztbesuch berichtet, soll die Einführung einer Gebühr für jeden einzelnen Arztkontakt die in Deutschland als überdurchschnittlich geltende Zahl der Arztbesuche um 50 Millionen pro Jahr verringern.

Wie die Ökonomen diese Zahl ermittelt haben, sei einmal dahin gestellt. Sie gehört fraglos in den Bereich kalkulatorische Spekulation, die Angehörige dieser Disziplin so gerne in ihren Modellrechnungen anstellen, die trotz aller mathematischer Komplexität grundsätzlich an der Ceteris-paribus-Annahme scheitern müssen, die besagt, alle anderen Bedingungen änderten sich während des modellierten Ereignisses nicht. Eine solche Annahme in einem komplexen System wie dem Gesundheitswesen, in das zusätzlich auch vielfach andere Faktoren aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik hineinwirken, ist günstigstenfalls naiv, im Zusammenhang mit gesundheitspolitischen Ratschlägen aber höchst gefährlich.

Unbeirrbar halten etliche deutsche Gesundheitsökonomen an dem Glauben fest, "Zuzahlungen (können), sofern sie sinnvoll ausgestaltet sind, eine wichtige Funktion erfüllen, indem sie das Kostenbewusstsein der Versicherten stärken und ihnen einen Anreiz geben, auf unnötige oder wenig wirksame Leistungen zu verzichten". Diese Annahme entspringt unverkennbar aus der (mikro-)ökonomischen Markttheorie, die hierzulande wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher und -stühle dominiert. Sie betrachtet das Gesundheitswesen in erster Linie als einen Markt, an dem es Anbieter und Nachfrager gibt und letztere nach jeweils eigenen Präferenzen als Konsumenten über die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entscheiden. Wie realitätsfern diese Vorstellung des autonomen Patienten ist, veranschaulicht nicht erst das oft bemühte Symbol des ohnmächtigen Menschen, der in seinem akuten Zustand so über die Auswahl seiner Behandlung entscheidet wie Käufer auf anderen Märkten. Der Forderung nach einer Praxisgebühr pro Arztbesuch liegt eine viel grundsätzlichere Annahme zugrunde, die eindrücklich die weit verbreitete déformation professionelle von Ökonomen widerspiegelt und nichts mit dem realen Leben zu tun hat. Eine Aussage wie "Zuzahlungen sollten nicht einfach die Krankenkassen entlasten, sondern das Verhalten der Versicherten in Richtung Sparsamkeit steuern", unterstellt, die Bürger konsumierten Gesundheitsleistungen genau so wie andere Güter. Der Verweis auf den Lustgewinn durch langes Warten in überfüllten Wartezimmern, durch Blutentnahmen, schmerzhafte Zahnbehandlungen und Operationen macht klar, wie unsinnig diese allseits verbreitete Annahme ist.

Zwar ist unbestreitbar, dass finanzielle Selbstbeteiligungen die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen messbar verringern und dieser Effekt mit der Höhe der Zuzahlungen korreliert. Dieser Effekt ist aber in aller Regel zeitlich begrenzt - die abgeschwächte Wirkung der deutschen Praxisgebühr nach zwei Jahren ist nämlich keineswegs ihrer Konstruktion zuzuschreiben, sondern ein typisches mittelfristiges Phänomen bei Eigenbeteiligungen. Bisher gibt es keinen ernst zu nehmenden Beleg für die Annahme, die neu gestaltete 5-Euro-Gebühr würde auf Ewigkeiten, also nachhaltig die Zahl der Arztkontakte verringern.

Was aber in Analogie zu weltweit tausenden anderen Beobachtungen und Experimenten mit Sicherheit zu erwarten ist, sind ein Rückgang der Arztkontakte bei Menschen, für die regelmäßige medizinische Kontrollen und Therapieanpassungen lebensnotwenig sind sowie eine Verschlechterung des Gesundheitszustands chronisch kranker Menschen, insbesondere solcher mit geringem Einkommen. Zusätzlich ist eine Vielzahl von Ausweicheffekten zu erwarten, die nicht nur die ökonomische Ceteris-paribus-Annahme ad absurdum führen, sondern das Gesundheitswesen erheblich teurer zu stehen kommen können; in erster Linie sind vermehrte stationäre Einweisungen zu erwarten, was weniger durch die ebenfalls geforderte Abschaffung der Krankenhauszuzahlung als durch ein DRG-bedingter Expansionsbedürfnis der Betreiber stationärer Einrichtungen zurückzuführen sein dürfte. Aber das Anbieterverhalten, das für die Gesundheitsausgaben um ein Vielfaches entscheidender ist als die "Steuerung" der Patienten, kommt in der DGGÖ-Stellungnahme vorsichtshalber gar nicht erst vor, ŕ propos ceteris paribus ....

Zwei Aspekte der Stellungnahme sind besonders peinlich. Offenbar ist es bisher nicht zu den Ökonomieprofessoren durchgedrungen, dass die Unterscheidung zwischen sinnvollen und überflüssigen Gesundheitsleistungen realitätsfern und praxisuntauglich ist. Eine ex-ante-Unterscheidung in "gerechtfertigte" und "unvernünftige" bzw. überflüssige Inanspruchnahme mag aus mikroökonomisch-theoretischer Sicht verlockend sein, geht aber an der Situation im Gesundheitswesen völlig vorbei. Vielfach weiß selbst der Fachmann erst nach eingehenden Untersuchungen, ob ihn ein Patient "berechtigterweise" in Anspruch genommen hat oder sein Besuch "überflüssig" war. Patienten sind mit dieser Entscheidung grundsätzlich überfordert, solange sie nicht selber ausreichende theoretische und praktische Kenntnisse der Humanmedizin erworben haben.

Nur als naiv kann man die Einschätzung der DGGÖ bewerten, die Praxisgebühr in Deutschland sei wegen der Deckelung auf 2 % und bei chronisch Kranken auf 1 % nicht unsozial. Feste Praxisgebühren sind und bleiben unverrückbar regressiv, belasten also Menschen mit geringem Verdienst relativ gesehen stärker als Bezieher höherer Einkommen. Diese Erkenntnis sollte man bei Gesundheitsökonomen als bekannt voraussetzen - die Frage ist folglich nur, ob man es als sozial ansieht, dass 400-Euro-Jobber nach dem DGGÖ-Vorschlag 1,25 und Arbeitnehmer an der Beitragsbemessungsgrenze von zurzeit 3.825 EUR nur 0,13 % ihres Einkommens für einen Arztbesuch ausgeben müssen. Mit dem Solidarprinzip steht diese sozial ungleiche Belastung auf jeden Fall nicht im Einklang.

Nachweislich schlägt sich - wie in einem früheren Forumsbeitrag nachzulesen war - die Belastung durch finanzielle Selbstbeteiligungen in Deutschland bei überschuldeten Haushalten nieder. So stellten Wissenschaftler aus Mainz und Nürnberg bereits 2010 fest, Zuzahlungen für Arztbesuche und Medikamente "reduzierten Inanspruchnahme und damit zu einer Benachteiligung in der medizinischen Versorgung führen von Geringverdienern. Von dem lesenswerten Artikel Überschuldung und Zuzahlungen im deutschen Gesundheitssystem - Benachteiligung bei Ausgabenarmut ist allerdings nur das Abstract kostenfrei erhältlich.

Die Forderung nach wissenschaftlicher Begleitforschung für die gewünschte Praxisgebühr pro Arztbesuch ist selbstverständlich zu begrüßen, auch wenn er kaum verhohlen den Versuch einer anbieterinduzierten Nachfragesteigerung bedeutet. Hier ist allerdings größte Vorsicht geboten: Eine seriöse Begleitforschung über Effekte von Zuzahlungen muss weit über die Ansätze hinausgehen, die Gesundheitsökonomen gemeinhin anwenden. Beiträge wie Optimal deductibles for outpatient services in der DGGÖ-Vereinszeitschrift European Journal of Health Economics - ein früherer Forumsbeitrag analysiert den ausgesprochen beschränkten Untersuchungsansatz ausführlicher.

Der Vollständigkeit halber muss man natürlich auch erwähnen, dass keineswegs alle deutschen Gesundheitsökonomen hinter der DGGÖ-Stellungnahme stehen. Das macht zum Beispiel der Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, Klaus Jacobs, in dem Beitrag "Die Debatte um die Praxisgebühr geht an der Versorgungswirklichkeit vorbei" klar, der in der AOK-Medienservice-Ausgabe von April 2012 verschiedene Aspekte anführt, warum Patientenzuzahlungen für Arztbesuche der falsche Weg sind. In der Mai-Ausgabe von Gesundheit und Gesellschaft, dem AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft, führt Klaus Jacobs in seinem Beitrag Ungebührlicher Zankapfel noch einmal wesentliche Kritikpunkte an der Stellungnahme der DGGÖ auf den Punkt.

An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass die DGGÖ-Stellungnahme zur Praxisgebühr wichtige Botschaften und Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ignoriert und sogar konterkariert. Das ist insofern bemerkenswert, als die Bezeichnung Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie einen gewissen Bezug zu der einzigen international anerkannten, Normen setzenden Fachbehörde der Vereinten Nationen im Bereich Gesundheit erwarten ließe. Aber der DGGÖ-Vorschlag widerspricht zum einen den WHO-Empfehlungen zur universellen Absicherung im Krankheitsfall, die auch auf die Verringerung der unmittelbaren finanziellen Belastung durch Gesundheitsausgaben abzielt. Zum anderen übergeht sie non-challant relevante und vielfach empirisch belegte Erkenntnisse über den großen Einfluss sozialer Determinanten auf die Gesundheit der Menschen, nachlesbar auf der WHO-Seite zu Social determinants of health: Als nicht einkommensabhängige finanzielle Abgaben belasten Zuzahlungen im Krankheitsfall ärmere Menschen stärker als besser gestellte, halten sie öfter von der Inanspruchnahme ab und verstärken die ohnehin bestehende soziale Benachteiligung, anstatt zu ihrem Abbau beizutragen. Diese Zusammenhänge zu erkennen, sollte man eigentlich von Gesundheitsökonomen erwarten dürfen.

Die Stellungnahme der DGGÖ Die Praxisgebühr reformieren - andere Zuzahlungen überdenken vom 11. April.

Jens Holst, 12.4.12


ZahnmedizinerInnen und MedizinerInnen haben nach eigenen Angaben und über ihr gesamtes Erwerbsleben die höchsten Nettostundenlöhne

Artikel 2106 Die durch zu hohe Beiträge der GKV-Versicherten angewachsenen milliardenschweren Überschüsse und Rücklagen im Gesundheitsfonds und bei den meisten Kassen wecken seit Wochen fast täglich neue Begehrlichkeiten. Zu den ersten in dieser Schlange gehören Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte. Dies wirft erneut die Frage nach der Höhe des Einkommens niedergelassener Ärzte auf, die egal, ob das Statistische Bundesamt oder Krankenkassenverbände Jahresdurchschnittseinkommen vor oder nach Steuern veröffentlichen, von Ärztefunktionären in Richtung "Hungertuch" heruntergerechnet werden.

Etwas Licht in diese interessengetrübte Debatte bringen jetzt vielleicht die aus dem repräsentativen Mikrozensus 2005 bis 2008 stammenden eigenen Angaben der 21- bis 65-jährigen Erwerbstätigen zu ihren durch Erwerbstätigkeit (Einnahmen aus Kapitalanlagen, Mieteinnahmen und Sozialtransfers sind ausgeklammert) erzielten Netto-Stundenlöhnen, die das Statistische Bundesamt dann auf dem heutigen Niveau für die maximal mögliche Erwerbsdauer berechnete.
Als Vergleichsgröße gilt der durchschnittliche Nettostundenlohn von Abiturienten nach der Ausbildung über das gesamte Erwerbsleben von 12 Euro für Männer und 9 Euro für Frauen. Netto bedeutet das Einkommen durch Erwerbstätigkeit nach Abzug aller Sachaufwendungen für die Ausübung der Tätigkeit, Steuern und Sozialabgaben.

Sowohl bei den Männern wie bei den Frauen stehen an der Spitze der Stundenlöhne für das gesamte Erwerbsleben die Absolventen eines Universitätsstudiums der Zahnmedizin und (Human-)Medizin. Männliche Zahnärzte haben einen Nettostundenlohn von 19,33 Euro, Zahnärztinnen von 15,50 Euro. Humanmediziner verdienen pro Stunde 17,77 Euro netto und Medizinerinnen 13,36 Euro netto. Auf den weiteren Plätzen der Lohnskala folgen mit bereits mehreren Euro weniger Nettostundenlohn weitere Erwerbstätige mit Hochschulabschluss wie Betriebswirte und Juristen. Ein Hochschulabschluss garantiert aber keineswegs Spitzenplätze beim Stundenlohn: Wer als Mann an einer Universität Sozialarbeit studiert hat, landet mit einem lebensdurchschnittlichen Stundenlohn von 8,90 Euro auf Platz 64 der Lohnskala und damit noch hinter nach einigen Erwerbstätigen mit einem beruflichen Abschluss wie z.B. Bankkaufleute. Auf den letzten Plätzen der hier näher analysierten 69 Berufstätigkeiten oder Fächer mit einem Abschluss stehen jeweils mit Stundenlöhnen zwischen 8,70 Euro und 8,16 Euro bei den Männern und 6,59 Euro bis 5,55 Euro bei den Frauen Tätigkeiten mit einer beruflichen Ausbildung wie Krankenpflege (Platz 67 bei den Männern) oder Körperpflege (Platz 65 bei den Frauen).

Die hier vorgestellten Ergebnisse finden sich ausführlich in dem Aufsatz "Uni, Fachhochschule oder Ausbildung - welche Fächer bringen die höchsten Löhne? von Daniela Glocker und Johanna Storck, der im Wochenbericht 13-2012 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlicht und komplett kostenlos erhältlich ist.

Bernard Braun, 31.3.12


Zuzahlungen in der GKV 2005-2010: Jährlich rd. 5 Mrd. Euro, kaum erwünschte aber durchaus unerwünschte Steuerungswirkungen

Artikel 2103 Die bunte Schar aller gesundheitspolitisch Verantwortlichen führte in einer Art größtmöglichen Koalition seit den 1970er Jahren für mittlerweile rund drei Viertel aller Leistungen Zuzahlungen ein und belegte mit der Praxisgebühr auch bereits den Zugang zu ambulanten ärztlichen Leistungen mit einem Zoll. Dies geschah weitgehend unbeeindruckt von wissenschaftlichen Warnungen vor dem Nichteintritt der erwünschten Steuerwirkungen und vor dem Eintritt unerwünschter Wirkungen wie z.B. der folgenreichen Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen durch Kranke. Am Ende waren Zuzahlungen auf ein süchtig machendes Instrument zur Einnahmeerhöhung der Krankenkassen auf Kosten von Kranken zusammengeschrumpft. Um die schlimmsten sozialen Belastungen zu dämpfen nahm auch die Anzahl und Komplexheit von Befreiungsmöglichkeiten und Belastungsgrenzen zu.

Da auch die Gesundheitspolitiker nicht zu wissen vorgaben, was die Effekte all dieser Regelungen sind, verpflichteten sie im § 62 Abs. 5 SGB V die Spitzenverbände der Krankenkassen "für das Jahr 2006 die Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht hinsichtlich ihrer Steuerungswirkung" zu "evaluieren" und dem Deutschen Bundestag "spätestens bis zum 30.6. 2007 einen Bericht vor (zu (legen)." Nach langem Hin und Her, mehrmaligen Versuchen, an einem solchem Bericht doch noch vorbeizukommen, der Weigerung mancher Kassen, hierfür Daten zu liefern und der für eine ordentliche Studie nicht zu realisierenden aber methodisch angeblich notwendigen Anzahl von mindestens 700.000 GKV-Versicherten, legte der Spitzenverband Bund der Krankenkassen dann im November 2011 einen Bericht vor, der am 20. Februar 2012 zusammen mit anderen Texten als Drucksache des Deutschen Bundestages erschienen ist.

Damit liegt eine Reihe von vorher nicht leicht zugänglichen Daten zur Zuzahlungswirklichkeit in den Jahren 2005 bis 2010 vor:

• Die bereinigte Summe aller Zuzahlungen sank daher von 5,193 Milliarden (Mrd.( Euro im Jahr 2005 auf 4,837 Mrd. Euro im Jahr 2009 und stieg 2010 wieder auf 5,023 Mrd. Euro.
• Die durchschnittliche jährliche Zuzahlungsbelas¬tung je Versicherter im genannten Zeitraum beträgt rund 72 Euro.
• Die Anteile der Zuzahlungen für ärztliche Behandlung und Arzneimittel etc. waren absolut am höchsten, die für ergänzende Leistungen zur Rehabilitation und Empfängnisverhütung am niedrigsten.
• Von Zuzahlungen befreit waren insgesamt 6,986 Millionen Versicherte im Jahr 2005 und 7,852 Millionen im Jahr 2010.

Angesichts der genannten Schwierigkeiten der Datenbeschaffung für eine eigene GKV-repräsentative Untersuchung und wohl auch wegen der Zwickmühle in der die GKV als Nutznießer der Zuzahlungen objektiv sitzt, stützt sich der Spitzenverband der GKV zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags, die Steuerungswirkung zu erkunden, auf sechs veröffentlichte empirische Studien. Zwei Studien widmen sich den Steuerungswirkungen der Selbstbeteiligungsregelungen bei Arzneimitteln einschließlich der Befreiungsregeln, die übrigen haben die Steuerungswirkungen der am 1. Januar 2004 eingeführten Praxisgebühr zum Gegenstand.

Die Erkenntnisse dieser Studien fasst der GKV-Spitzenverband so zusammen: "Bei der Untersuchung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage der Steuerungswirkungen von Zu¬zahlungen in der GKV konnten den zugrunde gelegten sechs Studien in der Gesamtbetrachtung keine eindeuti¬gen Hinweise auf nachhaltige Steuerungswirkungen der geltenden Zuzahlungsregelungen entnommen werden. So attestieren zwei Studien den Zuzahlungen bei Arzneimit¬teln nur sehr geringe Steuerungswirkungen, wobei die Aussagekraft einer Studie für die Gegenwart einge¬schränkt wird, da sie sich auf die Zeit vor dem 1. Januar 2004 bezieht. Die übrigen Studien haben die Auswirkun¬gen der Praxisgebühr im Rahmen von Befragungen unter¬sucht und kommen nicht zu einheitlichen Ergebnissen. So hat eine Studie für das Jahr 2004 feststellt, dass die Pra¬xisgebühr zur Konzentration auf die Inanspruchnahme gesundheitlich notwendiger Arztkontakte und zur Reduk¬tion nicht notwendiger Arztkontakte beigetragen hat, ohne die Inanspruchnahme von Personen mit einge¬schränkter Gesundheit, Schwerbehinderung, Pflegebe¬dürftigkeit oder niedrigem Einkommen einzuschränken. Zwei weitere Studien mit längerer Beobachtungszeit kommen demgegenüber zu dem Ergebnis, dass die Pra¬xisgebühr die Inanspruchnahme von Ärzten ab 2005 nicht signifikant bzw. nachhaltig gegenüber dem Niveau vor dem 1. Januar 2004 gesenkt hat. In den beiden Studien, in denen explizit nach der Vermeidung von Arztbesuchen wegen der Praxisgebühr gefragt wurde, gaben zwischen 13 und 18 Prozent der Befragten an, wegen der Praxisge-bühr einen subjektiv notwendigen Arztbesuch unterlassen zu haben. Die Studien stellen zudem fest, dass die Praxis¬gebühr insbesondere bei einkommensschwachen Versi¬cherten bei vorliegender Krankheit zu einer Verzögerung oder Vermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesu¬chen geführt hat."

Wegen dieser Ergebnisse und weiterer etwas älterer aber auch aktuellerer wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse über die zweifelhaften Steuerungswirkungen von Zuzahlungen aus dem In- und Ausland sollte ernsthaft über die Abschaffung oder den raschen Abbau der Zuzahlungen und der Praxisgebühr nachgedacht werden und der Einnahmeverlust solidarisch oder durch den längst überfälligen und milliardenschweren Abbau von Über- und Fehlversorgung kompensiert werden. Das plötzliche Interesse an der Umverteilung der jüngst zu üppigen Einnahmen der GKV oder die Tatsache, dass die Verwaltung der Praxisgebühr allein schon 300 Millionen Euro pro Jahr kosten soll (das entspricht in etwa allen Ausgaben der GKV für Prävention!!!), sollte allenfalls eine verstärkende Rolle spielen.

Die Bundestagsdrucksache 17/8722 vom 10.2.2012 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluation der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht bzw. der Ergänzende Bericht des GKV-SV vom 15. November 2011 zu dem "Bericht der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Evaluation der Ausnahmeregelungen von der Zuzahlungspflicht nach § 62 Absatz 5 SGB V" gibt es komplett kostenlos.

Bernard Braun, 26.3.12


Windchill-Effekt auch bei der Bürokratie wirksam

Artikel 2073 Nun haben wir es endlich schwarz auf weiß: Die gefühlte Bürokratie-Belastung niedergelassener ÄrztInnen in Deutschland ist hoch, sehr hoch sogar, und allemal zu hoch. Das ist das einzige verwertbare Ergebnis einer im Dezember 2011 mit großem Brimborium lancierten Untersuchung "Deutsches Gesundheitssystem auf dem Prüfstand. Kostenfalle Komplexität" der Unternehmensberatungsfirma A.T. Kearney.

Die einschlägige Presse griff die Botschaften der Unternehmensberater dankbar auf. Der Spiegel titelt am 31. Dezember Im Gesundheitssystem versickern Milliarden und legt am 2. Januar mit Bürokratie treibt Kosten nach. Die Welt übernimmt ebenfalls am Silvestertag in ihrem Beitrag Bürokratie macht Viertel der Gesundheitskosten aus unreflektiert die Aussagen der Unternehmensberater-Agentur, und das Handelsblatt zieht den überraschenden Schluss Gesundheitswesen kostet mehr als gedacht, der sich nur daraus erklären lässt, dass mensch entweder vorher falsch gedacht hat oder die von A.T. Kearney angeführten Zahlen glaubt, die beiden Gesamtausgaben interessanterweise etwa 25 Milliarden über denen des Gesundheitsministerium liegen. Die Ärztezeitung widmet sich dem Thema erstmalig zum Neujahrstag mit ihrem Beitrag Lebt das Bürokratie-Monster in der GKV? und legte am 5. Januar in Bürokratie im Orkus nach, wo auch Bundesärztekammerpräsident Montgomery die Möglichkeit zu einer überflüssigen Stellungnahme im Dienste der Standesorganisationen und -vertreterInnen erhält: "Wir begrüßen es außerordentlich, dass einmal mehr auf die absoluten Missstände der Bürokratisierung des Gesundheitswesens hingewiesen wird".

Was war geschehen? Was war der Grund für einen derartigen Presserummel? Eigentlich nichts, außer vielleicht ein wenig heiße Luft. Eine Unternehmensberatungsfirma, die bisher nicht im Verdacht steht, über nennenswerte Expertise im Bereich Gesundheit zu verfügen, hatte im Auftrag einer ganz bestimmten Gruppe niedergelassener ÄrztInnen eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, wie viel bürokratischen Aufwand die Leistungserbringer im deutschen Gesundheitswesen zu bewältigen haben bzw. zu bewältigen haben fühlen. Zwischen Juni und August 2011 führte A.T. Kearney mit Unterstützung des Online-Portals facharzt.de des Ärztenachrichtendienste eine deutschlandweite Umfrage unter 6.000 LeistungserbringerInnen durch, die in unmittelbarem Kontakt mit PatientInnen stehen. Zur Validierung der Befragungsergebnisse erfolgten "vertiefende Arbeitsverteilungsanalysen" und die pekuniäre Quantifizierung des Verwaltungsaufwandes.

Nach den Berechnungen von A.T. Kearney hätten 2010 die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland einschließlich der Patientenzuzahlungen insgesamt 181 Milliarden Euro betragen; nach Abzug der GKV-Nettoverwaltungskosten und sonstiger Ausgaben seien nach Angabe von A.T. Kearney 165, aber unter Einbeziehung der im Übrigen mit nicht unerheblichem Verwaltungsaufwand behafteten Selbstbeteiligungen 170 Milliarden Euro angefallen. Das von A.T. Kearney ermittelte Datenmaterial habe zusätzlich ergeben, dass abweichend von offiziellen Zahlen über die genannten" 9,5 Milliarden Euro Verwaltungsausgaben der Krankenkassen hinaus "durch die GKV verursachte Verwaltungsaufwände bei den Leistungserbringern" entstünden und insgesamt von einem Gesamtverwaltungskostenaufwand von 40,4 Milliarden Euro auszugehen sei. Denn der Anteil des GKV-induzierten Verwaltungsaufwands auf Seiten der Leistungserbringer belaufe sich auf insgesamt 18 Milliarden Euro.

Nach Selbsteinschätzungen der von A.T. Kearney befragten Leistungserbringer könnte man mindestens 50 % ihrer durch die gesetzlichen Krankenkassen induzierten Verwaltungsaufwände und -kosten durch eine "gezielte Verschlankung des Gesundheitssystems" einsparen. Bezogen auf die zuvor durch A.T. Kearney ermittelten gesamten "GKV-induzierten Verwaltungskosten" kam das Beratungsunternehmen auf ein effektives "Kostenreduktionspotenzial" von 13 Milliarden Euro alleine für 2010. Schuld an all der gefühlten Verschwendung sind die so genannten "Komplexitätstreiber" im Gesundheitswesen, was immer das sein mag.

Die "Studie" von A.T. Kearney beglückt das geneigte Publikum und überrascht die Fachleute schließlich mit "Optimierungsvorschlägen", die so neu sind wie die Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, so phantasievoll wie man es eben von primär betriebswirtschaftlich denkenden BeraterInnen erwarten kann, so praxisrelevant wie die Steinzeitmedizin oder so unklar wie die Weltformel:
•Anzahl der Akteure: Reduzierung der Anzahl gesetzlicher Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigungen
•Anzahl der Produkte und Dienstleistungen: Zweckmäßige Reduzierung der Anzahl von Produkten
•Nicht aufeinander abgestimmte Prozesse: Zielgenaue Verwaltung und Begleitung von Prozessen
•Mangelhafte Organisationsstrukturen: Verschlankung von Kommunikationsprozessen
Unterschiedlichste IT-Systeme: Vereinheitlichung im Rahmen gesetzlicher Maßgaben
•Indirekte Kommunikation zwischen den Akteuren: Einführung direkter, verbindlicher Kommunikationsabläufe
•Erhöhte Patientenanforderungen durch erhöhtes Alter und Lebensumstände: Abwägung individuelle Zuwendungsmedizin vs. Standardmedizin
•Reduzierung formalistischer Betrachtungsweisen der Wissenschaft
•Beeinflussung der Gesetzgebung durch Lobby- und Interessengruppen: Dezentralisierung des Gesundheitssystems und Förderung von Interessenskongruenz
•Ständig wechselnde Reformen und Gesetze: Reduzierung von "quick-fixes" und Förderung nachhaltiger Veränderung.

Spätestens diese Aufzählung von Lösungsvorschlägen zeigt eindrücklich, dass die vermeintlichen Fachleute von A.T. Kearney weder etwas von Gesundheitsversorgung noch von Gesundheitspolitik verstehen. Ihre Vorstellungen von Organisation des Gesundheitswesens sind ausgesprochen naiv. Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK bezweifelt zwar nicht, dass es Potenzial zur Verringerung des Bürokratieaufwands gibt, weist aber darauf hin, dies sei keineswegs allein ein Problem in der GKV, sondern auch in der PKV. Darüber hinaus schaffe die von A.T. Kearney geforderte Transparenz wiederum neue bürokratische Anforderungen. In einem nur für Abonnenten dieses Forums zugänglichen Interview mit dem ärztlichen Nachrichtendienst änd ergänzt er: "Wir sollten außerdem erst einmal fragen, worüber genau wir hier sprechen. Verwaltung hört sich immer gleich so negativ an. Warum sagen wir nicht Versorgungskoordination? Oder besser noch: Management? Letztendlich handelt es sich häufig auch um Maßnahmen, die Transparenz herstellen sollen, wie sie ja in der Studie auch vermehrt gefordert wird". Für jedermann einsehbar ist allerdings die weitaus differenziertere und inhaltsreichere Stellungnahme von Klaus Jacobs im Reformblock; der Beitrag Bürokratiekosten-Studie voller ordnungspolitischem Unverständnis ist ausgesprochen empfehlenswert.

Wirtschafts- und Gesundheitsredakteur Andreas Mihm zeigt in seinem leider für Nicht-Abonnenten nicht kostenfrei erhältlichen Artikel Der Complexity Funnel der Krankenversicherung in der FAZ mühelos ein paar intrinsische Widersprüche der Empfehlungen auf: "Doch die Rezepte der Berater für eine Schlankheitskur fallen mager aus. Sie bestehen aus viel einerseits und andererseits. So soll die Zahl der Kassen weiter sinken, doch dürften "wünschenswerte Elemente des Wettbewerbs" nicht außer Kraft gesetzt werden. Einerseits sollen medizinische Produkte und Dienstleistungen begrenzt werden, aber ohne dem Patienten die erste Entscheidung darüber zu nehmen, "welchen Bedarf er zu seiner Gesundheitsversorgung für wünschenswert hält". Kommunikationsstrukturen und IT-Systeme sollten einerseits vereinheitlicht werden, doch werde andererseits "eine schrankenlose Vernetzung von Datenbänken ... auf weite Sicht realistisch nicht durchzusetzen sein"."

Und der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem bemängelte, die A.T. Kearney-Analyse basiere gar nicht auf offiziellen Zahlen und sei allein deshalb nicht mit anderen Untersuchungen vergleichbar. Auch sei die Methodik der Verwaltungskostenzurechnung auf die GKV problematisch, denn Versorgung organisierende oder Qualität sichernde Maßnahmen seien eben kein vermeidbarer Mehraufwand. Zudem spricht er der Analyse jegliche Repräsentativität ab, da die TeilnehmerInnen ganz überwiegend selbstrekrutiert sind und man überhaupt nicht nachvollziehen könne, inwieweit die Stichprobe das Gesundheitswesen abbildet.

Wie selektiv und tendenziös die Erhebung des gefühlten Bürokratieaufwands einzelner Leistungserbringer ist, davon vermittelt der Beitrag eines fleißigen Hippokranet-Nutzers im Online-Portal facharzt.de einen viel sagenden Einblick. Denn er erklärt, was die an der Umfrage beteiligten Niedergelassenen üblicherweise alles unter "Bürokratie" verstanden haben dürften: "Informationsbeschaffung elektronische Gesundheitskarte, Aussortieren der "Ambulanten Kodierrichtlinien" und Weiterleitung in die Rundablage, Beantwortung von Kassenanfragen, Ausfüllen von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Teilnahme an EBM-Fortbildungsveranstaltungen (um endlich einmal zu verstehen wie sich RLV und QZV errechnen), Studium der neusten Richtlinien zur Ausfüllung von Heilmittelanträgen (72 Seiten), Bearbeitung des letzten Widerspruchs zum Arzneimittelregress, Telefonat mit dem Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit, Beantwortung von Anfragen der Ärztekammer, Studium der neusten sieben DMP-Verträge und der Verträge für eine mögliche überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft, Ausarbeitung der TOP für die nächste Sitzung des Qualitätszirkels, Studium der reichhaltigen Fortbildungsangebote in verschiedenen Ärztezeitschriften und Erstellung eines persönlichen Fortbildungsprogramms, Beantwortung diverser Anfragen des Versorgungsamts (seit mehr als zwanzig Jahren unverändert für ein mieses Honorar von 20 Euro), dann die tägliche Papierflut aus Wiederholungsrezepten, Hilfsmittelverordnungen, Krankenhauseinweisungen, Krankentransportscheinen, Verlängerungen für häusliche Krankenpflege, Anträge auf Kostenübernahme, Ärztliche Bescheinigungen für alles Mögliche…" Dieser kleine Überblick zeigt nicht nur die ganze Unschärfe der Untersuchung von A. T. Kearney, sondern umfasst auch etliche Tätigkeiten, die - ob man sie mag oder nicht -typischerweise von MedizinerInnen zu erbringen sind, wie das Erstellen von Gutachten, Rezeptausstellungen, Krankenhauseinweisungen und die eigene Fortbildung. Das würde spätestens dann sichtbar, wenn plötzlich andere Berufsgruppen diese ur-ärztlichen Tätigkeiten übernehmen sollten: Spätestens wenn medizinische Fachangestellte PatientInnen ins Krankenhaus einweisen oder Rezepte ausstellen dürften, käme es zu einem ähnlichen Proteststurm wie bei der Diskussion über die Verlagerung ärztlicher Tätigkeit auf OperationstechnikerInnen oder Gemeindepflegekräfte.

Eine andere Meinungsäußerung im Hippokranet-Forum spiegelt - vermutlich unbewusst - das Dilemma wider: "Hier ist es beeindruckend gelungen, mit einer überzeugend angelegte Studie das Vorfeld so vorzubereiten, dass das Meinungsbild offensichtlich länger anhaltend mitbestimmt. Die Lehre ergibt sich für die Zukunft, dass auch im polit. Bereich auf sensiblen Streitfeldern der sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Standard auf seiten der Ärzteschaft angehoben werden muss, will man denn Einfluss der GKV-Verwaltungsdominanz zurückdrängen." Nur der unzureichende " sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Standard auf seiten der Ärzteschaft" erklärt, wie man angesichts dieser inhaltlich bedenklichen, argumentativ mehr als dünnen und auffällig im Sinne der InitiatorInnen ausgefallenen "Studie" von "beeindruckend" und "überzeugt angelegt" sprechen und von einer nachhaltigen Beeinflussung der öffentlichen Meinung ausgehen kann.

Bei der nahezu uneingeschränkten Zustimmung zu den Ergebnissen der A.T. Kearny-Publikation zur gefühlten Bürokratie-Belastung überrascht, dass die Nutzer der Online-Plattform kein Wort zu der Unbeschlagenheit der engagierten Unternehmensberatung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens verlieren. In einem Forum selbsternannter Fachleute von der ambulanten Versorgungsfront, deren Wortführer ansonsten hemmungslos jede vom Mainstream abweichende Äußerung aggressiv verbal niederknüppeln und vor allem deren Urhebern sowie allen anders Denkenden jegliche gesundheitsbezogene Kompetenz und jeden "Realitätsbezug" absprechen, ist das mehr als verwunderlich.

Weniger überraschend ist die grundsätzlich unkritische Aufnahme der so sehnlich erwünschten Ergebnisse dieser vermeintlichen "Studie", die … endlich mal … oder so. Das Verständnis von Untersuchungsverfahren, Studiendesigns, statistischer Auswertung und vor allem zulässiger und unzulässiger Schlussfolgerungen ist in der Ärzteschaft generell unterentwickelt, wie nicht zuletzt systematische Aufklärungs- und Nachbildungsbemühungen des Deutschen Ärzteblatts mit der 2009 begonnene Serie über Statistische Verfahren in der medizinischen Forschung belegen. Auf den aufschlussreichen Artikel Helping Doctors and Patients Make Sense of Health Statistics verwiesen wir bereits im Forum Gesundheitspolitik bereits nach dessen Erscheinen Ende 2008.

Ernüchterung wird sich in der zurzeit begeisterten Ärzteschaft spätestens dann breit machen, wenn A.T. Kearney mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen im Auftrag anderer Player ankommt. Denn die sich selbst in aller Bescheidenheit als "eines der führenden internationalen Top-Management-Beratungsunternehmen" anpreisende Firma kann auch anders und hat auch schon anders. In unübersehbarem Widerspruch zu den Kernaussagen und -forderungen der aktuellen Arbeit von A.T. Kearney enthalten frühere Publikationen Empfehlungen, die mit spürbarem Bürokratieaufbau verbunden sein müssen, um zu funktionieren. So empfahl A.T. Kearney 2009 in der Publikation Wie sich die gesetzlichen Kassen weiterentwickeln müssen auf S. 2 den Auf- und Ausbau der Abrechnungsprüfung, verstärktes Fallmanagement, striktere Prüfung der Leistungsgewährung, Überprüfung aller Verträge auf ihren Nutzen sowie Versorgungsmanagement bzw. neue Verträge, was schwerlich zum Abbau von Bürokratie beitragen kann, und empfahl zwei Seitenweiter "zum Beispiel attraktive Wahltarife, Zahlung von Behandlungen, die noch nicht Teil der Kassenleistung sind …" - also nichts von wegen "Anzahl der Produkte und Dienstleistungen".

Einen Vorabdruck der "Studie" von A.T. Kearney bietet der ärztliche Nachrichtendienst änd für eingeschriebene Nutzer. Für Jederman/frau kostenlos zugänglich ist ein Auszug der "Studie" bestehend aus Inhaltsverzeichnis, Zusammenfassung, Einleitung, Danksagung, Abbildungsverzeichnis und Literaturverzeichnis. Die zugehörige Presseerklärung von A.T. Kearney steht ebenfalls auf der Website der Unternehmensberatung kostenlos zum Download zur Verfügung. Für den beachtlichen Preis von 49,- EUR können Sie die Studie hier auch beim Erzeuger als Druckversion bestellen.

Eine etwas differenziertere Darstellung des "Bürokratiemonsters", das "vielen Ärztinnen und Ärzten die Freude an der Arbeit" verderbe und ihnen Zeit stehle, findet sich in der Ausgabe vom 30.3.2012 des Deutschen Ärzteblatts. Der Artikel Bürokratie in Praxen und Krankenhäusern: Vom Versuch, den Alltag in Ziffern zu pressen geht aus Sicht der MedizinerInnen auf die verschiedenen Arbeitsbereiche ein, die zumindest in der Wahrnehmung unter den Bereich Bürokratie fallen, lässt aber beispielsweise nicht unerwähnt, dass die meisten ÄrztInnen nicht das Verfassen von Arztbriefen als Verwaltungsuafwand empfinden, wohl aber deren Eingabe in einen Computer.

Und noch etwas: Erdrückende, teure und sinnlose Bürokratie zeichnet das gesetzliche deutsche Krankenkassenwesen seit seiner Entstehung aus. Davon legt ein Buch beredtes Zeugnis ab, dessen Autor nicht nur den gleichen Nachnamen trägt wie Peter Hartz, sondern viele seiner Ideen schon Jahrzehnte vorher gedacht und zu Papier gebracht hat, wie der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge in seinem Essay Hartz in Weimar darlegte. Der deutschnationale Kaufmann und kurzzeitige DNVP-Reichstagsabgeordnete Gustav Hartz geißelte 1928 in seinem lesenswerten Buch "Irrwege der deutschen Sozialpolitik" wortreich genau dieselben Fehler und Schwächen des GKV-Systems wie mehr als 80 Jahre später die meisten NutzerInnen des ärztlichen Nachrichtendienstes. Zur Erbauung stellen wir den LeserInnen des Forum Gesundheitspolitik hier auszugsweise sechs Seiten des Buches zur Einsicht zur Verfügung, in denen es auch um überbordenden Bürokratismus geht.

Jens Holst, 1.2.12


Neues aus der Bildungsforschung: Der besonders hohe Nutzen von Hochschulabsolventen für die Sozialbeiträge in Deutschland

Artikel 2004 "Wir" können uns die "Export-Vizeweltmeister"-Rolle, Banken- und Euro-Rettungsschirme, eine immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Wenig- und Vielverdienern "leisten", nicht aber eine humanere und soziale Versorgung von Demenzkranken, einen lebensgerechten Hartz IV-Regelsatz oder einen steigenden statt stagnierenden oder sogar abnehmenden Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt.

Den Beleg für die im internationalen Vergleich mit den restlichen 33 Mitgliedsstaaten der OECD sogar seit Jahren geringer werdenden Bildungsausgaben liefert der gerade veröffentlichte OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick 2011 OECD-Indikatoren":

• Danach betrug der Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der im Jahr 2008 für sämtliche Bildung ausgegeben wurde in der OECD 6,1%, der in Deutschland 4,8%. Nur in Ländern wie Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Italien war der gesellschaftliche Aufwand für Bildung gleich niedrig oder sogar noch niedriger.
• Der Anteil der Bildungsangaben am BIP sank auf einem relativ niedrigen Niveau zwischen 1995, 2000 und 2008 in Deutschland kontinuierlich von 5,1% über 4,9% auf 4,8%, während er im OECD-Durchschnitt insgesamt stieg und in der EU21-Gruppe auf dem höheren Niveau des Jahres 1995 stehenblieb.
• Der Anteil der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren, der einen Hochschulabschluss hatte, stieg in Deutschland zwischen 1997 und 2009 von 23 auf 26%. Dieser Anstieg belief sich in der gesamten OECD auf 9 Prozentpunkte von 21% auf 30%.
• Was in dem Bericht an vielen Punkten deutlich wird, ist aber trotz der jahrzehntelangen Debatte über Chancen- und Startgerechtigkeit in allen Parteien und gesellschaftlichen Institutionen die enorme soziale Ungleichverteilung von Bildungschancen bzw. soziale Selektion durch das reale Bildungssystem in Deutschland: So studierten 2008 von 100 Akademiker-Kindern 71, von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien aber nur 24. Trotz unendlich vieler steuerfinanzierter Dienstreisen von Mitgliedern der Bildungsausschüsse auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene in die selektionsärmeren Bildungssysteme Finnlands oder Schwedens, folgt die Wirklichkeit dem Motto "außer Spesen nichts gewesen".

Wer die Folgen- und Tatenlosigkeit der jahrzehntelangen Rhetorik über die hohe Bedeutung von Bildungsausgaben für die Zukunft des rohstoffarmen Deutschlands nicht mehr hören kann, findet in dem Bericht eine Fülle von Argumenten, mit denen sich vielleicht doch mehr Leben in die erstarrte Debatte über Bildung und ihre Folgen bringen lässt. Die Lektüre ist also in jedem Fall empfehlenswert.

Und der Bericht enthält auch Informationen, die Bewegung in die Debatte über die Finanzierung und Finanzierbarkeit von Sozial- und Gesundheitspolitik bringen könnte.

Gemeint sind die rein ökonomischen Berechnungen über die Kosten und den privaten wie öffentlichen Nutzen von Investitionen in verschiedene Bildungsabschlüsse und darunter besonders die tertiäre Ausbildung für das Jahr 2007. Das Ergebnis ist eindeutig, praktisch aber paradox: Investitionen in die Bildung, und vor allem in die Hochschulbildunglohnen sich z.B. in Gestalt eines durchweg höheren Einkommens und einer wesentlich höheren Erwerbssicherheit für die so qualifizierten Personen. Höhere Bildungsabschlüsse lohnen sich aber unter dem Strich auch für die staatlichen und öffentlichen Einrichtungen wie die Sozialversicherungsträger. Und in Deutschland ist der öffentliche Nutzen sogar besonders hoch. Mit einem öffentlichen Gesamtnutzen von 168.649 US-Dollar über das gesamte Erwerbsleben der Hochschulabsolventen hinweg, liegt Deutschland (in der gesamten OECD beträgt dieser Nutzen "nur" 91.036 US-Dollar) weltweit auf Platz 2 - hinter den USA mit 193.584 US-Dollar. Der öffentliche Nutzen setzt sich u.a. aus 130.173 US-Dollar zusätzlicher Einkommenssteuer und 62.855 zusätzlicher Sozialversicherungsbeiträge zusammen. Diesem Nutzen stehen direkte Investitionen von 29.854 US-Dollar sowie 12.192 US-Dollar entgangene Einkommenssteuer gegenüber. Die so genannte Ertragsrate, d.h. das Verhältnis aller Investitionen in die tertiäre Ausbildung zum Gesamtnutzen für die öffentlichen Kassen beträgt in Deutschland 12,6% und im OECD-Durchschnitt 11,1%.

Der staatliche Nutzen beläuft sich zum Vergleich bei Personen mit sekundärem oder postsekundärem Bildungsabschluss wiederum über das gesamte Erwerbsleben hinweg nur oder auch immer noch auf 56.680 US-Dollar.

Während die Debatte über die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Pflegeversicherung seit Jahren u.a. von Szenarien mit sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgaben beherrscht wird, würden gezielte bildungspolitische Bemühungen um mehr Studierende und Hochschulabsolventen auf längere Frist zusätzliche Einnahmen für die Sozialversicherungsträger im fünfstelligen Dollarbereich generieren. Trotz der Möglichkeit, dass die Einkommen einer größer werdenden Anzahl von Hochschulabsolventen etwas sinken, bliebe das Volumen zusätzlicher Beiträge so groß, dass sich ein Teil der derzeitigen Debatte und ihrer Umsetzung zwischen weiteren Zusatzbeiträgen, Streichung von Leistungen oder deren Privatisierung erübrigen würde oder weniger dramatisch geführt werden könnte.

Woran es liegt, dass selbst angesichts solcher Nutzeneffekte die Zunahme von Hochschulstudierenden und -absolventen eher als Last, denn als Beitrag zu Problemlösungen u.a. im Gesundheitsbereich diskutiert wird, ist nicht einfach zu klären oder müsste sich vermutlich damit befassen, dass eine über Bildung vermittelte soziale Ungleichheit für bestimmte Teile der oberen sozialen und kulturellen Schichten durchaus sozial funktional ist.

Der 613-Seitenbericht "Bildung auf einen Blick 2011. OECD-Indikatoren" ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 22.9.11


Welche Rolle spielen Lohnnebenkosten bei Investitionsentscheidungen in Deutschland und in 12 anderen Ländern? Scheinbar keine!

Artikel 2002 Spätestens dann, wenn jemand öffentlich fordert, die vor zwei Jahren für die Zukunft eingefrorenen Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung wieder aufzutauen und zu einer wirklichen paritätischen Finanzierung der gesamten künftigen Beiträge zurückzukehren, holen Arbeitgebervertreter und ihnen geneigte Multiplikatoren oder Kopflanger wieder das Gespenst der Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch die Lohnnebenkosten hervor. Dazu ist im Forum Gesundheitspolitik schon vieles gesagt worden, u.a. in einer guten Zusammenfassung aus dem Jahr 2005.

Da die Lohnnebenkosten anscheinend zu den unkaputtbaren Vertretern der gesundheitspolitischen Mythen gehören, sind aktuelle Beiträge über die tatsächliche internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland von unmittelbarem praktischen Interesse. Insbesondere gilt dies natürlich für Studien, die auf Äußerungen von Unternehmen und Unternehmern beruhen.

Interessant ist, dass in einer aktuellen internationalen Befragung von 751 Mitgliedern der Geschäftsführung, Leitern internationaler Sparten und Unternehmensführern international agierender mittelgroßer Unternehmen in 13 Ländern (Australien, Brasilien, China, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Indien, Japan, Kanada, Niederlande, Russland, Saudi Arabien, USA) der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Lohnnebenkosten weder fördernd noch hemmend eine ausdrückliche bzw. erwähnenswerte Rolle bei Investitionen spielten. Deutschland hat trotz seiner im Vergleich mit einem Teil der genannten Länder relativ hohen und zum Teil von den Arbeitgebern mitfinanzierten Sozialbeiträge oder Lohnnebenkosten keinerlei erkennbare Nachteile - weder durch eine Standortflucht noch durch Meiden des Investitionsstandortes Deutschland.

Das Gegenteil ist sogar richtig: Unter der Überschrift "Deutschland bevorzugtes Ziel für internationale Expansion" wird gezeigt, dass Deutschland bei der Expansion internationaler Unternehmen mit 12 Prozent auf Platz drei, nach China (16%) und den USA (15%) rangiert. Nach den Gründen gefragt, schätzen "vor allem chinesische Unternehmen … die gut ausgebildeten Fachkräfte, die hohe technische Qualität sowie die effiziente Distributionsstruktur des deutschen Marktes."
Trotz der ebenfalls gesehenen Risiken von Investitionen im Ausland, belegen deutsche Firmen ebenfalls den dritten Platz der am meisten global investierenden Unternehmen. Beliebt ist dabei China (16%), vor den USA (15%) sowie Frankreich (6%) und England (6%). Auch wenn es um die Wahl von Investitionsorten geht, fällt kein Wort zu den möglicherweise niedrigeren Lohnnebenkosten. Vielmehr spielen "insbesondere die Größe des Zielmarktes und die Infrastruktur im Land eine Rolle" so Arno Probst, Vorstand Markets der BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Hinzu kommt dann aber bei 44% der deutschen Firmen die Herausforderung, qualifizierte Mitarbeiter vor Ort zu finden. Und schließlich: "42 Prozent fürchten zudem weltweite Kursschwankungen und 38 Prozent sehen im lokalen Wettbewerb eine wesentliche Hürde. Hinzu kommen bürokratische und geo-politische Hürden."

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Interviewten nicht repräsentativ für die gesamte deutsche, geschweige denn internationale Unternehmenslandschaft sind und dass sie interessanterweise dann nicht von Geld reden, wenn deutliche Kostenverbesserungen oder -vorteile durch die rund ein Jahrzehnt währende Reallohnstagnation in Deutschland existieren, wird deutlich welche minoritäre Bedeutung die Lohnnebenkosten und ihr kleiner Anteil für Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung bei Investitionsentscheidungen wirklich haben.

Die 26 Seiten umfassende 2011-Ausgabe des jährlich erscheinenden BDO Wirtschafts-Barometer "BDO AMBITION SURVEY: GLOBAL OPPORTUNITIES" ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 20.9.11


Lasst die "Sau am besten im Stall"! Verbessert Kostenerstattung die Transparenz und steuert die Inanspruchnahme von Leistungen?

Artikel 1998 Auch wenn die Ablösung des Sachleistungs- durch das Kostenerstattungsprinzip im Moment nicht im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Reformbemühungen steht, handelt es sich bei Kostenerstattung um eine der "Säue", die je nach Bedarf mit viel Getöse durch das "gesundheitspolitische Dorf getrieben wird". Es lohnt sich daher quasi auf Vorrat gründlicher über die systematischen und empirisch erkennbaren Vor- und Nachteile und die Schlüssig- und Stimmigkeit der Kernannahmen und Versprechungen des Kostenerstattungsprinzips nachzudenken.

Dies liegt auch an der Attraktivität des Kostenerstattungsprinzips, die - so eine AutorInnengruppe der Hochschule Fulda - "darin (liegt), dass durch vergleichsweise einfache Maßnahmen - in der Hauptsache durch eine Veränderung der Zahlungsströme - gleichzeitig die Transparenz für die Versicherten erhöht, Abrechnungsbetrug verhindert, das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten reduziert und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch die gestärkte Rolle des Patienten verbessert werden sollen."
Ob diese Argumentationskette theoretisch wie empirisch haltbar ist, versuchen diese AutorInnen, allesamt Gesundheitsökonomen an der Hochschule Fulda, in einem 44 Seiten umfassenden Forschungspapier weitgehend frei von aktuellen Pulverdämpfen zu überprüfen.

Zu den wesentlichen Erkenntnissen der Studie gehören u.a.

• die Feststellung, dass der "durchschnittliche Patient weder die Notwendigkeit von medizinischen Diagnose- oder Therapiemaßnahmen noch deren Qualität in vielen Fällen hinreichend beurteilen kann" und daher "die bloße Kenntnis über die Kosten der erfolgten Maßnahmen für das eigene Inanspruchnahmeverhalten vermutlich weithin irrelevant" (Klaus Jacobs et al. 2010) ist,
• die gesicherte Erkenntnis, dass mit der Kostenerstattung insbesondere im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung weder eine Zunahme der Steuerungskompetenz des Patienten noch eine höhere Wirtschaftlichkeit erkennbar sind,
• die ebenfalls gesicherte Erkenntnis, mit den reinen Preisinformationen die immer noch weit verbreitete angebots- oder anbieterinduzierte Nachfrage nicht zu verhindern sein dürfte,
• die bereits in Untersuchungen während der 1990er gemachte Beobachtung, dass allein erhöhte Transparenz nicht zwangsläufig zu einem erhöhten Kostenbewusstsein führe. Wenn überhaupt, müsse Kostenerstattung erst noch durch ein zusätzliches System von Selbstbeteiligungen und Beitragsrückerstattungen "scharf gestellt" werden und
• die bereits mehrfach bestätigte Erkenntnis (u.a. durch eine Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung), dass Kostenerstattung höchstens für relativ wenige und vermögende Versicherte eine attraktive Wahloption ist und
• dass ein funktionierendes Kostenerstattungssystem unbedingt ein soziales Ausgleichssystem brauche.

Aus einer einer vergleichenden Untersuchung der Kostenerstattungsempirie in den Niederlanden, Australien und Deutschland leiten die Fuldaer GesundheitsökonomInnen drei Schlussfolgerungen für die weitere Debatte ab:

• "Wird dem Leistungserbringer die Wahl zwischen Abrechnung nach Kostenerstattung und Sachleistung überlassen und weichen außerdem die Abrechnungsbeträge von den Erstattungsbeträgen nach oben ab, kann dies für die Patienten erhebliche finanzielle Folgen haben. Die freie Arztwahl löst dieses Problem nicht vollständig. Die Patienten werden nicht immer Leistungsanbieter finden, die freiwillig nach dem Sachleistungsprinzip abrechnen."
• "Das Interesse der Leistungsanbieter am Kostenerstattungsprinzip ist dann extrem niedrig, wenn die Höhe der Abrechnungsbeträge in Kostenerstattung und Sachleistung nicht voneinander abweichen. Eine Angleichung der Abrechnungssysteme reduziert damit das Interesse der Leistungsanbieter an der Kostenerstattung dramatisch. Gleichzeitig würde aus Sicht der Versicherten ein wesentlicher Nachteil der Kostenerstattung entfallen."
• "Wenn sich die Versicherten des Unterschieds zwischen Sachleistung und Kostenerstattung nicht bewusst sind, können sich die Versicherer durch den Ausbau des Kostenerstattungsprinzips ihrer Verantwortung für die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung entziehen. Es besteht damit die Gefahr, dass sich die Krankenversicherer bei einem steigenden Anteil von Kostenerstattungstarifen ihrer Steuerungs- und vor allem Sicherstellungsverantwortung entziehen."

Die Quintessenz der eigenen systematischen Analyse dreier Szenarien, die von der obligatorischen Kostenerstattung mit differenziertem Abrechnungssystem über das Wahlrecht durch Leistungsanbieter mit differenziertem Abrechnungssystem bis zum Wahlrecht durch Versicherte mit einheitlichem Abrechnungssystem reichen, lautet zunächst relativ euphorisch: "Zusammenfassend ist festzustellen, dass ein einheitliches Abrechnungssystem aus Versichertensicht eine zentrale Barriere zur Inanspruchnahme des Kostenerstattungsprinzips beseitigen würde. Zudem würden die Anreize zur angebotsinduzierten Nachfrage in einem solchen Szenario weitgehend beseitigt." Trotzdem wären aber "die Effekte auf die Inanspruchnahme der Versicherten ... ungewiss." Und damit bleibt aus Sicht der AutorInnen und letztlich verblüffend "zu fragen, ob die in einem solchen Szenario erhöhte Kostentransparenz nicht auch mit geringeren administrativen Aufwändungen durch eine für den Patienten kostenfreie Patientenquittung erreicht werden könnte."

Die Erfahrungen mit dieser Patientenquittung und ihre wissenschaftliche Evaluation zeigen aber, dass freiwillig relativ wenige Versicherte diese Transparenzmöglichkeit nutzen und von ihnen nur ein Bruchteil etwas mit der Leistungs- und Kostentransparenz anfängt.

Dies zeigt aber, dass effektive Ansätze zur Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens von Versicherten und Patienten mit den Standardrezepten der Gesundheitsökonomie brechen müssen und nicht allein oder sogar nur völlig nachrangig auf quantitative und kostenzentrierte Methoden setzen müssen.

Das Forschungspapier 1/2011 "Kostenerstattung in der Gesetzlichen Krankenversicherung" von Stefan Greß, Ingo Heberlein, Stephanie Heinemann und Dea Niebuhr ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 4.9.11


Gleichstellungsbericht: Nachteile für individuelle Verwirklichungschancen und die künftige soziale Sicherheit von Frauen.

Artikel 1960 Ganz so schwer zu finden, wie die Süddeutsche Zeitung am 17.Juni 2011 unkte, ist der "Erste Gleichstellungsbericht" für die Bundesrepublik Deutschland im Internet zwar nicht, aber bequem ist er aus Sicht des Auftraggebers Bundesregierung mit Sicherheit nicht.
Neben den Sachbereichen Gleichstellungspolitik in der Lebensverlaufsperspektive (und nicht mehr Lebensphasenperspektive), Rollenbilder und Recht, Zeitverwendung, Alter und Bilanzierung des Lebensverlaufs sowie Bildung befasst sich der 332 Seiten umfassende Bericht auch mit Fragen der Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen.

Dort werden die folgenden nicht nur gleichstellungspolitischen sondern auch für die Finanzierung der Sozialversicherungsträger relevanten Trends angesprochen:

• "Zwar ist die Erwerbstätigenquote von Frauen in (West-)Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, kaum jedoch - wie in fast allen anderen europäischen Ländern - ihre Erwerbsbeteiligung gemessen in Vollzeitäquivalenten. Die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich überwiegend auf der Basis einer steigenden Zahl kleiner Arbeitsverhältnisse und einer Umverteilung des Erwerbsvolumens unter Frauen vollzogen. Durch diese Fragmentierung weiblicher Beschäftigungsverhältnisse ist ein Großteil der Frauen trotz eigener Erwerbstätigkeit von einer eigenständigen Existenzsicherung noch weit entfernt."
• "Der Unterschied in den Stundenlöhnen zwischen Männern und Frauen ist mit etwa 23 % so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Frauen haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie Männer, niedrig entlohnt zu werden. Der Anteil der gering bezahlten Frauen lag 2007 bei 29,3 % gegenüber 13,8 % bei Männern. Aufgrund der höheren Betroffenheit sind mehr als zwei Drittel aller Niedriglöhner in Deutschland Frauen. Frauen sind zudem besonders von Niedrigstlöhnen mit Stundenlöhnen unter 5 oder 6 Euro betroffen. Zusätzlich sind die Chancen für Frauen, aus dem Niedriglohnsektor in eine besser bezahlte Tätigkeit aufzusteigen, signifikant geringer als für Männer. Nur ein Teil dieser Geschlechterdifferenz bei den Löhnen" lässt sich durch Unterschiede bei den Ausstattungsmerkmalen, wie z.B. Qualifikationen, Erwerbserfahrung oder Branchenzugehörigkeit, erklären. Nach wie vor umfasst die Lohnlücke auch einen - schwer zu quantifizierenden - Anteil an Diskriminierung."
• "Der Grundsatz "gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit" ist bisher nicht flächendeckend umgesetzt. - Teilzeitarbeit als weibliche Domäne hat sich inzwischen stark ausdifferenziert und ist unterschiedlich zu bewerten. Sozialversicherungspflichtige Teilzeit wird von vielen Frauen (bisher selten von Männern) gewünscht und stellt sich für bestimmte Lebensphasen als geeignetes Vereinbarkeitsinstrument dar - insbesondere, wenn sie mit Rückkehroptionen auf eine Vollzeittätigkeit verbunden ist."
• "Als besondere erwerbsbiografische "Falle" für Frauen zeigt sich dagegen das politisch geförderte Segment der Minijobs. Kurzfristig mag die Aufnahme eines Minijobs wegen der Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse über den Ehepartner und des Erhalts des Einkommensvorteils infolge des Ehegattensplittings vorteilhaft sein. In der Lebensverlaufsperspektive erweisen sich Minijobs jedoch häufig als Sackgasse, da der Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung schwierig ist. Zudem ist eine eigenständige Existenzsicherung in der Erwerbs- und Nacherwerbsphase auf der Basis einer geringfügigen Beschäftigung, die zudem zu über 85 % nur mit einem Niedriglohn entgolten wird, unmöglich."
• "Viele der in den letzten Jahren entstandenen zusätzlichen Arbeitsplätze im Bereich sozialer und personenbezogener Dienstleistungen sind als Helferinnen-, Assistentinnen- und Zuverdienerinnen-Stellen konzipiert. Sie sind aufgrund herkömmlicher Arbeitsplatzbewertungen tendenziell mit schlechten Verdienstmöglichkeiten ausgestattet. Hinzu kommt, dass die Entlohnung gerade in Dienstleistungsbranchen mit hohen Frauenanteilen in den letzten 15 Jahren zunehmend von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt wurde."

Die bisher genannten Bedingungen sind nicht "nur" schlecht für die aktuellen individuellen Verwirklichungschancen der Frauen, sondern stellen auch eine "volkswirtschaftlich bedenkliche Vergeudung von Ressourcen dar, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels nicht tragfähig ist." Sie tragen außerdem in erheblichem Maße zur Erosion der Einnahmesituation der über einkommensabhängige Beiträge finanzierten Sozialversicherungsträger bei.

Die Gutachter sprechen sich daher u.a. dafür aus, die Sonderstellung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen abzuschaffen, die Fehlanreize für Unternehmen und Beschäftigte abzuschaffen, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in wenig zukunftsträchtige, aktuell aber steuer- und sozialabgabenfreie Minijobs aufzuteilen: "Ziel muss es daher sein, alle Erwerbsverhältnisse sozialversicherungspflichtig zu machen."

Das im Januar 2011 dem Ministerium überreichte Gutachten der Sachverständigenkommission Neue Wege - Gleiche Chancen Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Erster Gleichstellungsbericht von Ute Klammer, Marion Schick, Gerhard Bosch, Cornelia Helfferich, Tobias Helms, Uta Meier-Gräwe, Paul Nolte, Margarete Schuler-Harms und Martina Stangel-Meseke, samt einer Vielzahl von ExpertInnen zu einzelnen Themen ist auf der Website des "Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend" kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 18.6.11


Absenkung der Arbeitskosten durch Senkung der Sozialbeiträge für Geringverdiener schafft keine Arbeitsplätze, sondern Probleme!

Artikel 1952 Die Einkommensabhängigkeit der Beiträge zur Sozialversicherung und die Erhebung von Beiträgen bereits bei niedrigen Einkommen förderte seit dem ersten Auftreten von Massenlosigkeit und vor allem von Langzeitarbeitslosigkeit Überlegungen, die Beschäftigungschancen dieser Personengruppe durch die Absenkung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen im unteren Einkomnmensbereich zu verbessern. Dies war auch mit der Hoffnung verbunden, dass sich an diesen (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt eine bessere und besser bezahlte Weiterbeschäftigung anschließt. In diesem Fall käme es zu einer "win-win-win"-Situation für Sozialversicherungen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Den vorübergehend geringeren Sozialbeitragseinnahmen bei Renten- und Krankenversicherung stünden z.B. bald höhere Beitragssummen von höheren Einkommen gegenüber. Das höhere "netto vom brutto" bei den Arbeitnehmern wäre ein wichtiger Beleg dafür, dass sich auch diese einfache Einstiegstätigkeit lohnt. Und die Arbeitgeber hätten endlich die Entlastung von den angeblich zu hohen Lohnnebenkosten und könnten Arbeitsplätze schaffen.

Ob die temporäre Senkung der Sozialversicherungsbeiträge im unteren Einkommensbereich aber wirklich nur Gewinner kennt, war und ist umstritten. Ein im Auftrag der Friedrich-Ebertstiftung erstelltes Gutachten gibt auf einer breiten empirischen Basis und durch die rechnerische Simulation der Verteilungseffekte etc. verschiedener Modelle ein paar klare Antworten.

Zu den wichtigsten Hinweisen, Daten und Schlussfolgerungen des Gutachtens zählen:

• Der Hinweis, dass in dem auch für die Sozialbeitragssenkung relevanten Niedriglohnsektor mittlerweile eine immer noch leicht wachsende Anzahl von Beschäftigten tätig ist - rund 20%. Es geht also eigentlich gar nicht mehr um atypische Beschäftigung, sondern um einen quantitativ gewichtigen Bereich von Normalbeschäftigung.
• Die Feststellung, dass bei den Senkungskonzepten offen bleibt, wie der Verlust an Einnahmen kompensiert wird. Wenn es nicht zu Leistungskürzungen kommen soll, muss der Staat durch Zuschüsse aus dem Steuerhaushalt die Lücken füllen. Woher oder von wem der Staat aber die zusätzlichen Steuereinnahmen bekommt, bleibt offen. Kommt es aber zu Leistungskürzungen gehören dieselben Personen, deren Sozialbeiträge abgesenkt oder sogar gestrichen werden, zu den Hauptverlierern.
• Selbst wenn dies alles doch noch sozial abgefedert werden kann, kommen die Gutachter aber zu dem zentralen Ergebnis, dass die weitere Absenkung der Arbeitskosten, sei es durch die Senkung der Sozialabgaben oder zum wesentlich kleineren Teil durch Senkung der steuerlichen Belastungen, nicht zu dem erhofften Mehr an auch noch besser bezahlten Beschäftigung führt.
• Mittel- und langfristig kommt es nicht nur zu keiner "win-win-win"-Situation, sondern sogar zu "lose-lose"-Effekten. Die beiden Autoren fassen dies so zusammen: "Zudem steht zu erwarten, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse vor allem auf Seiten der Unternehmen an Attraktivität gewinnen werden, weil die Abgabenquote mit 10 Prozent deutlich niedriger als beim derzeitigen Status quo ausfällt. Insofern spricht viel für die Annahme, dass es bei einer tatsächlichen Umsetzung dieses Progressivmodells zu einer erheblichen Zunahme des Angebotes an geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen kommen wird. Wenn in diesem Zuge vormals sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (Beschäftigungsverhältnisse über 400 Euro) verlorengehen, ist zu befürchten, dass sich die kalkulierbaren Einnahmeminderungen sogar noch verschärfen und das Modell zur Kostenfalle zu werden droht." (64)
• Auch hier stellt sich die Frage warum stattdessen nicht über die lange Reihe von Methoden diskutiert wird, die bereits seit Jahrzehnten als zusätzliche Finanzierungsquellen und Grundlagen für eine mögliche Senkung der prozentualen Beiträge bekannt sind: eine Erhöhung der Bruttolöhne, die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen, Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze.

Das 72 Seiten umfassende, sehr materialreiche Gutachten Progressive Sozialversicherungsbeiträge. Entlastung der Beschäftigten oder Verfestigung des Niedriglohnsektors? von Gerhard Bäcker und Andreas Jansen von der Universität Duisburg-Essen ist im Mai 2011 erschienen und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 1.6.11


Mehr Frauen erwerbstätig aber mit sinkender Arbeitszeit - deutscher "Sonderweg": Ein notwendiger Nachtrag.

Artikel 1935 Wenn es darum geht, dass 9 Millionen der überhaupt erwerbstätigen Frauen aktuell in Teilzeit arbeitet (vgl. dazu z.B. diesen Bericht im "Forum-Gesundheitspolitik"), und um die problematischen Folgen für die finanzielle Situation dieser Frauen und die geringeren Beiträge zu Kranken- und anderen Sozialversicherungen, wird oft behauptet, die Frauen wollten ja gar nicht länger arbeiten.

Dass es sich dabei um einen der vielen Mythen im deutschen Sozialsystem handelt, zeigen nun die Ergebnisse einer vom "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit durchgeführten Analyse der bevölkerungsrepräsentativen Befragungsdaten des Sozioökonomischen Panels (SOEP).

Dabei ergab sich folgendes Bild:

• "Der Anteil der Frauen an den Beschäftigten hat seit 1991 um 5,7 Prozentpunkte zugenommen. Damit war 2010 die Hälfte aller Beschäftigten weiblich. Im gleichen Zeitraum stieg ihr Anteil am Arbeitsvolumen um 4,5 Prozentpunkte und lag 2010 bei nur 43 Prozent." (IAB)
• Die Hälfte der teilzeitbeschäftigten Frauen gab bei den Befragungen an, dass sie ihre vereinbarte Arbeitszeit gerne ausweiten würde.
• Insbesondere die geringfügig beschäftigten Frauen sowie die Frauen, welche regelmäßig Überstunden leisten, haben Verlängerungswünsche.
• Frauen, die gerne länger arbeiten wollen, haben oft eine niedrige berufliche Qualifikation und ein unterdurchschnittliches Einkommen.
• Frauen in Ostdeutschland und junge Frauen im Alter von 25 bis 34 Jahren wünschten sich häufiger eine längere Wochenarbeitszeit.
• Im Schnitt würden regulär teilzeitbeschäftigte Frauen ihre vereinbarte Wochenarbeitszeit gerne um vier Stunden erhöhen. Geringfügig beschäftigte Frauen würden gerne neun Stunden länger arbeiten
• Wenn alle Verlängerungswünsche berücksichtigt werden könnten, würde sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Frauen um 2,6 Stunden auf rund 32 Stunden erhöhen. Hochgerechnet entspräche dies einem Arbeitsvolumen von 40,5 Millionen Stunden wöchentlich, umgerechnet in Vollzeitäquivalente wären dies circa eine Millionen Vollzeitarbeitsplätze.
• Die Autorin des Studienberichts weist schließlich darauf hin, dass die Zahl der Arbeitnehmerinnen seit 1991 zwar um 16 Prozent zugenommen hat, das Arbeitsvolumen von Frauen in derselben Zeit jedoch nur um vier Prozent gestiegen ist. Damit werde heute ein etwas höheres Arbeitsvolumen von deutlich mehr weiblichen Beschäftigten erbracht als früher.

Der acht Seiten umfassende IAB-Kurzbericht 9/2011 Ungenutzte Potenziale in der Teilzeit Viele Frauen würden gerne länger arbeiten von Susanne Wanger ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 2.5.11


"Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse" oder Minijobs = kurz- wie langfristige Mini-Krankenkassenbeiträge

Artikel 1931 Im Januar 2011 gab es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit) 7.287.000 so genannte geringfügig entlohnte Beschäftigte von denen rund 5 Millionen ausschließlich mit höchstens 400 Euro pro Monat entlohnt wurden. Rund 2,3 Millionen Personen übten die geringfügig entlohnte Tätigkeit als Nebenjob aus. Der Ausgangswert für sämtliche geringfügig entlohnten Arbeitskräfte lag Mitte 2003 bei knapp 4,8 Millionen.

Damit wird klar, dass die auch als "Minijobs" bezeichneten "geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse" nach § 8 SGB IV zu einer quantitativ beträchtlichen und noch zunehmenden Größe des deutschen Arbeitsmarktes aber auch der Einnahmesituation der Sozialversicherungsträger geworden sind.

Letzteres liegt daran, dass die Arbeitnehmer mit einem Minijob keinerlei Sozialabgaben bezahlen und die Arbeitgeber nur einen sehr niedrigen Pauschalbetrag entrichten müssen. Diese Pauschale beträgt 30,1% mit folgender Aufteilung: 15% für Rentenversicherung 13% (53 Euro) für die Krankenversicherung, 2% Steuern und 0,1% für eine Umlage. Auch wenn ein kostendeckender oder risikoäquivalenter Beitrag nicht den tragenden Prinzipien der Gesetzlichen Krankenversicherung entspricht, differieren die Minibeiträge trotzdem besonders extrem von den Gesundheitsausgaben je Mitglied.

Die offenkundige Persistenz von Millionen "Minijob"-Arbeitsverhältnissen stellt nicht nur ein aktuelles Finanzierungsproblem der Krankenversicherung, sondern auch eine erhebliche Belastung der zukünftigen Einnahmesituation der GKV dar. Weil der Pauschalbetrag für die Gesetzliche Rentenversicherung, wenn auch er nicht die Ausnahme sondern die Regel für viele Jahre darstellt, auch zu entsprechend niedrigen Renten führen wird, können die darauf erhobenen Krankenkassenbeiträge der künftigen RentnerInnen mit "Minijob"-Biographie auch nur sehr niedrig sein.

In einer im Auftrag der Gewerkschaft ver.di durchgeführten Studie belegt der Wirtschaftswissenschaftler Albrecht Goeschel nicht nur die hier dargestellten Wirkungen von Minijobs, sondern auch noch die erhebliche Ungleichverteilung der Geringfügig-Arbeitsplätze in den Regionen oder Bundesländern: Mit 215,4 Minijobs pro 1.000 Einwohner im erwerbsfähigen Alter ist die Stadt Heilbronn in Baden-Württemberg Spitzenreiter während der Landkreis Nordwestmecklenburg mit 42,2 Minijobs pro 1.000 Einwohner im erwerbsfähigen Alter das Schlusslicht ist. Zu beachten ist ferner, dass der Großteil der Minijobs in den westlichen Bundesländern existiert und dass die damit dort verbundenen Einnahmeverluste zum Teil aus den Beiträgen in anderen Bundesländern kompensiert werden - eine Art Solidaritätsbeitrag der ostdeutschen für die westdeutschen Versicherten.

Eine knappe Zusammenfassung der raumbezogenen Analysen A. Goeschels ist unter dem Titel " Minijobs im Westen gefährden die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland" kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 15.4.11


Frauen zurück an den Herd? Zur Empirie der Einnahmenschwäche der GKV.

Artikel 1928 Immer wenn keine der sonstigen "Gesundheitspolitik-Säue" durch das Mediendorf getrieben wird, wie etwa die "Lohnnebenkosten" oder die "demographische Bedrohung", müssen schon mal die meist weiblichen Ehepartner von GKV-Mitgliedern als Grund für Finanz- und andere Probleme der GKV herhalten. Sind sie nicht erwerbstätig, geht es um die im Wesentlichen familienpolitisch induzierte beitragsfreie Mitversicherung in der GKV bei vollem Leistungsumfang. Und sind sie erwerbstätig, sind es die meist geringen Beiträge wiederum bei vollem Leistungsumfang. Dass dafür die trotz jahrelanger Kritik stabile und auch schon mehrmals im forum-gesundheitspolitik dargestellte "gender pay gap" verantwortlich ist, d.h. die rund 25 % betragende Einkommenslücke zwischen erwerbstätigen Männern und Frauen mit vergleichbaren Arbeitsqualitäten, fällt bei dieser Art von "Treibjagden" meist unter den Tisch. Noch weniger Aufmerksamkeit findet aber, ob für die trotz Erwerbstätigkeit geringen Beiträge nicht auch der geringe Umfang der regelmäßigen Arbeitszeiten von Müttern verantwortlich ist.

Die jetzt veröffentlichten Ergebnisse einer Untersuchung aus dem "Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ)" der Universität Duisburg-Essen zu den beruflichen Arbeitszeiten verheirateter Mütter in den Jahren 2000 und 2007 fasst die Autorin so zusammen: Mütter arbeiten heute zwar etwas häufiger, aber deutlich weniger Stunden pro Woche als noch im Jahr 2000. Vor allem der Anteil der vollzeitbeschäftigten Mütter ist zurückgegangen.

Auf der Basis von amtlichen Mikrozensusdaten stellt die IAQ-Arbeitsmarktforscherin Christine Franz zunächst fest, dass westdeutsche Frauen durchschnittlich je nach Alter ihrer (minderjährigen) Kinder ein Wochenpensum zwischen 6,3 und 19,1 Arbeitsstunden haben. Selbst die Mütter der 15- bis 17-Jährigen stehen damit dem Arbeitsmarkt nur mit halber Kraft zur Verfügung und verdienen entsprechend wenig.
In Ostdeutschland arbeiten zwar schon die Mütter von 3- bis 5-Jährigen durchschnittlich 20 Wochenstunden, aber auch hier steigt der Wert nur auf 25 Stunden bei Frauen mit fast volljährigen Kindern. "Der Vergleich von 2000 zu 2007 zeigt, dass die Arbeitsvolumina in fast allen Altersgruppen gesunken sind", so die Wissenschaftlerin.

Erwartungsgemäß hoch ist unabhängig vom Alter ihrer Kinder dagegen die Erwerbsbeteiligung der west- wie ostdeutschen Männer. So arbeiteten 2007 nur ca. 3 bis 4 % der westdeutschen Väter Teilzeit.

Ob es sich bei der niedrigen Erwerbsbeteiligung von Müttern und ihrer dann sogar noch schrumpfenden Arbeitszeit um das Resultat freiwilliger Entscheidungen der Frauen oder um Wirkungen entsprechender Arbeitsmarkt- und Geschlechterpolitik oder gesellschaftlicher Einstellungen handelt, kann mit den Daten des Mikrozensus nicht beantwortet werden.

• Der anhaltende Mangel an dann auch noch bezahlbaren Krippen-, Kindergarten-, Betriebskindergarten- und Ganztagsschulplätzen,
• die zögerliche Verbreitung betrieblicher Programme zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
• die im Vergleich zu Ländern wie Schweden weiterhin viel zu gering entwickelte und spürbare Kultur der Frauengleichberechtigung
• und speziell noch die Arbeitsmarktbedingungen in Ostdeutschland
deuten allerdings darauf hin, dass politische Rahmenbedingungen einen erheblichen Teil des hier identifizierten Arbeitszeit- und damit Beitragstrends beeinflussen. Dass diese Bedingungen auch wesentlich für die ebenfalls meist nur den individuellen Entscheidungen der Frauen und ihren Partnern zugewiesene geringe Kinderhäufigkeit verantwortlich sind, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Die bisher nur vorliegende Pressemitteilung zu der Studie mit einer Reihe Grafiken von Christine Franz ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 10.4.11


Neues aus der unendlichen und nicht ganz einfachen Geschichte der Ärzteeinkommen zwischen Verelendung und Überfluss

Artikel 1914 Egal ob das Statistische Bundesamt, der Spitzenverband der GKV, irgendein wissenschaftliches Institut oder sogar mittelbar Vertreter der Ärzteverbände selber Zahlen zum Einkommen von niedergelassenen Ärzten vor oder nach Abzug der Praxiskosten, Versicherungsbeiträge oder gar Steuern sowie mit oder ohne Privatpatienten- und IGeL-Einnahmen veröffentlichen: der Betrag ist stets zu niedrig oder zu hoch, zu durchschnittlich und wird umgehend zur Begründung von Honorarkürzungen oder Honorarzuschlägen eingesetzt.

Den jüngsten Anlass für eine solche Inszenierung liefert ein bereits im August 2010 veröffentlichtes Gutachten des Berliner IGES-Instituts mit dem zunächst eher kommunikations- und skandalisierungshemmenden Titel "Plausibilität der Kalkulation des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM)", das im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes erstellt wurde.

Um das Besondere der aktuellen Debatte und das Absurde mancher Winkelzüge verstehen zu können, muss man sich kurz die Existenz und Bedeutung des so genannten Bewertungsausschusses und des Erweiterten Bewertungsausschusses für die Honorierungsbedingungen der niedergelassenen Ärzte im deutschen Gesundheitssystem vor Augen führen.
Beide Ausschüsse beschließen nach dem Gesetz und im Rahmen der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen den EBM und außerdem einen regelmäßig anzupassenden Orientierungspunktwert und ein u.a. daraus resultierendes Eckeinkommen, den so genannten kalkulatorischen Arztlohn für Vertragsärzte. Dieser soll vor Steuern und weiteren Abgaben und Beiträgen in etwa dem Bruttoeinkommen eines stationär tätigen Oberarztes entsprechen und betrug 2008 exakt 105.571,80 Euro. Wichtig ist also: Dieser Betrag wurde nicht durch das Bundesgesundheitsministerium oder die Kassen festgelegt, sondern gemeinsam von den drei Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des GKV-Spitzenverbandes sowie einem alternierend von den Ärzten und Krankenkassen gestellten Vorsitzenden im Bewertungsausschuss ausgehandelt. Genau genommen war es wegen einiger Differenzen in diesem Aushandlungsprozess der erweiterte Bewertungsausschuss, dem zusätzlich zu den bereits genannten Mitgliedern des Bewertungsausschusses ein unparteiischer Vorsitzender und zwei weitere unparteiische Mitglieder angehören, von denen aber KBV und GKV jeweils ein Mitglied benennen. Den ausgehandelten Lohn soll jeder Arzt "bei alleiniger Behandlung von GKV-Versicherten mit GKV-Leistungen, bei effizienter Leistungserstellung, bei voller Auslastung und einer Arbeitszeit von 51 Wochenstunden, unabhängig von seiner Fachgruppe" erzielen können.

Für die beabsichtigte Überprüfung der Plausibilität der gesamten Tätigkeit der Bewertungsausschüsse und damit natürlich auch der Realitätsnähe und Akzeptierbarkeit der Honorarvorgaben, stützte sich das IGES auf die Kostenstrukturanalysen des Statistischen Bundesamt, die alle vier Jahre und zuletzt 2007 auf der Basis von Angaben aus bundesweit 7.843 Praxen stammen. Zur Repräsentativität dieser Daten und Analysen stellt das Statistische Bundesamt (Fachserie 2 Reihe 1.6.1 Kostenstruktur bei Arzt- und Zahnarztpraxen, Praxen von psychologischen Psychotherapeuten sowie Tierarztpraxen fest: "Das entspricht einem Auswahlsatz von 5 %. Von den 7 843 befragten Praxen erhielt das Statistische Bundesamt 6 237 Fragebogen mit verwertbaren Angaben zurück, was einem Anteil von 79,5 % entspricht. In die Ergebniserstellung einbezogen wurden Praxen mit einem Mindestumsatz von 12 500 EUR."

Die Ergebnisse des Gutachtens lauten dann so:

• Der durchschnittliche Reinertrag je Praxisinhaber, also nach Abzug der Praxiskosten, war zwischen 2003 und 2007 um 12,7 % auf 142.000 Euro gestiegen und lag damit deutlich über dem kalkulatorischen Arztlohn. Natürlich variiert dieser Betrag z.B. nach Praxisgröße und weiteren Merkmalen zwischen 110.000 und 267.000 Euro. Dieserr Betrag fasst Erträge aus vertrags- und privatärztlicher sowie sonstiger Tätigkeit zusammen.
• Versucht man mit plausiblen und transparenten Annahmen den vertragsärztlichen Anteil an den Gesamt-Reinerträgen zu berechnen, kam man für 2007 auf 104.620 Euro, einem Betrag, der 952 Euro unter dem kalkulatorischen Arztlohn lag.
• Schließt man bestimmte atypische Praxen, in denen wahrscheinlich nicht im vollen Umfang gearbeitet wird, aus der Berechnung aus, landen alle drei Szenarien mehr oder weniger deutlich über dem vereinbarten Arztlohn.
• Das Resumé der IGES-Experten lautet daher auch: "Bezogen auf die Grundlagen der EBM-Kalkulation zeigt sich somit, dass das Ziel bei vollzeitiger rein vertragsärztlicher Tätigkeit einen Reinertrag je Praxisinhaber von ca. 105 Tsd. € zu erwirtschaften, zumindest erreicht, basierend auf einer Hochrechnung anhand der Daten des Statistischen Bun-desamtes sogar regelmäßig überschritten wird."
• Dass man damit noch lange nicht bei einer realistischen Einkommensgröße angelangt ist, zeigt der Hinweis auf die "letztlich normativ festgelegten" Schätzungen der im EBM-Kalkulationsmodell verwendeten Zeitangaben für den ärztlichen Leistungsanteil bei der Erbringung von Leistungen. Je kürzer die Leistungserstellung dauert, desto höher kann der tatsächliche Arztlohn sein. Legt man der Berechnung andere Zeitangaben als die "selbstverwalteten" zugrunde, erhöht sich der tatsächliche Lohn beispielsweise auf 128.616 Euro oder leicht auch auf 134.934 Euro.
• Letztendlich geht es den Gutachtern daher auch nicht darum, ob die niedergelassenen Ärzte aktuell mehr oder weniger als Oberärzte verdienen, sondern darum, dass man für die weitere Debatte vor allem erst einmal neuere Kostendaten, realitätsnahe empirische Angaben zur Arbeitszeit und Produktivität von Ärzten und zur Dynamik moderner Arztpraxen benötigt.

Da die von den Berichts-Praxen selbst gemeldeten Daten zumindest nicht den unmittelbar bevorstehenden Ruin der Arztpraxen anzeigen, sollten alle an der Aushandlung Beteiligten auf Schnellschüsse in beide Richtungen mit den hier zusammen getragenen Daten verzichten, aktiv für lückenlose Transparenz sorgen und den Hinweisen des Gutachtens folgen.

Die 83 Seiten umfassende Expertise "Plausibilität der Kalkulation des Einheit-lichen Bewertungsmaßstabs (EBM)" ist kostenlos erhältlich und stellt eine sachliche, materialreiche und verständliche Übersicht zum Problem dar.

Bernard Braun, 2.3.11


Trotz Aufschwung: Auch 2010 stagniert die Bruttolohnquote als eine Basis der GKV-Einnahmen auf dem erreichten niedrigen Niveau

Artikel 1882 Wie die Entwicklung der Lohneinkommen als einer Grundlage für die einkommensbezogene Finanzierung der GKV und anderer Sozialversicherungsträger aussieht, illustriert der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Neben vielen anderen verteilungspolitisch relevanten Erkenntnissen, belegt der Bericht mit amtlichen Daten folgende Verhältnisse:

• Die Bruttolohnquote, d.h. der Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zur Sozialversicherung am Volkseinkommen fiel zwischen 1991 und 2008 von 71 % auf 65,4 %. 2009 stieg sie unter dem Einfluss der krisendämpfenden arbeitspolitischen Aktivitäten (z.B. Intensivierung der Kurzarbeit und Auflösung von Arbeitszeitkonten) entgegen dem sonstigen wirtschaftlichen Trend auf 68,4 %. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Rückkehr der alten Verteilungsnormalität in Deutschland, fiel die Bruttolohnquote aber bereits im ersten Halbjahr wieder auf 65,5 % zurück.
• Strukturbereinigt, d.h. ohne den Effekt der veränderten Erwerbstätigenstruktur in den Untersuchungsjahren bewegte sich die Bruttolohnqoute im selben Zeitraum von 71 % auf 64,7 %. Die Basis für prozentuale Beiträge wird also auch nach der Krise nicht größer werden, sondern wahrscheinlich noch etwas kleiner.
• Ein interessanter Beleg für das Thema "Aufschwung-Gewinner": Die Bruttogewinnquote stieg von 1991 bis zum 1. Halbjahr 2010 von 29 % auf 34,5 %..
• Die Nettolohnquote, also das was vom Bruttoeinkommen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen übrigbleibt, sank vor und nach der Krise noch deutlicher: Der Betrag fiel von 1991 mit 48,1 % (oder nach einer anderen Berechnungsmethode 40,3 %) auf 40,9 % (34,3 %) im Jahr 2008, stieg aus den genannten Gründen 2009 auf 41,1 % (35,7 %) und fiel dann im 1. Halbjahr 2010 sogar auf 39,4 % (34 %).
• Auch ohne dass z.B. die neuen Zusatzbeiträge in der GKV, die Praxisgebühr, die konstant bleibenden Zuzahlungen zu rund 75 % der GKV-Leistungen oder die Eigenleistungen für Gesundheitsausgaben, die nicht mehr von der GKV bezahlt werden dabei eingerechnet sind, stieg die Belastung der Bruttoeinkommen durch Sozialbeiträge von 14,3 % (1991) auf 18,2 % (1. Halbjahr 2010).
• Die Belastung von Gewinn- und Vermögenseinkommen durch Pflicht- und freiwillige Beiträge stieg im selben Zeitraum von 3,1 % über den zwischenzeitlichen Spitzenbetrag von 3,7 % (1997) auf 3,4 %.

Der faktenreiche Aufsatz "Zukunftsgefährdung statt Krisenlehren - WSI-Verteilungsbericht 2010" von Claus Schäfer ist in den WSI-Mitteilungen 12-2010 erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 5.12.10


8% Lohnkluft zwischen Männern und Frauen von insgesamt 23 % ist Ungleichbehandlung Gleicher oder Diskriminierung

Artikel 1863 Jetzt wollte auch das Statistische Bundesamt bzw. das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend genau wissen was Andere schon vor längerem geklärt hatten: Warum verdienen Frauen in Deutschland so häufig weniger als Männer? Liegt dies an strukturellen Gründen wie der unterschiedlichen Qualifikation oder Bereitschaft und Möglichkeit, sich mit betrieblichen Bedingungen zu arrangieren oder werden gleich gut qualifizierte Frauen "einfach" massiv benachteiligt? Es nutzte dazu die Daten der Verdienststrukturerhebung des Jahres 2006.

Im Untersuchungsjahr 2006 betrug der so genannte "Gender Pay Gap" 23 % zu Ungunsten der erwerbstätigen Frauen. Während Frauen im Jahr 2006 einen Bruttostundenlohn von 13,91 Euro erzielten, belief sich der Durchschnittsverdienst der Männer auf 17,99 Euro.

Rund zwei Drittel dieses Unterschieds sind auf strukturell verschiedene arbeitsplatzrelevante Merkmale zurückzuführen, wie die sich deutlich von den Männern unterscheidende Berufs- und Branchenwahl (erklären 4 Prozentpunkte der Lohnkluft), die Führungsbereitschaft und Qualifikation (erklären 5 Prozentpunkte), die höhere Bereitschaft bzw. der wegen familiären Bedingungen vorhandene Zwang Teilzeit zu arbeiten und die Beschäftigung in geringfügigen Tätigkeiten (erklärt 2 Prozentpunkte).

8% der Lohnkluft treten aber auch dann auf, wenn Männer und Frauen die gleiche Tätigkeit ausübten, über einen äquivalenten Ausbildungshintergrund verfügten, in einem vergleichbar großen privaten bzw. öffentlichen Unternehmen tätig wären, das auch regional ähnlich zu verortet ist (Ost/West; Ballungsraum/kein Ballungsraum), einer vergleichbaren Leistungsgruppe angehörten, einem ähnlich ausgestalteten Arbeitsvertrag (befristet/unbefristet; mit/ohne Tarifbindung, Altersteilzeit ja/nein, Zulagen ja/nein) unterlägen, das gleiche Dienstalter und die gleiche potenzielle Berufserfahrung aufwiesen sowie einer Beschäftigung vergleichbaren Umfangs (Vollzeit/Teilzeit) nachgingen.

Auch wenn die Vorzeichen der gegenwärtigen Gesundheitspolitik auf einkommensunabhängiger Finanzierung stehen, spielt der hier genauer quantifizierte und qualifizierte Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen im Bereich der einkommensabhängigen Beitragsfinanzierung z.B. der GKV eine gewichtige Rolle. Auch dieser Teil der Einnahmenschwäche der GKV ist also sozial oder politisch vermeidbar.

Das ungleiche Bild zeigt u.a. noch die folgenden Facetten:

• "Bei zusätzlicher Berücksichtigung des Alters ergaben die Auswertungen, dass sich der Unterschied im Bruttostundenverdienst von Frauen und Männern mit dem Übergang von einer Altersklasse zur nächsten sukzessiv erhöht. Insbesondere in den Altersklassen, in denen die Familienplanung einsetzt, ließ sich ein deutlicher Anstieg des Gender Pay Gap feststellen. Dies könnte damit zusammenhängen, dass gerade diese Phase bei Frauen häufig durch schwangerschafts- und erziehungsbedingte Erwerbsunterbrechungen sowie eine anschließende Reduzierung der Arbeitszeit bestimmt wird."
• Insbesondere bei Wirtschaftsprüfern bzw. Steuerberatern (44 %) und Geschäftsfüh- rern (37 %), aber auch bei Verkäufern (31 %), Bankkaufleuten (30 %) sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern (28 %) fällt der Gender Pay Gap überdurchschnittlich hoch aus. Die Tatsache, dass es die Lücke auch bei Frauen in Leitungspositionen gibt (größer als 25%), also in Tätigkeiten mit einer gewissen Machtfülle, unterstreicht die Beobachtung, dass Frauen prinzipiell nicht offensiv genug auf einem mit Männern vergleichbaren Einkommen bestehen. Bei Kassierern (sieben Prozent), Krankenschwestern bzw. -pflegern, Kellnern (jeweils sechs Prozent) und Köchen (drei Prozent) ließen sich hingegen nur geringe Unterschiede im Bruttostundenverdienst beobachten.
• Eine mit knapp 16 % eher unterdurchschnittliche Lohnspreizung zwischen Männern und Frauen ließ sich für Beschäftigte mit Tarifbindung konstatieren. Bei den Arbeitnehmern, die keiner derartigen Bindung unterliegen, fällt der Gender Pay Gap mit rund 30 % annähernd doppelt so hoch aus. Neben vergleichsweise geringen Unterschieden in der Leistungsgruppenstruktur, stellt auch die Existenz von Arbeitnehmervertretungen einen möglichen Erklärungsansatz für den eher geringen Verdienstabstand der Beschäftigten mit Tarifbindung dar.

Die Vermutung, dass die möglicherweise durch Diskriminierung erklärbare Lohnkluft von 8 % noch kleiner würde, wenn weitere Determinanten der Verdiensthöhe mitberücksichtigt würden, wird hoffentlich in weiteren Studien untersucht werden.

Der im Oktober 2010 erschienene, 91 Seiten umfassende Projektbericht "Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen 2006" des Statistischen Bundesamtes ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 25.10.10


FDP?! Mehr Staatsfinanzierung und Sozialbürokratie durch einkommensunabhängige Zusatzbeiträge mit Sozialausgleich

Artikel 1858 FDP-Politiker sind derzeit für eine Menge Überraschungen gut: Wirtschaftsminister Brüderle fordert unisono mit der Bundeskanzlerin Merkel höhere Löhne, die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Gruß, fordert die Streichung des Elterngelds für Personen, die alleinstehend mehr als 250.000 € und als Ehepaar mehr als 500.000 € Jahreseinkommen beziehen und Gesundheitsminister Rösler leitet den Einstieg in die Verstaatlichung der GKV-Finanzierung ein.

Letzteres ist das Fazit der gerade veröffentlichten Studie "Anmerkungen zum geplanten Sozial-ausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung" des "Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie der Universität zu Köln (IGKE)". Die Autoren Lüngen und Büscher beschäftigen sich hier mit den erwünschten, bekannten und weniger bekannten und evtl. unerwünschten Effekten der mit dem jüngsten GKV-Finanzierungsgesetz erfolgten grundsätzlichen Umstellung auf einkommensunabhängige Zusatzbeiträge mit einem Sozialausgleich aus Steuermitteln als einzig verbleibender Stellschraube, künftige Ausgabenzuwächse in der GKV finanzieren zu können.

Wer angesichts der bisherigen Zusatzbeitragswirklichkeit annahm, es ginge auch künftig um kleine Beträge, der irrt sich nach den Berechnungen des IGKE gewaltig.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie lauten nämlich so:

• Auch wenn Zusatzbeiträge in nächster Zukunft aus Gründen der Wettbewerbs-Optik nur zögerlich erhoben werden sollten, wird es wegen der mit ihnen noch einzig verbliebenen Möglichkeit, zusätzlich notwendige Einnahmen zu erzielen bald verbreitet zu Zusatzbeiträgen kommen müssen: "Daher gilt ein Szenario, in dem sich Krankenkassen (und mit ihnen die Mitglieder) im Gleichschritt an beständig steigende höhere Zusatzbeiträge gewöhnen müssen. Ein Wechsel der Krankenkasse wird kaum noch finanziell vorteilhaft sein, sofern sämtliche Krankenkassen Zusatzbeiträge einheben müssen. Somit könnte gelten, dass sobald Zusatzbeiträge notwendig geworden sind, diese umso schneller ansteigen."
• "Beträgt der durchschnittliche Zusatzbeitrag 20 €, so werden 14,8 Mio. Haushalte von dem Verfahren des Sozialausgleichs betroffen sein. Dies sind insbesondere auch Rentnerhaushalte (31% aller Ausgleichsfälle). Jedoch werden in diesen Haushalten auch 3,1 Mio. Kinder unter 16 Jahren leben. Insgesamt werden rund 35% aller Mitglieder der GKV in einem Haushalt leben, der vom Sozialausgleich betroffen ist.
• Steigt der durchschnittliche Zusatzbeitrag auf 50 €, erhöhen sich die Anteile stark. Dann werden bereits 72% aller Mitglieder der GKV in Haushalten leben, die vom Sozialausgleich betroffen sind, bzw. 27,8 Mio. Haushalte in Deutschland.
• Dies bedeutet nach Ansicht der IGKE-Forscher aber Folgendes: "Die überraschende Folge dieser Überwälzung von Kostensteigerungen allein auf die Mitglieder der GKV ist, dass innerhalb eines überschaubaren Zeitraums alle Ausgabensteigerungen der Krankenkassen voll aus Steuermitteln zu bestreiten sind. Bei mäßigen 2% Ausgabenstei-gerungen gegenüber den Einnahmen wird innerhalb von 15 Jahren bereits jedes Mitglied auf Sozialausgleich haben, da die Belastung an der Beitragsbemessungsgrenze angekommen sein wird."
• Und damit führt die Zusatzbeitragsfinanzierung mit der politisch gewollten alleinigen Belastung der GKV-Mitglieder mit sämtlichen künftigen Ausgabensteigerungen über steigende Zusatzbeiträge "nur noch zu höheren Ansprüchen aus Steuermitteln führen. Der Staat finanziert dann die Dynamik der GKV voll, umgekehrt wissen die Krankenkassen dann, dass eine Anhebung der Zusatzbeiträge nicht mehr zu Abwanderung der Mitglieder führen wird, da der Staat bei allen Mitgliedern einspringt. Werden höhere Steigerungsraten der Ausgaben unterstellt, tritt dieser Effekt bereits früher ein, bei 4% Steigerung beispielsweise bereits in etwa 10 Jahren."
• Die restlichen Eckpfeiler der aktuellen Gesundheitspolitik verschärfen diese Trends auch noch. Dies gilt vor allem für die Absicht, die Abwanderung von GKV-Mitgliedern in die PKV aktiv zu fördern, die erklärte Abstinenz die Beitragsbemessungsgrenze und die Jahresarbeitsentgeltgrenze massiv anzuheben und dem Verzicht auf massive Kostendämpfungen z.B. durch die Bewältigung des Problems der Über- und Fehlversorgung.
• Fazit: Entgegen vielen Ankündigungen und Versprechungen führt der einkommensunabhängige Sozialausgleich "insgesamt zu einer hohen Belastung von Beziehern geringer Einkommen weit über die im Gesetz vorgesehenen 2% hinaus, … führt zu stark steigenden Aufwendungen für Verwaltung, die mehrere Millionen Haushalte betreffen, und führt letztendlich zu einer staatlichen Übernahme der Dynamik der Gesundheitsausgaben."

Damit ist aber der Reigen ökonomisch und sozial unerwünschter Effekte keineswegs vollständig: Hinzu kommt etwa der unter den gegebenen Rahmenbedingungen naheliegende Anreiz, als Kasse möglichst viel zusatzbeitragspflichtige Mitglieder und möglichst wenige beitragsfreie Mitversicherte zu versichern. Und schließlich kostet die Sozialausgleichsbürokratie nicht nur viel Geld, sondern auch einen Teil des bisherigen sozialen Vertrauensklimas und fördert wahrscheinlich eher den befürchteten "Missbrauch" bei Angaben zu den Einkünften.

Weitere Einzelheiten und umfangreiche Zahlentabellen enthalten die 22 Seiten umfassenden und als Nummer 2/2010 der Instituts-Studien am 7.10.2010 erschienenen "Anmerkungen zum geplanten Sozialausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung", die kostenlos erhältlich sind.

P.S. Stellt man die gerade geschilderte Situation für die rund 90% in der GKV versicherten BürgerInnen dem Elterngeldopfer für die maximal 1 % der deutschen Bevölkerung gegenüber, welche die eingangs genannten Einkommensgrenzen überschreiten, muss man sich keine Sorgen mehr machen, dass sich die FDP bei sozialen Grundfragen untreu geworden ist.

Bernard Braun, 12.10.10


Innenleben der "Zwei-Klassen-Medizin: Arzneimittel und PKV=wirtschaftlich, innovativ, wirksam, qualitativ hochwertig? Eher nicht!

Artikel 1788 Auch wenn manche PatientInnen über "Zweiklassen-Medizin" klagen, die wochenlang auf einen Facharzttermin warten oder stundenlang im Wartezimmer privatversicherte Mitleidende an sich vorbeiziehen sehen, zeigte bereits eine vor kurzem erschienene Studie, dass es sowohl bei der Wirtschaftlichkeit als auch bei der Versorgungsqualität in der PKV Schattenseiten gibt.

Dieser Eindruck wird durch eine im Februar 2010 erschienene Analyse über die Arzneimittelversorgung der PKV-Versicherten aus dem "Wissenschaftlichen Institut des PKV-Verbandes (WIP)" mehrfach illustriert.

Ihre wesentlichen, empirisch gut belegten Ergebnisse lauten nämlich folgendermaßen:

• Obwohl die Arzneimittelausgaben schon in der GKV trotz einer schier endlosen Liste von Regulierungsansätzen und -versuchen zu den Dauer-Problembereichen gehören, sieht es in der PKV schlechter aus: "Die Arzneimittelausgaben in der PKV weisen jährlich nicht nur höhere Steigerungsraten als in der GKV auf, sondern steigen regelmäßig auch stärker im Vergleich zu anderen Leistungsbereichen" der PKV.
• Auch wenn GKV-Versicherte und Arzneimittelhersteller einstimmig der Meinung sind oder die Wahrnehmung haben, PKV-Versicherte erhielten die "moderneren" und angeblich "besseren" bzw. wirksameren Mittel verordnet, zeigt der PKV-Bericht ein quantitativ und qualitativ anderes oder differenzierteres Bild des Verordnungsgeschehens. Die "gesamtmarktbezogene Innovationsquote ohne Berücksichtigung von OTC-Präparaten" betrug danach 2008 in der PKV 28,89% und in der GKV trotz einiger Berechnungsproblemen rund 24%. Neue Medikamente hatten 2008 in der PKV einen Anteil am Gesamtumsatz der Medikamente von 7%, in der GKV 6%. Bei allen Werten war der Unterschied noch 2007 größer. Er verringerte sich hauptsächlich durch Veränderungsprozesse in der PKV. Die Zusammenfassung der Vergleiche von PKV- und GKV-Zahlen lautet: "Die Berechnung einer gesamtmarktbezogenen und indikationsbezogenen Innovationsquote erbrachte, dass Privatversicherte anteilig etwas häufiger neue Medikamente erhalten als GKV-Versicherte."
• Ein Teil der Arzneimittel-Ausgabenprobleme in der PKV ergibt sich durch die sehr niedrige so genannte Generikaquote: "Für die 100 umsatzstärksten generikafähigen Wirkstoffe konnte bei der PKV für das Jahr 2008 eine Generikaquote (nach Verordnungen) von 51,4 % berechnet werden. Dies ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr (46,4 %). Die GKV weist eine erheblich größere Quote auf. Auf hohem Niveau konnte hier sogar noch ein weiterer Anstieg von 86,1 % auf 89,7 % erreicht werden. Bei generikafähigen Wirkstoffen erhalten Kassenpatienten damit nur noch in einem von zehn Fällen das Originalpräparat."
• Was in der PKV aber offensichtlich eine im Vergleich mit der GKV wesentlich größere oder überhaupt eine Rolle spielt, ist die Verordnung und Bezahlung von nichtverschreibungspflichtigen Medikamenten. "Bei mehr als einem Drittel aller eingereichten Arzneimittelverordnungen (36,6 %) handelt es sich um ein nicht-verschreibungspflichtiges Medikament."
• Dass dies nicht nur ein Finanzierungsproblem, sondern vor allem ein qualitatives Problem darstellt, zeigt der Blick auf die Liste der so verordneten Präparate. Das 2008 umsatzstärkste OTC-Präparat war Tebonin (bei der Anzahl der Verordnungen lag Aspirin vorne). Tebonin lag 2008 in der Liste der Umsatzanteile aller abgerechneter Arzneimittel in der PKV auf Platz 9 und in der GKV auf Platz 599.
• Dies wäre u.U. sogar hinzunehmen, wenn durch die Einnahme von Tebonin wirklich die Aktivität von Milliarden Gehirnzellen aktiviert würde, Tinnitusprobleme verschwinden und prädementielle Prozesse gestoppt oder erheblich verzögert würden (Wer es vergessen hat: So lauten eine Reihe der gut platzierten Werbebehauptungen). Die letzte Veröffentlichung der "Stiftung Warentest (4/2010) hegt genau dazu aber erhebliche Zweifel: "Wenig geeignet bei Demenzerkrankungen und Hirnleistungsstörungen. Die therapeutische Wirksamkeit ist nicht ausreichend nachgewiesen. Aufgrund einiger positiver Studienergebnisse scheint ein Behandlungsversuch allerdings gerechtfertigt, wenn besser beurteilte Mittel nicht eingesetzt werden können." Und: "Wenig geeignet bei peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen, weil die therapeutische Wirksamkeit nicht ausreichend nachgewiesen ist." Der Pharmakologe Kay Brune, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, bemerkte bereits vor längerem: "Dieser Wirkstoff, oder dieses Produkt - denn ein Wirkstoff ist nicht bekannt - ist in allen mir bekannten Studien wenig erfolgreich gewesen, in den drei wesentlichen Studien total unerfolgreich. Man kann also davon ausgehen, dass Ginkgo bei Demenzstörungen oder bei kognitiven Störungen keine therapeutische Wirksamkeit aufweist." Und da damit der Wirkstoff von Tebonin und einer Reihe ähnlich als wirksam beworbenen Präparaten angesprochen wurde, gibt der anerkannte Pharmakologe Peter Schönhöfer in Würdigung einer nicht ganz einhelligen Forschungs- und Bewertungslage folgendes zu bedenken: "In dieser Studie, an dieser großen Zahl von Patienten zeigt sich, dass keine Verhinderung von dementieller Entwicklung stattfindet. Im Gegenteil: die Patienten die Ginkgo bekommen haben, haben eine höhere Tendenz eine Demenz zu entwickeln als die Patienten die es nicht bekommen". Dies gelte zumindest für Patienten mit einer Vorerkrankung der Herzgefäße.
• Dabei geht es um die mit 3.069 TeilnehmerInnen über 6,1 Jahre durchgeführte aktuellste und umfangreichste Studie "Ginkgo biloba for Preventing Cognitive Decline in Older Adults" von Snitz et al., deren ERgebnisse in der renommierten Medizinzeitschrift JAMA (JAMA 2009;302[24]:2663-2670) erschienen und diskutiert worden sind. Wesentliches Ergebnis: "Compared with placebo, the use of G biloba, 120 mg twice daily, did not result in less cognitive decline in older adults with normal cognition or with mild cognitive impairment."

Ohne die Wirksamkeit von Gingko generell und abschließend bewerten zu können und unter Berücksichtigung einer zum Teil positive Bewertung der Wirksamkeit von Gingko durch das IQWiG, sei die Erkenntnislage so zusammengefasst: Im "Spiel" Wirksamkeit gegen Unwirksamkeit von Tebonin steht es im Moment und aus Sicht unabhängiger "Schiedsrichter" 1:4. Ob dieser "Spielstand" die Verordnungs- und Abrechnungshäufigkeit und vor allem die Einnahme von Tebonin durch die PKV-Versicherten rechtfertigt, müssen letztlich diese entscheiden.

Die auch über das Zitierte hinaus lesenswerte und materialreiche 92-seitige Studie "Arzneimittelversorgung der Privatversicherten 2008. Zahlen, Analysen, PKV-GKV-Vergleich" von Frank Wild ist im Februar 2010 als Diskussionspapier des "Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP)" erschienen und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 27.4.10


2009: Deutschland belegt in der EU erneut Mittelplätze bei den Arbeits- und Lohnnebenkosten.

Artikel 1771 Würden nicht Arbeitgeber und einige Vertreter der Bundesregierungsparteien bei jeder Gelegenheit auf das Einfrieren oder gar die Senkung der Arbeitskosten und vor allem der Lohnnebenkosten mit dem Hauptposten Arbeitgeberbeiträge zur Kranken- oder Rentenversicherung pochen, könnte man sich wegen der jahrelangen Monotonie der empirischen Verhältnisse eigentlich so rasch wie möglich anderen Themen zuwenden.

Weil aber die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland angeblich immer noch als durch zu hohe Arbeits- und Lohnnebenkosten gefährdet gilt, seien erneut zwei gründliche Blicke in die am 30.3.2010 veröffentlichten 2009er Daten des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung und zum EU-Vergleich der Arbeitskosten und der Lohnnebenkosten erlaubt und empfohlen.

Nach Darstellung des Amtes sieht die Situation im Jahr 2009 so aus:

• Die deutschen Arbeitgeber bezahlten im Bereich der Privatwirtschaft im Durchschnitt 30,90 Euro pro geleistete Arbeitsstunde. Mit diesem Betrag lag Deutschland im EU-Bereich hinter Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Österreich, Finnland und den Niederlanden auf Rang acht.
• In dem für den Export besonders interessanten verarbeitenden Gewerbe wurde 2009 mit 35,60 Euro mehr bezahlt. Aber auch hier waren die Arbeitgeber in Belgien und Dänemark mit höheren Beträgen dabei.
• Die höchsten Arbeitskosten gab es in Deutschland mit 50,30 Euro in der Energieversorgung, die niedrigsten mit 16,10 Euro im Gastgewerbe.
• Durch den krisenbedingten Rückgang der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden (z.B. Abbau von Arbeitszeitkonten) stiegen zwar die Arbeitskosten pro geleistete Stunde. Doch die Wachstumsrate von 4,1% in der Privatwirtschaft und 5,1% im verarbeitenden Gewerbe waren "nur" die siebt- bzw. sechsthöchste Wachstumsrate (gemessen in Euro) in der EU.
• Die deutschen Arbeitgeber zahlten schließlich 2009 pro 100 Euro Bruttolohn und -gehalt 32 Euro Lohnnebenkosten womit Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt von 36 Euro lag und mit Rang 13 den fast schon gewohnheitsmäßigen Mittelplatz einnimmt. In Frankreich zahlten beispielsweise die Arbeitgeber 50 Euro Lohnnebenkosten bei 100 Euro für Bruttolöhne und -gehälter, in den Niederlanden 30 Euro, in Dänemark 22 Euro und im Schlusslicht Malta müssen die Arbeitgeber dann nur noch 9 Euro zusätzlich aufbringen.

Die kostenmäßig relativ entspannte Situation in international orientierten Wirtschaftszweigen der deutschen Volkswirtschaft bestätigt auch anlässlich der Vorstellung ihres neuesten "Wirtschaftsberichts für Deutschland" am 26.3.2010 die OECD: "Dem Bericht zufolge sind Deutschlands große Leistungsbilanzüberschüsse der vergangenen Jahre zu einem überwiegenden Teil auf eine geringe Investitionstätigkeit im Inland zurückzuführen und weniger auf eine gestiegene Sparneigung der privaten Haushalte. Gleichzeitig wurden die Exporterfolge zu einem großen Teil durch Kostenvorteile erzielt, die sich aus umfangreichen Auslagerungen ins Ausland und von Lohnmäßigung im Inland ergeben haben."
Dass die Reallohnstagnation und die zum ersten Mal seit 1949 im Jahr 2009 stattgefundene leichte Bruttolohnsenkung möglicherweise auch für den internationalen Produkt-Wettbewerb nachteilige Wirkungen haben können, zeigt der folgende Satz in der OECD-Erklärung: "Bei Innovation und insbesondere bei der Entwicklung neuer Produkte hat Deutschland in den vergangenen Jahren international an Boden verloren."

Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 30. März 2010 samt einem kleinen Tabellenanhang gibt es kostenlos zum Herunterladen.

Bernard Braun, 30.3.10


Deutschland im EU-Vergleich seit 2000: Schlusslicht bei Bruttolohn-, Arbeitskosten- und Lohnnebenkostenentwicklung.

Artikel 1757 Die am 03.03.2010 in der Pressemitteilung Nr. 074 vom Statistischen Bundesamt verbreitete und in vielen Zeitungsmeldungen auch verbreitete Nachricht, zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland-alt sei das Bruttoeinkommen um 0,4% gesunken, ist eigentlich nur die halbe Wahrheit über die Bruttolohnentwicklung. Sie verbreitet allerdings das Gefühl, hier ginge es um einen einmaligen, eigentlich unbeabsichtigten und bezüglich der Folgen vernachlässigbaren odere rasch reparablen Ausrutscher.

Dass dieser Eindruck falsch ist, d.h. die Bruttolohnentwicklung in Deutschland schon seit Jahren hinter der in vergleichbaren Ländern hinterherhinkt oder stagniert, stellt einen der vielen politisch und sozial gewollten "Sargnägel" einer auf bruttolohnbezogenen Beiträgen beruhenden Sozialversicherung dar. Und auch im Moment scheint das Kalkül der viel zu wenig diskutierten Umverteilungspolitik zu Lasten der Lohneinkommen und zu Gunsten der Vermögens- und Gewinneinkommen voll aufzugehen: Hunderte von ExpertInnen aller Couleur diskutieren wieder allein oder in kleinen und großen Kommissionen fast ausschließlich über das gute Dutzend schon zigfach durchgekauten "Finanzierungsalternativen" und fragen kaum mehr danach, warum eigentlich die Lohneinkommen in der Tat eine immer spärlicher werdende Einnahmenquelle darstellen.

In der Pressemitteilung 093 des Statistischen Bundesamtes vom 11. März 2010 finden sich allein zu drei Leit(d)indikatoren der bisherigen GKV-Finanzierung Überraschendes im europäischen Vergleich:

• Bei der jahresdurchschnittlichen
Bruttolohnentwicklung vom Jahr 2000 bis zum 3. Quartal 2009 liegt Deutschland mit einer Gesamt-Zunahme um 21% auf dem letzten Platz aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Der Zuwachs betrug im EU-Durchschnitt mit Deutschland 35,7% und ohne Deutschland bei 34%. Der Anstieg der Bruttolöhne im vergleichbaren Großbritannien lag in diesem Zeitraum bei 45,7%, in Spanien bei 45% und in Frankreich immer noch bei 29,2%. Die Spitzenzuwächse in nicht richtig vergleichbaren Ländern wie Rumäniens mit 543,9% bleiben hier ausgeklammert. Die Werte sind nach dem Beschäftigungsgrad gewichtet.
• Auch bei der Arbeitskostenentwicklung - darauf wurde im Forum bereits mehrfach hingewiesen - im Zeitraum 2000-3. Quartal 2009 liegt Deutschland mit 20,2% auf dem letzten Platz. Dieser Wert liegt weit unter dem EU-Durchschnitt mit Deutschland von 36,3% und noch weiter unter dem Spitzenwert von 49,7% Zuwachs in Spanien. Der nächstniedrige Wert eines vergleichbaren Landes lag in Österreich bei 28,9%.
• Und schließlich entwickelte sich auch das Mantra der Stärkung des Wirtschaftsstandortes durch Absenkung der Sozialbeiträge, nämlich die Lohnnebenkosten etwas anders als gemenetekelt wird. Sie nehmen nämlich im bekannten Zeitraum in Deutschland so gering zu, dass der Wert von 17,2% wiederum im EU-weiten Vergleich mehr oder weniger deutlich unter den Zuwächsen aller anderen Länder liegt. Der Durchschnittswert in der EU betrug 38,5%, in Großbritannien 61,8% oder in Frankreich 36,8%. Rumänien führt im Übrigen die Länderschar mit 306,5% Zuwachs der Lohnnebenkosten an.

Zu Recht überschrieb daher der wie gewohnt profunde wirtschafts- und sozialpolitische Informationsdienst "Informationsportal Globalisierung" von Joachim Jahnke seine Meldung über einen Teil der hier zitierten Daten mit den Worten "Deutschland Negativ-Meister in Bruttolohnentwicklung".

Wie lange sich aber Experten und Bevölkerung noch im Kern grundlos oder mit weniger dramatischem Hintergrund als behauptet am Nasenring der angeblich drohenden Verschlechterung der Wettbewerbsposition Deutschlands bei Löhnen, Arbeitskosten und Lohnnebenkosten herumzerren lassen, entscheidet über die Zukunft einer sozialen Sozial- und Krankenversicherung. Für die Freunde von mehr Steuerfinanzierung der Sozialleistungen nur folgender Hinweis: Auch Steuern sind fast immer Abzüge vom Brutto, können also rasch endlich werden!

Bernard Braun, 13.3.10


Risikoorientierte Beiträge ŕ la PKV: Das Ende der Gesundheitsreformen oder Modell mit wenig Nutzen und ungewisser Zukunft?

Artikel 1746 "Ja, was denn nun oder quo vadis FDP?" mag sich der Leser zweier Gutachten denken, die in den letzten Tagen zum Thema risikoorientierte Beiträge und PKV veröffentlicht bzw. gleich in den Giftschrank des Wirtschaftsministerium gesperrt worden sind und gegensätzlicher nicht sein können!!!

Es geht zum einen um die im Auftrag der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung und weitgehend aus Steuermitteln (nach eigenen Angaben finanzierte sich die Stiftung 2008 zu rund 92% aus öffentlichen Mitteln) finanzierte Studie "Drei Systeme des Gesundheitswesens im Vergleich".

Zum anderen um das vom Bundeswirtschaftsministerium noch vor dem Regierungswechsel in Auftrag gegebene und damit komplett aus Steuermitteln finanzierte Forschungsprojekt "Die Bedeutung von Wettbewerb im Bereich der privaten Krankenversicherungen vor dem Hintergrund der erwarteten demografischen Entwicklung".
Obwohl der Projektendbericht am 25. Januar 2010 dem mittlerweile freidemokratischen Minister Brüderle ausgehändigt wurde und die Ergebnisse in der gerade von der FDP angestoßenen Gesundheitssystemdebatte wichtige Beiträge liefern könnten, sperrte Minister Brüderle den Bericht vorsätzlich (das folgt unwidersprochen aus einem Artikel der "Ärzte Zeitung" vom 11. Februar 2010) weg.

Beide Gutachten, das für die FDP-Stiftung von Charles B. Blankart, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik und öffentliche Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und seinem Doktoranden Erik R. Fasten erstellte und das Regierungsgutachten von mehreren eigenen und kooperierenden Wissenschaftlern des Berliner IGES Instituts (darunter auch der Multi-Regierungs- und Versicherungsberater Bert Rürup), kommen bei der Bewertung des sozialpolitischen Nutzens der privaten Krankenversicherung und ihres zentralen Prinzips und Instruments der risikoorientierten Prämien zu grundlegend unterschiedlichen Feststellungen, Bewertungen und Schlussfolgerungen.

Blankart und Fasten beschäftigen sich in ihrer Studie mit drei Modellen, nämlich der Gesundheitsversorgung im System der gesetzlichen Krankenkassen, der Gesundheitsversorgung durch einen Gesundheitsfonds und mit der Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu risikoorientierten Prämien.
Zentraler Kritikpunkt am System der GKV ist dessen "arbeitseinkommensabhängige Prämie" durch die die Versicherten, keine Anreize, Risiken zu vermeiden, neue Arrangements und bessere Qualität zu suchen und so Kosten einzusparen. "Dieses innovative Element fehlt auch dem Zentralismus des Gesundheitsfonds. Auch er beruht auf einkommensabhängigen Beiträgen und bringt insofern keine Verbesserung gegenüber dem System der gesetzlichen Krankenkassen."

Doch lassen sich "diese Probleme …überwinden, wenn das Risiko endogenisiert und zur Zielvariablen gemacht wird. Risikoorientierte Prämien motivieren die Versicherten, Risiken zu vermeiden, und sie geben den Krankenversicherungen Anreize neue, Risiko senkende Arrangements zu suchen und dadurch volkswirtschaftliche Kosten zu sparen."

Und keine Sorgen: Das neue System ist "kein Radikalsystem": "Es werden keine Illusionen vorgelegt, sondern ein Weg aufgezeigt, wie ein Individuum mit dem Problem wachsender Gesundheitskosten umgehen kann, konkret: wie viel der Risiken es durch Verhaltensänderung einsparen, wie viel es selbst tragen und wie viel es bei einer Kasse seiner Wahl versichern will, aber auch muss."

Und natürlich wird auch das Schicksal der Bezieher niedrigerer Einkommen beachtet: "Für sie sollen daher bis zu einem bestimmten (!?) Einkommen für einen bestimmten (!?) Leistungskatalog arbeitseinkommensabhängige Beiträge gelten. Die zu erwartende Kostenunterdeckung wird durch Subventionen ausgeglichen, für die nach dem Solidaritätsprinzip alle und nicht nur einige Bürger aufkommen. Für die Bezieher höherer Einkommen werden risikoorientierte Beiträge angewandt."

In einem Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)" vom 15. Februar 2010 legen die Humboldt-Ökonomen noch ein paar Vorteile ihres "dritten Systems" nach: "Aber wenn wirklich ein Fortschritt in Richtung Wettbewerb und Kostensenkung erzielt werden soll, dann sind risikoorientierte Prämien unerlässlich."
Und was risikoorientierte Prämien bedeuten, sagen sie hier auch wesentlich klarer als in ihrer Studie: "Menschen mit hohen Risiken (bezahlen) höhere, solche mit geringen Risiken niedrigere Beiträge …. Wer zum Beispiel eine Neigung zum Übergewicht hat - egal, ob diese angeboren oder angeeignet ist - bezahlt einen höheren Beitrag. Es kommt auf das Risiko, die Gefahr, nicht auf den Grund der Gefahr an. Denn nur dann bestehen Anreize, durch Maßhalten die Gefahr abzubauen."

Wer jetzt noch unsicher ist oder den Vorschlag der beiden Ökonomen doch für zu utopisch oder radikal hält, bekommt versichert: "In der privaten Krankenversicherung hat sich dieses Prinzip über Jahre bewährt" und außerdem "wäre (das) dann die letzte Gesundheitsreform, und Politiker müssen sich nicht Jahr für Jahr neue Kostensenkungskonzepte einfallen lassen, die doch nie den gewünschten Erfolg haben."

Wenn das so ist, was sollte uns dann vom Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit permanenter Gesundheitsreform in die Freiheit risikoorientierter Beiträge abhalten?

Es ist das zweite Gutachten, das zwar die sprungbereite Bevölkerung dank des freidemokratischen Wirtschaftsministers weder auf der Publikationsseite des Ministeriums noch wegen der Urheberrechte auch hier nicht in Gänze lesen darf, aber das trotzdem dieselbe PKV etwas weniger bewährt wahrgenommen hat.

Die IGES-Forscher kommen nämlich in ihrem methodisch und inhaltlich weitaus differenzierteren und substanziellen Gutachten u.a. zu folgenden meist zurückhaltend aber klaren Erkenntnissen:

• Ihre Analyse "hat mehrere Ansatzpunkte aufgezeigt, die begründete Zweifel aufkommen lassen, dass die PKV ihren Ansprüchen gerecht werden kann, einen 'besseren' Schutz gegen Beitragssteigerungen zu bieten. Es ist somit fraglich, ob die etablierten Strategien der PKV zur Bewältigung der zukünftigen versicherungstechnischen Risiken, insbesondere mit Blick auf den demographischen Wandel, ausreichen."
• Das PKV-Konzept der alterskonstanten Prämien "greift … zu kurz", und "trotz Altersrückstellungen können daher auch sprunghafte Beitragserhöhungen nicht ausgeschlossen werden."
• Dies sei vor allem deshalb ein wirtschaftspolitisches Problem, weil "sich kein Wettbewerb um bessere Ansätze entwickelt." Es "fehlt die Grundlage für einen an den Nachfragepräferenzen orientierten und somit effizienten Wettbewerb. Der versicherungstechnische Fortschritt bleibt auf diese Weise stark gehemmt."
• Indem PKV-Unternehmen die "Spielräume, mit ihrer Tarifangebotspolitik Versichertengruppen mit … systematisch unterschiedlicher Risikostruktur wirksam voneinander zu trennen" nutzen, gelingt es ihnen "den Wettbewerb um Versicherte ganz auf Neukunden zu konzentrieren". Dies führt dazu, dass sie "die Ineffizienzen im Versicherungsangebot noch verstärken."
• Diew "Politik der Risikoseparierung" führt zwar zu "neuen Tarifen mit relativ niedrigen Prämien" und den damit gewonnenen Mengen junger, gesunder Versicherter, aber auch zu "überdurchschnittlichen Prämienzuwächsen in der Folgezeit" und älteren Tarifen "auf einem überdurchschnittlichen Prämiennniveau"
• Damit ist aber noch nicht Schluss mit den Wettbewerbsmängeln der PKV: "Auch auf den Leistungsmärkten der PKV sind Wettbewerbsmängel feststellbar". Vor allem der Wettbewerb in der ambulanten Versorgung ist "durch relativ hohe Ausgaben gekennzeichnet." Zwei Beispiele unter vielen: Die PKV-Ausgaben für ambulante Einrichtungen erhöhten sich von 1995 auf 2007 um etwa 89%, die der GKV dagegen "nur" um 35,5%. Die Ausgaben für Zahnarztpraxen stiegen in der PKV im selben Zeitraum um rund 56%, die der GKV um 3,1%.
Das "Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP)" bezeichnet dies als "Quersubventionierung" und beziffert das Volumen des Mehrbetrags für die PKV, das durch die Kompensation niedrigerer Einkünfte der Ärzte bei GKV-Patienten entsteht, 2006 auf insgesamt 9,7 Mrd. Euro, darunter 4,4 Mrd. Euro für Arzthonorare. Wenn schon Subventionierung bemüht wird, sollte aber auch die Subventionierung der PKV durch die GKV (z.B. die Existenz nahezu der gesamten Infrastruktur des Gesundheitswesens) beachtet werden, die es der PKV erst ermöglicht, höhere Preise zu bezahlen.
• Und wer jetzt schon etwas kleinlaut geworden murmelt, es gäbe für etwas mehr Leistungsausgaben auch eine bessere Qualität, bekommt auch hier von den IGES-Forschern einen kräftigen Dämpfer: "Inwiefern dies … für die privat versicherten Patienten mit einer höheren Versorgungsqualität verbunden ist, ist bislang kaum empirisch untersucht worden (mit Ausnahme der Unterschiede bei Wartezeiten)."
• Kein Wunder daher, dass "von Seiten der PKV nicht ganz offen und klar kommuniziert (wird), worin leistungsbezogen Vorteile für PKV-Versicherte gegenüber der GKV liegen, die die relativen Mehrausgaben rechtfertigen."
• Die zitierten Tatsachen und zahlreiche weitere empirische Hinweise begründen massive Zweifel daran, dass die PKV derzeitig ihre "versicherungsökonomische Kernfunktion" oder das Ziel der "Einkommensglättung über die Zeit" erfüllt.

Wer jetzt an noch mehr systematischen Argumenten und empirischen Belegen über den Wert des "dritten Systems" der Naumann-Stiftungs-Studienverfasser interessiert ist, muss warten, bis Herr Brüderle die freiheitliche Tradition seiner Partei wiederentdeckt und die 136 Seiten des Gutachtens frei zugänglich macht.

Schon beim jetzigen Kenntnisstand sei aber abschließend die Preisfrage erlaubt: Warum verbirgt Herr Brüderle das aus Steuermitteln finanzierte und gerade für die von seiner Partei angezettelte Debatte über die Zukunft des Krankenversicherungssystems so wichtige IGES-PKV-Gutachten bisher vor den Steuerzahlern? Honni soit qui mal y pense!

Vielleicht wird die Generalisierung des "dritten System" der FDP-nahen Stiftung aber nicht nur durch einen veröffentlichungsbereiten FDP-Minister Brüderle gefährdet. Daran könnte auch noch der FDP-Minister Rösler beteiligt sein, wenn er weiter sein Kopfprämienmodell forciert. Denn die Kopfpauschale, so die Bremer und Fuldaer Gesundheitsökonomen Rothgang und Greß im "Handelsblatt" vom 15. Februar 2010, "macht den Systemübertritt in die PKV finanziell unattraktiv", "würde den Zufluss neuer Kunden … sicherlich halbieren" und damit das Finanzierungsmodell der PKV ins Wanken bringen.

Die von der FDP-nahen "Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit" in Auftrag und herausgegebene 44-seitige Studie "Drei Systeme des Gesundheitswesens im Vergleich" von Charles Blankart und Erik Fasten ist komplett und kostenlos erhältlich.

Der die Gesundheitspolitiker aber im Übrigen auch ihre zahlreichen Berater arbeitslos machen wollende FAZ-Beitrag "Alternativen der Gesundheitsreform" von Blankart und Fasten in der Ausgabe vom 15.2.2010 steht leider lediglich den Abonnenten der Zeitung komplett kostenlos zur Verfügung.

Das IGES/Rürup-Gutachten kann leider auch hier nicht in ganzer Länge zugänglich gemacht werden. Interessenten sollten sich daher an das Bundeswirtschaftsministerium wenden.

Nachtrag 1. März 2010 abends: Nun bleibt dem Interessierten doch der Appell an Herrn Brüderle erspart. Nach Fertigstellung dieses Beitrags zeigte nämlich eine erneute Recherche im Internet, dass der "Giftschrank" des Ministeriums doch Löcher hat, die sogar seriös sind. So bietet IGES, also das Institut, das den PKV-Projektbericht ausgearbeitet hat die Langfassung und eine Zusammenfassung kostenlos auf seiner Website an.

Nur beim Auftraggeber des Forschungsprojektes selber, dem Bundeswirtschaftsministerium, findet sich auch bis jetzt weder eine Zusammenfassung noch der komplette Bericht.

Bernard Braun, 28.2.10


Sprungbrett in die Sackgasse oder "von nichts kommt nichts"! Wie sehen Niedriglöhne in Deutschland aus und was bewirken sie?

Artikel 1733 Egal, ob sich die derzeitige Bundesregierung entschließt, "ganz langsam" in ein Kopfpauschalensystem um- und einzusteigen und damit über kurz oder lang Milliarden Euro aus Steuereinnahmen zum Sozialausgleich zu brauchen oder es mit einkommensbezogenen Beiträgen weitergeht: Eine stagnierende oder gar sinkende Bruttolohnsumme verschlechtert die Basis sämtlicher Finanzierungsmodelle. Daher ist auch die Entwicklung der Löhne am unteren Rand oder die Existenz oder Nichtexistenz von Niedrig- und Mindestlöhnen eine sowohl einkommenspolitisch als auch für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme äußerst relevante sozialpolitische Bedingung.

Wie es damit aussieht, hat Ende 2009 eine Gruppe von WissenschaftlerInnen vom "Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ)" der Universität Duisburg-Essen für die Friedrich-Ebert-Stiftung ermittelt und zusammengefasst.

Die wichtigsten empirischen Ergebnisse des Reports lauten:

• Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung ist in Deutschland ist seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gewachsen und liegt inzwischen deutlich über dem europäischer Nachbarländer. Sogar das hohe Niveau der USA ist fast erreicht. Absolut ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten zwischen 2006 und 2007 um rund 350.000 auf etwa 6,5 Millionen angestiegen. Im Vergleich zu 1995 hat die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten also um knapp 49% zugelegt
• Zwischen 1995 und 2006 sind die durchschnittlichen Stundenlöhne im unteren Einkommensquartil inflationsbereinigt um fast 14% gesunken. Selbst im Wirtschaftsaufschwung seit 2004 ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten weiter angestiegen und stellt damit eine Seite der generell gespreizteren Schere zwischen unteren und mittleren Einkommen dar.
• Dabei steigt besonders der Anteil von Beschäftigten mit Niedrigstlöhnen von weniger als 50% oder sogar einem Drittel des Medians deutlich an.
• "Immer mehr Menschen arbeiten in Deutschland also für Löhne, die selbst für vollzeitarbeitende Alleinstehende kaum zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichen."
• Unabhängig von der bereits geringen Höhe der tatsächlichen Mindestlöhne und damit der besteuerbaren- oder als Beitragsbasis tauglichen Einkommen haben die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor sogar n den letzten Jahren real an Wert verloren und sich in den letzten Jahren teilweise sogar nominal verringert. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen 2007 mit 6,88 € in West- und 5,60 € in Ostdeutschland sowohl nominal als auch real weiter unter den jeweiligen Niedriglohnschwellen als noch 1995. Obwohl die Möglichkeit des baldigen Übergangs in besser bezahlte Tätigkeiten als werbendes Argument für die Erwerbstätigkeit in diesem Sektor existiert, ist faktisch der bescheidene wirtschaftliche Aufschwung gerade an den Niedriglohnbeschäftigten vorbeigegangen.
• Obwohl gering Qualifizierte ein besonders hohes Niedriglohnrisiko aufweisen, ist die große und wachsende Mehrheit der Niedriglohnbezieher formal höher qualifiziert: 2007 arbeiteten 43,3% der Beschäftigten ohne Berufsausbildung für einen Niedriglohn und damit deutlich mehr als 1995. Unter allen Niedriglohnbeschäftigten stellten aber gering Qualifizierte 2007 jedoch nur noch gut ein Fünftel. Personen mit beruflicher Ausbildung oder akademischem Abschluss stellen 2007 daher rund 80 % der gering Verdienenden.
• Entgegen den verbreiteten Erwartungen, sind Frauen zwar mehr von Niedriglohnarbeit betroffen als Männer, diese "holen" aber "auf". Außerdem stellen Beschäftigte mittleren Alters die Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten.
• Und schließlich erweist sich auch die Hoffnung oder das politische Versprechen, Niedriglohnjobs stellten ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung, als trügerisch. Es handelt sich eher um eine Sackgasse. Die Chancen, aus dem Niedriglohnsektor schnell wieder herauszukommen ist sogar im europäischen Vergleich besonders gering und wird durch mehrere Studien schlüssig belegt.

Angesichts der Ergebnisse neuerer Forschung, dass selbst wesentlich höhere Niedriglöhne als die in Deutschland existieren oder über die hierzulande nachgedacht wird, in anderen Ländern positive Effekte auf der betrieblichen Ebene und auf dem Arbeitsmarkt insgesamt haben können, plädieren die IAQ-WissenschaftlerInnen auch für Deutschland entschieden für eine angemessene untere Lohngrenze bzw. einen Mindestlohn, der über den realen Niedriglöhnen liegt.
Zutreffend ist dabei sicherlich, eine solche Maßnahme "in ein größeres Reformpaket, das darauf abzielt, den sozialen Zusammenhalt nachhaltig und umfassend zu stärken" eingebettet werden muss.

Die umfangreiche und materialreiche Analyse "Mindestlöhne in Deutschland" von Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf und Thorsten Kalina ist in der Reihe WISO-Diskurs der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung im Dezember 2009 erschienen und kostenlos erhältlich.
Als kurze sozialpolitische Ergänzung gibt es zusätzlich von denselben AutorInnen die ebenfalls bei der Ebert Stiftung erhältliche Argumentensammlung "Warum Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn braucht".

Bernard Braun, 10.2.10


Geld für "Bildung statt Banken"!? Welche langfristigen Wachstums-, Produktivitäts- und Sozialeffekte haben 25 PISA-Punkte?

Artikel 1720 Zu den Standardphrasen vieler sozial- oder gesundheitspolitischer Debatten gehört die Feststellung, dass "wir" uns künftig das derzeitige soziale und solidarische Niveau nicht mehr leisten könnten. Die demografische Entwicklung und der relative Schwund der Zahl erwerbstätiger BürgerInnen führe zu stagnierender oder gar rückläufiger Reichtumsproduktion und könne auch durch die heutigen Produktivitätszuwächse künftig nicht kompensiert werden. Es gäbe keine Anzeichen für eine zukünftig im Vergleich zu heute höhere Produktivität - eher im Gegenteil. Insofern sollten sich bereits heute möglichst viele Versicherte auf härtere Zeiten einstellen und vor die Wahl gestellt werden, ob sie viele der bisher selbstverständlich solidarisch finanzierten Leistungen aus eigener Tasche finanzieren oder eben auf sie verzichten.

An der pessimistischen Beurteilung der künftigen Produktivitätsentwicklung und damit sicherlich auch der Finanzierbarkeit von angemessenen Einkommen und daraus finanzierten Sozialleistungen kratzt jetzt eine am 25. Januar 2010 veröffentlichte Analyse mehrerer Bildungswissenschaftler und -ökonomen im Auftrag der OECD gewaltig.

Die OECD, die u.a. auch seit Jahren das "Programme for International Student Assessment (PISA)" mit seinen zahlreichen international und national vergleichenden Analysen zu Bildungsniveaus und -ressourcen durchführt, wollte von dem an der Universität Stanford arbeitenden Eric H. Hanushek, dem Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann und dem OECD-PISA-Koordinator Andreas Schleicher wissen, welche wirtschaftliche Wirkung Investitionen in eine bessere Bildung haben können. Das Maß für Bildung und damit auch bessere Bildung sind die PISA-Punkte, die für Fähigkeiten in natur- und kulturwissenschaftlichen Fächern oder Leistungsbereichen mit standardisierten Verfahren mittlerweile seit 2000 erhoben werden.

Auf der Basis von Algorithmen verschiedener us-amerikanischer Langzeitstudien, den Daten der verschiedenen PISA-Studien und eines 20 Jahre dauernden Reformprozess-Szenario kommen die Autoren in ihrem Report "The high cost of low educational performance" u.a. zu folgenden Ergebnissen bzw. Prognosen:

• Selbst ein relativ bescheidener Zuwachs von 25 PISA-Punkten (entspricht auf der PISA-Skala etwa dem Lernzuwachs eines halben Schuljahrs) führte weltweit zu einem zusätzlichen Wachstum von 115 Billionen US-Dollar im Leben der 2010 Geborenen. Dem Standardargument gegen solche Szenarios bzw. Anstrengungen, dies wäre "nicht zu schaffen", setzen die Autoren gleich ein besonders in Deutschland provokatives empirisches Datum entgegen: Das Land mit der schnellsten Verbesserung des Bildungssystems, Polen, erhöhte sein PISA-Punktelevel allein zwischen 2000 und 2006 um 29 Punkte. Eckpunkte der Reform war die Einführung einer sechsjährigen Primarschule der sich weitere drei gemeinsame Jahre für alle Schüler in der Sekundarschule anschlossen.
• 25 PISA-Punkte mehr brächten der nächsten Generation in Deutschland bzw. der zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft immerhin 8.000 Milliarden Euro ein.
• Wenn die deutschen Kinder auf das PISA-Spitzenniveau der finnischen Schüler gelangen würden, dann entspräche der Ertrag dem Fünffachen der gesamten derzeitigen Jahreswirtschaftsleitung (10.000 Milliarden Euro) oder einem zusätzlichen jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,8 Prozent.

Für die weitere Debatte, die ja in Deutschland auch nicht zum ersten Mal geführt und beendet wird, ist die Schätzung Schleichers wichtig, für die Verbesserung der PISA-Performance seien "Ausgabensteigerungen nur zu einem Viertel verantwortlich." Auch die Schulzeit allein ist nach Meinung der OECD-Forscher ein zu vernachlässigender Faktor für die Bildungswirkungen. Die prognostizierten Effekte kämen also mehrheitlich durch kostenneutrale Faktoren in der Struktur des Bildungsprozesses (z.B. Beseitigung des zu frühen Selektionssystems nach der vierten Grundschulklasse) und der Qualität des Unterrichts zustande. Dass diese Faktoren eine große Rolle spielen und mit ihrer Veränderung auch positive Ergebnisse erzielt werden können, zeigt das bereits genannte Beispiel Polens.

Die bisher finanziell und inhaltlich weitgehend vernachlässigte frühkindliche Bildung spielt in dem Gesamtkonzept der Forschergruppe ebenfalls eine wichtige Rolle. Egal, ob man das Denken in Renditen bei drei- bis fünf-Jährigen mag oder nicht und glücklich findet, ist unbestritten, dass dortige Investitionen mehr für das spätere Bildungsniveau und gegen soziale Benachteiligungen bringen als manche Investition in die Schüler der gymnasialen Oberstufe. Entscheidend ist aber auch hier die Qualität der Bildung, die nicht eine Art Super-Light-Version späterer Bildungs-Curricula sein darf.

Selbst wenn man den genannten absoluten Erträgen für einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Zeitraum nicht traut und dafür eine ganze Menge methodischer Argumente geltend machen kann, stellt sich nach dieser Studie die Frage, warum - in den Worten des ZEIT-Autors Reinhard Kahl - "eine Gesellschaft ihr Geld nicht auf diese Bank mit der höchsten, von keiner Inflation oder Finanzkrise bedrohten Rendite" bringt, statt es (ausschließlich) zur Rettung fragwürdigster Bankgeschäfte zu verwenden? Stattdessen sind zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge, die jahrelang für andere Zwecke als unfinanzierbar galten, zum Stopfen von Spekulationslöchern verwendet worden oder könnten darin sogar spurlos verschwinden. Gleichzeitig wird in der Bundesrepublik Deutschland über jeden Zehntel Punkt einer international eher bescheidenen Erhöhung der Bildungsausgaben auf zig Konferenzen seit Monaten gerungen. Noch weniger bewegt sich aber bei den strukturellen und qualitativen Schwachstellen des deutschen Bildungssystems.

Leider stellt sich also die Situation eher so dar: "Stattdessen beginnen nun Politiker schon wieder die Menschen auf Zeiten des Sparens einzuschwören. Sie wollen auch an Lehrern und anderen "Bildungskosten" sparen. Sie sagen, man könne halt jedes Stück des kleiner gewordenen Kuchens nur einmal essen. Denkfehler! Bildung ist nicht Kuchen essen, sondern Kuchen backen! Und natürlich kommt es auf die Zutaten an." (Kahl)

Wie fakten- und reformresistent die Bildungslandschaft, die bildungspolitisch Verantwortlichen aber auch ein Teil der politischen Öffentlichkeit in Deutschland sind, zeigt die Tatsache, dass die OECD-Studie keineswegs allein oder gar erst heute und völlig überraschend auf gewichtige nachteilige Effekte des deutschen Bildungssystems für die wirtschaftliche und auch soziale Zukunft des Landes hinweist. Auch genaue monetäre Angaben gibt es für die möglichen Effekte gründlich reformierter Bildungsstrukturen und -inhalte nicht erst heute und aus dem OECD-Headquarter in Paris.

Zuletzt hat eine im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vom Münchner ifo-Institut erstellte und im November 2009 veröffentlichte Studie allein über die Effekte der stillschweigend geduldeten Existenz einer Vielzahl von so genannten "Risikoschülern" folgende Ergebnisse erbracht:

• Zu den unzureichend gebildeten "Risikoschülern" zählen in Deutschland rund 20 Prozent aller 15-Jährigen. Gemäß den PISA-Studien können sie höchstens auf Grundschulniveau lesen und rechnen und haben deshalb beim Eintritt in die Berufstätigkeit und dann wohl auch auf Dauer erhebliche Probleme.
• Dies zieht volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von rund 2,8 Billionen Euro nach sich.
• Gelänge es durch entsprechende strukturelle und qualitative Reformen den Anteil der "Risikoschüler" wesentlich zu reduzieren könnte dies bis zum Jahr 2030 zu einem Ertrag von wiederum maximal 69 Milliarden Euro führen. Der Ertrag überstiege so die jährlichen öffentlichen Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich. Bis zum Jahr 2074 erreichte das zusätzliche Wachstum die Summe von rund 1,75 Billionen (1.746 Milliarden) Euro und damit in etwa das Niveau unserer heutigen Staatsverschuldung. Im Jahr 2090 schließlich - dem Endpunkt der Langzeitbetrachtung - summieren sich die Erträge auf 2,8 Billionen (2.808 Milliarden) Euro. Das ist mehr als unser heutiges Bruttoinlandsprodukt (BIP) und entspricht etwa dem 28-fachen der jüngsten Konjunkturpakete. Im Jahr 2090 wird das BIP durch die Bildungsreform um über 10 Prozent höher sein, als es ohne die Reform wäre.

Auch bei dieser Studie muss und kann man den absoluten Summen nicht völlig trauen und sollte daher auch nicht lang streiten. Aber selbst wenn man die möglichen dämpfenden Einflüsse berücksichtigt und die eine oder andere Milliarde an Ertrag verliert, sind hektisches Nichtstun oder die Fortdauer folgenloser Sightseeingtouren von Bildungspolitiker in andere Länder das definitiv schlechteste politische Verhalten.

Den 77-Seiten-Bericht "Wirksame Bildungsinvestitionen. Was unzureichende Bildung kostet. Eine Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum" von Ludger Wößmann und Marc Piopiunik gibt es komplett und kostenlos.
Auf der Projektwebsite der Bertelsmann Stiftung gibt es eine Vielzahl von Links zu Zusammenfassungen des Berichts und zu grafischen Darstellungen der wichtigsten Ergebnisse.

Der 52-Seiten-OECD-Bericht "The High Cost of Low Educational Performance. THE LONG-RUN ECONOMIC IMPACT OF IMPROVING PISA OUTCOMES" ist ebenfalls kostenlos erhältlich.

Nachtrag für diejenigen, die noch eine etwas andere Bewegung in die Bachelor-/Masterdebatte bringen wollen: Würde in Deutschland für jeden Studenten jährlich genauso viel wie in der Schweiz ausgegeben, also etwas mehr als 12.000 Euro gegenüber rund 8.000 Euro, benötigt man jährlich etwa 8 Milliarden Euro mehr und könnte damit an Hochschulen z.B. 50.000 neue Dauerstellen schaffen. Orientierte man sich in Deutschland an den Niederlanden, halbierte sich der Effekt in etwa, da dort "nur" 10.000 Euro pro Student und Jahr aufgewandt werden. Auch hier kommt es natürlich letztlich darauf an, was die Inhaber der neuen Stellen inhaltlich machen. Das Rechenexempel verdanken wir einem Artikel von Jeanne Rubner am 30. Dezember 2009 in der "Süddeutschen Zeitung", der allerdings nicht online frei erhältlich ist.
Ob die Kultusminister der Länder dem Rat Rubners gefolgt sind, dies "in den Weihnachtsferien nach(zu)rechnen" weiß man nicht. Vielleicht leiden aber auch sie an der PISA-"Leseschwäche" und brauchen einfach mehrere Erinnerungen!?

Bernard Braun, 27.1.10


Kollateralschäden des Hartz IV-Bezugs oder was hat das Arbeitslosengeld II mit der Einnahmeschwäche der GKV zu tun?

Artikel 1691 Der Umgang mit den Ressourcen erwachsener Menschen und die Versuche sie durch die materielle Grundsicherung auf Hartz IV-Niveau zu "fordern und zu fördern", d.h. schnellstmöglich aus dieser prekären Situation hinaus zu bewegen und damit zumindest wieder auf ein durchschnittliches Niveau der Arbeitszeit, des Arbeitseinkommens und der Mitfinanzierung der Sozialversicherungsträger zu gelangen, sieht nach 5 Jahren Hartz IV nicht im Sinne der Erfinder dieses sozialpolitischen Konzepts aus.
Dies ist jedenfalls die Quintessenz einer Befragung von Arbeitslosengeld II-Bezieher, die das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt und als IAB-Kurzbericht 38/2009 am 15. Dezember 2009 veröffentlicht hat. Es handelt sich konkret um Befragungsdaten aus der ersten Welle der IAB-Erhebung "Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung" (PASS). Für diese Analyse wurden in der ersten Jahreshälfte 2007 9.386 Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren in 6.804 Haushalten mit Bezug von SGB-II-Leistungen zum Stichtag 19. Juli 2006 befragt.

Die wesentlichen Fakten auf die sich diese Bewertung stützt, sehen so aus:

• Der Ausstieg aus Hartz IV gelingt immer noch relativ selten: Rund drei Viertel der Betroffenen beziehen Arbeitslosengeld II mindestens 12 Monate durchgängig.
• Von denen, die den Ausstieg schaffen, finden rund 50 Prozent einen neuen Job, d.h. rund 12,5 Prozent der Gesamtgruppe der Hartz IV-Empfänger.
• 14 Prozent nehmen eine Aus- oder Weiterbildung oder ein Studium auf. Sechs Prozent gehen in Rente, ebenfalls sechs Prozent geben an, Hausfrau oder Hausmann zu sein. Ein weiterer Grund für den Ausstieg aus Hartz IV kann beispielsweise auch Mutterschutz sein.
• 17 Prozent derjenigen, die kein Arbeitslosengeld II mehr bekommen, sind aber immer noch arbeitslos. Wenn sie keine staatliche Unterstützung mehr erhalten, liegt es beispielsweise daran, dass der Partner eine neue Stelle hat und ihr gemeinsamer Haushalt nicht mehr als bedürftig zählt.
• Jeder zweite ehemalige Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der durch einen Job nicht mehr auf die staatliche Unterstützung angewiesen ist, verdient zunächst weniger als 7,76 Euro brutto in der Stunde. Ausgeschlossen aus dieser Untersuchung waren die so genannten "Aufstocker", also Personen, die trotz Arbeit bedürftig waren und deshalb Hartz IV erhielten.
• Der größte Teil der nach dem Arbeitslosengeld-II-Bezug Erwerbstätigen fand eine Beschäftigung, die ihrem Ausbildungsniveau entspricht. 29 Prozent mussten allerdings eine ausbildungsinadäquate Tätigkeit annehmen.
• Zum Vergleich: Insgesamt arbeiten etwa 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland unterhalb ihres Ausbildungsniveaus und verdienen daher wohl auch unterdurchschnittlich.
• Nur jeder dritte erwerbstätige ehemalige Arbeitslosengeld-II-Bezieher fand eine unbefristete Vollzeitstelle. In der restlichen Bevölkerung ist das bei rund jeder zweiten neuen Stelle der Fall.

Auch wenn die Autoren erst in einer späteren Analyse der Arbeitsverhältnisverläufe endgültig die sozialpolitisch relevante Frage klären wollen, "ob flexible Beschäftigungsformen ein "Sprungbrett" in eine dauerhafte Erwerbsintegration im Sinne eines Normalarbeitsverhältnisses sein können, oder ob sie eher wie eine "Drehtüre" zurück in den Leistungsbezug führen", zeigen schon die jetzigen Zahlen, dass eine Hartz IV-Passage für die Mehrheit der Betroffenen länger als erwartet dauert und auch instabil, d.h. mit Dequalifikation und mit Einkommensverlusten endet - selbst wenn die Arbeitsmarktsituation in den Untersuchungsjahren relativ günstig war.
Sollte sich daran im weiteren Zeitverlauf nichts ändern, stellte dies ein weiteres Element im Ensemble der sozialpolitischen Maßnahmen dar, die einen unsozialen und auch unwirtschaftlichen Umgang mit dem Arbeits- und Produktivitätspotenzial dieses Teils der Bevölkerung beinhalten oder fördern.
Und wer weitere Details kennenlernen will, die zu der jahrzehntelangen Einnahmeschwäche z.B. der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beitragen, findet hier ein weiteres politisch produziertes und daher auch beseitigbares Puzzleteil. Hinzu kommt natürlich, dass Hartz IV-Empfänger einen geringen Beitrag für ihre GKV-Mitgliedschaft bezahlen als das durchschnittliche erwerbstätige Mitglied.

Der am selben Tag veröffentlichte IAB-Kurzbericht 29/2009 verbreitet zwar allgemein eine "grundsätzlich positive Einschätzung der einschneidenden Neuordnung der Grundsicherung für Erwerbsfähige", enthält dann aber auch Details, die eher den kritischen Eindruck über die Wirkungen des Hartz IV-Systems verstärken.
So dokumentieren die Autoren des zweiten Berichts beispielsweise folgenden Trend: "Dagegen gibt es einen erheblichen Sockel von Personen und Bedarfsgemeinschaften, die den Ausstieg aus der Hilfebedürftigkeit nicht schaffen. Von den Bedarfsgemeinschaften, die im Januar 2005 in die Betreuung der Grundsicherungsstellen überführt wurden, waren drei Jahre später immer noch 45 Prozent auf ALG II angewiesen."

Den achtseitigen IAB-Kurzbericht "Befragung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern. Wege aus der Grundsicherung" von Juliane Achatz und Mark Trappmann erhält man kostenlos.
Der ebenfalls 8 Seiten umfassende IAB-Kurzbericht 29/2009 Fünf Jahre SGB II: Eine IAB-Bilanz. Der Arbeitsmarkt hat profitiert" von Joachim Möller, Ulrich Walwei, Susanne Koch, Peter Kupka und Joß Steinke ist ebenfalls kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 15.12.09


Finanzierung der GKV durch Prämien a la Schweiz!? Wie sich die Bundesregierung mit einer Tasse Kaffee eine Kommission sparen kann!

Artikel 1673 Wenn die frischgebackene Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Birgit Homburger, darauf besteht, die künftige Finanzierung der GKV durch die Einführung eines Prämiensystems "gerechter" zu machen und dies durch eine Regierungskommission untermauern will, könnte sie dies eigentlich wesentlich schneller und gemütlicher erreichen. Sie müsste bei einem Besuch in ihrem Wahlkreis Konstanz ihren Nachmittags-Kaffee nur mal in der angrenzenden Schweiz trinken und dort laut über die entsprechenden Passagen des CDU/CSU/FDP-Koalitionsvertrags reden. Schon ihre Bedienung wird ihr dann in Fränkli und Räppli genau darlegen, dass es sich um kein problemloses Finanzierungsmodell handelt, sondern das Gegenteil der Fall ist.

In der Schweiz gibt es seit 1996 die so genannte obligatorische Grundsicherung oder Krankenpflegeversicherung. Sie muss von den zur Zeit 94 anerkannten privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen allen Personen, die ihren Wohnsitz im Tätigkeitsgebiet der Kasse haben, unabhängig von Alter, Aufenthaltsbewilligung und Gesundheitszustand ohne Vorbehalte und Karenzfristen angeboten werden. Die Versicherung wird durch eine einkommensunabhängige Kopfpauschale/-prämie bezahlt, die nicht nur erwerbstätige Erwachsene, sondern auch deren Kinder und nichterwerbstätige Familienangehörige zu zahlen haben. Die potenziellen Belastungen für kinderreiche Familien oder Menschen mit "bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen" wurden beim Einstieg in die Prämienversicherung zwar gesehen, aber durch staatliche Zuschüsse für beherrschbar gehalten.

Die aktuellen Entwicklungen in der Schweiz schüren allerdings massive Zweifel am Nutzen oder gar der Überlegenheit dieses Modells gegenüber dem "guten, alten" GKV-Umlagesystem der deutschen GKV. Auf die Schweizer Prämien-Krankenversicherten kommen nämlich im kommenden Jahr deutlich höhere Gesundheitskosten zu. Die Prämien für die obligatorische Krankenversicherung steigen 2010 im Durchschnitt um 8,7 Prozent. Je nach Kanton schwanken die Steigerungsraten zwischen 3,6 und 14,6 Prozent. Noch stärker steigen die Prämien für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, nämlich um im Schnitt zehn Prozent. Für junge Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren legen sie sogar um 13,7 Prozent zu. Dies beruht im Übrigen nicht auf einer Erkrankungswelle, sondern auf einer gut-marktwirtschaftlich möglichen Senkung der Rabatte für diese Altersgruppe durch die Versicherungsunternehmen.

In absoluten Beträgen ausgedrückt, steigt die Durchschnittsprämie für Erwachsene von knapp 323 Franken (214 Euro) pro Monat auf 351 Franken (232 Euro). Für Kinder nimmt die Prämie von 76 auf 84 (55 Euro) und bei jungen Erwachsenen von 258 auf 293 Franken (194 Euro) zu. Zu beachten ist, dass es sich hierbei bereits um subventionierte Prämien handelt. Den Versicherungsunternehmen ist nämlich vorgeschrieben Versicherungspolicen für Kinder auf diese Weise zu verbilligen, was aktuell auch zu einer Art Sockelverbilligung um 75 Prozent führt. Wie bereits gesehen, ist dieser Sockel aber durchaus beweglich. Weil selbst die subventionierten Prämien in kinderreichen Familien zu hoch sind und außerdem auch in der Schweiz arme Personen leben, führt die Regierung seit Beginn der Prämienversicherung Programme zur Prämienverbilligung durch. Von diesen profitierten bereits 1996 23% der versicherten Kinder. Ihr Anteil ist 2009 auf 38% gestiegen.

Letzteres deutet auch schon an, dass das Prämiensystem eigentlich von Beginn an systematische Mängel und kontinuierlich unerwünschte Effekte hatte:

• Fester Bestandteil der obligatorischen Grundsicherung war von Beginn an eine für jede Person über 18 Jahren (Kinder zahlen keine Franchise) ebenfalls obligatorische Selbstbeteiligung oder Franchise von 300 Franken. Diese Selbstbeteiligung kann gegen sinkende Prämien bei Erwachsenen auf maximal 2.500 Franken und bei Kindern auf maximal 600 Franken erhöht werden.
• Gespart werden kann auch noch ein Bonusmodell. Mit ihm wird die Prämie mit jedem Jahr gesenkt, in dem keine Rechnung zur Vergütung eingereicht wird. Selbst das offizielle Merkblatt, in dem dieses Modell vorgestellt wird, heißt es: "Achtung: Die Ausgangsprämie ist 10% höher als die ordentliche Prämie und die Franchise kann nicht erhöht werden. Die Prämie kann aber innerhalb von 5 Jahren auf die Hälfte der Ausgangsprämie sinken. Schliessen Sie eine solche Versicherung nur ab, wenn Sie selten bis nie in ärztlicher Behandlung sind. Lassen Sie sich jedoch nicht dazu verleiten, den Arzt/die Ärztin nicht oder zu spät aufzusuchen, nur um Kosten zu sparen."
• Zur kompletten oder verminderten Prämie kommen aber noch zwei nicht wählbare Pflicht-Selbstbeteiligungen hinzu: ein Selbstbehalt und ein Spitalbeitrag. Der Selbstbehalt beträgt 10% der die Franchise übersteigenden Kosten, ausgenommen für die Originalpräparate, die durch Generika austauschbar sind (20%). Grundsätzlich beläuft sich der Selbstbehalt maximal auf 700 Franken pro Jahr (Kinder 350 Franken). Der Spitalbeitrag beträgt 10 Franken pro Spitaltag für Personen, die nicht mit einem Familienmitglied in einem Haushalt leben, für welches sie unterhalts- oder unterstützungspflichtig sind.
• Zwischen 1996 und 2003 stiegen die Prämien jährlich um 6,5%, also um wesentlich höhere Prozentbeträge als etwa die GKV.
• Seit 2003 flachte die Steigerungsrate etwas ab, war aber immer noch höher als im Umlagesystem der GKV.
• Das staatliche Unterstützungsprogramm kostet mittlerweile jährlich rund 2,2 Mrd. Euro.
• Der auch jetzt noch oft empfohlenen Lösung, dem Prämien-Kostendruck durch die entsprechende Wahl der Krankenkasse mit alternativen rabattierten Versicherungsmodellen zu entkommen - z.B. mit freiwilliger Einschränkung der Arzt- und Spitalwahl oder der Erhöhung der eigenen Kostenbeteiligung (Franchise) - wird durch eine subtile Begleitreform graduell der Boden entzogen. Der Rabatt für höhere Franchisen wird 2010 nämlich gesenkt: Von 80 auf 70 Prozent der Differenz zwischen den Grundprämien von 300 Franken und der gewählten Franchise. Wer beispielsweise 2009 bei einer Franchise von 1000 Franken noch 560 Franken pro Jahr gespart hat, profitiert 2010 nur noch von einem Rabatt von 490 Franken pro Jahr.
• Am 22.9.2009 teilte Santésuisse, der Verband der Schweizer Krankenversicherer, in einem "Communiqué" unter der Überschrift "Spitalkosten ausser Kontrolle" außerdem u.a. mit: "Der Kostenanstieg 2008 pro versicherte Person … in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung liegt mit 5,4 % über dem Vorjahreswert von 3,8 %." Welche Leistungsbereiche hier treibend und hemmend beteiligt sind, ist nicht nur für Frau Homburger lesenswert. Ohne dass die Ausgabenentwicklung in der GKV glorifiziert werden soll oder vergessen werden darf, dass diese teilweise durch die zunehmende Privatisierung von vorherigen GKV-Leistungen "erkauft" wurde, liegt sie seit viel Jahren immer unter dem Niveau der Schweizer Prämienversicherung oder der deutschen PKV.

Der sarkastischen Empfehlung in der Ärzte Zeitung vom 6.11.2009, dass demjenigen, der "Risiken und Nebenwirkungen von Prämienkonzepten kennenlernen will - die Schweiz … eine Reise wert" sein sollte, ist in jedem Fall zuzustimmen. Etwas einfacher können es aber Frau Homburger und Internetnutzer haben.

Alle Informationen über das System und die Entwicklungen der obligatorischen Prämienkrankenversicherung in der Schweiz kann man über die angegebene Website finden und noch weiter anreichern.

Und für diejenigen, welche die aktuelle kritische Darstellung solcher Wirkungen reflexartig für übertrieben oder voreilig halten, sei die Lektüre von Thomas Gerlingers Auseinandersetzung mit demselben Schweizer Prämienmodell aus dem Jahre 2003 wärmstens empfohlen. Das WZB-Diskussionspapier "Das Schweizer Modell der Krankenversicherung. Zu den Auswirkungen der Reform von 1996" gibt es nach wie vor kostenlos.

Einige Kerngedanken sind enorm aktuell: "Das mit der Krankenversicherungsreform 1996 in der Schweiz geschaffene System stößt in der deutschen Gesundheitsreformdebatte auf große Aufmerksamkeit. Die vorliegende Untersuchung zeichnet die wichtigsten Merkmale des Schweizer Modells nach und fragt, inwiefern die mit der Reform verfolgten Ziele erreicht worden sind. Dabei wird deutlich, dass die Bilanz überwiegend negativ ausfällt. … Insbesondere für sozial Schwache, aber auch für Versicherte mit Einkommen knapp oberhalb der staatlichen Subventionsgrenze können sehr hohe finanzielle Belastungen entstehen. … Auch das Ziel der Ausgabendämpfung ist klar verfehlt worden, weist die Schweiz doch anhaltend hohe Steigerungsraten bei den Gesundheitsausgaben und insbesondere bei den Kopfprämien auf. Offenkundig hat der hohe Stellenwert der individuellen Kostenbeteiligung nicht zu einer Begrenzung der Krankenversicherungsausgaben geführt, sondern geht mit hohen Ausgabensteigerungen einher. Diese wiederum sind vor allem auf fortbestehende Strukturprobleme im Finanzierungs- und Versorgungssystem zurückzuführen."

Bernard Braun, 21.11.09


Womit können Therapietreue und Wirtschaftlichkeit verbessert werden?: "Weniger Zuzahlungen verbessern die Therapietreue!"

Artikel 1660 Die regelmäßig provozierten und dann mit entsprechender öffentlichen Resonanz geführten Debatten über "Rationierung" bzw. die atmosphärisch angenehmere "Priorisierung" werden in vielfacher Hinsicht unseriös, einseitig und unter Vernachlässigung wichtiger Aspekte geführt. Dies fängt dort an, wo explizit oder implizit der Eindruck erweckt wird, "Rationierung" sei der Wegfall jeglicher, d.h. auch für die Gesundheit völlig unnötiger Leistung und nicht nur der medizinisch notwendigen.

Es endet dort, wo nicht ernsthaft die Verschwendung und Ineffizienz bilanziert und in Rechnung gestellt werden, die durch die medizinisch unnötige und ungerechtfertigte Über- oder Fehlversorgung mit medizinischen Leistungen und fehlerhafte Behandlungen entstehen. Rein monetäre Schätzungen reichen z.B. für die USA im Jahr 2007 (siehe dazu den Bericht "Waste and inefficiency in the health care system - Clinical care: A comprehensive Analysis in support of system-wide improvements" des Non-Profit-"New England Healthcare Institute") bis zu einem Drittel der laufenden Gesundheitsausgaben.
Ignoriert oder unterbewertet werden aber auch die gesundheitlichen und finanziellen Folgen der weit verbreiteten fehlenden oder mangelnden Therapietreue, Compliance oder Adherence zahlreicher PatientInnen.

In den USA nehmen nach aktuellen Schätzungen zwischen einem Drittel und der Hälfte der PatientInnen Arzneimittel so ein, wie es ihnen ihr Arzt empfohlen hat. Unabhängig von der Frage, warum sie dies machen, ob ihnen vom Arzt also ausreichend oder verständlich genug die Art und Umstände der Therapie erklärt wurden oder sie sich nach Lektüre von Beipackzetteln und Gesprächen mit anderen PatientInnen gegen die Einnahme eines Medikaments entschlossen haben, führt solches Verhalten im Arzneimittelbereich dazu, dass rund 13% aller Gesundheitsausgaben zum Teil buchstäblich in den Müll geworfen werden.

Mit welchen Strategien und Mitteln die Therapietreue bei gesundheitlich notwendigen Leistungen erreicht werden könnte und damit erst wirksame Leistungen finanziert würden, untersuchte nun das bereits erwähnte "New England Healthcare Institute". In der knappen Literaturübersicht "Thinking Outside the Pillbox" fasst das Institut die wesentlichen Erkenntnisse so zusammen:

• Es gibt keine einfachen Lösungen, da für die Therapietreue oder -untreue eine Menge von Faktoren und Bedingungen verantwortlich sind. Dazu zählen u.v.a. die Kosten, der Umfang der Einnahme von Medikamenten, das Krankheitsverständnis der Patienten, ihre Vergesslichkeit und kognitiven Fähigkeiten, kulturelle Einstellungen, mangelhafte Einnahmeregeln.

• Viele der empfohlenen oder praktizierten Mitteln zur Verbesserung der Therapietreue haben keinen wissenschaftlich seriösen Wirksamkeitsnachweis.

• Zu den Mitteln, deren Wirksamkeit bzw. Evidenz in randomisierten, kontrollierten Studie nachgewiesen wurden, zählen: technisch verbesserte Einnahmeregeln und -hilfen, eine hochwertige und mehrdimensionele Information und Weiterbildung für Patienten, die Integration von Adherence in Case Management-Systeme, eine stärkere Orientierung am Gesamtverhaltenstyp und den Präferenzen des individuellen Patienten, eine verbesserte Übersicht des Arztes über die Gesamtbehandlung seiner Patienten, vermehrter Einsatz von Erinnerungs- und Monitoringtechniken. Für die empirische Wirkung dieser Interventionen finden sich in der Übersicht einige Belege.

• Einen nachweisbar hohen und von den bisher genannten Faktoren weitgehend unabhängigen Einfluss haben die von den PatientInnen zu zahlenden Zuzahlungen. Hier gehen einige Ökonomen in den USA davon aus, dass höhere Kosten die Therapietreue verschlechtern und im Umkehrschluss, eine Senkung der z.B. durch Zuzahlungen entstehenden Kosten die Therapietreue verbessere und damit wirtschaftlich und gesundheitlich günstiger ist - ein insbesondere für die Kenner der gesundheitsökononomischen Erwartungen deutscher Experten und Politiker an die Steuerbarkeit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch Zuzahlungen verblüffendes Argument. Und dass es sich dabei nicht um theoretische Spekulationen über die Preiselastizität der Nachfrage handelt, zeigt die Zusammenfassung der wenigen praktischen Versuche, diese Annahme zu verifizieren: "Many corporations are now seeking to improve adherence and reduce unnecessary medical spending by employing value based insurance design (VBID) plans that lower employee contributions and out-of-pocket costs for cost effective medications for chronic disease. Experts suggest that lowering medication co-payments for specific chronic conditions can be linked to improved medication possession ratios."

Einige Beispiele, dass mit diesem Mittel tatsächlich Verbesserungen der Adherence z.B. zwischen 7 und 14% erreichbar sind, findet sich in der 2008 in der Zeitschrift "Health Affairs" (Health Affairs, 27, no. 1 (2008): 103-112) veröffentlichten Studie "Impact Of Decreasing Copayments On Medication Adherence Within A Disease Management Environment" von Chernew et al. Von diesem Aufsatz gibt es allerdings kostenlos und für Nichtabonnenten der Zeitschrift nur ein Abstract. Für die Behandlung des Diabetes und einiger anderer chronischer Krankheiten stellt die u.a. durch ein Pharmaunternehmen gesponserte und komplett kostenlos erhältliche Studie "Value-Based Insurance Designs for Diabetes Drug Therapy" weitere empirische Ergebnisse vor.

Zum Kontext dieser Untersuchungen zum Zusammenhang von Zuzahlungen, Therapietreue und Behandlungsnutzen eignet sich auch der Forumsbeitrag "Selbstbeteiligungen und kein Ende: Was lange währt, ist keineswegs immer gut" sehr gut.

Der Literaturreview über die Herausforderungen und Mittel, die Therapietreue zu verbessern mit dem Titel "Thinking Outside the Pillbox. A System-wide Approach to Improving Patient Medication Adherence for Chronic Disease" ist im August 2009 als NEHI-Research erschienen und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 8.11.09


Gutachten "zur Überwindung des zweigeteilten Krankenversicherungsmarktes" oder wie zukunftssicher ist die PKV?

Artikel 1637 Die seit einiger Zeit mit hochkarätiger Beteiligung geführte Debatte über die Existenzberechtigung der PKV bzw. die weltweit fast einmalige Koexistenz einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für knapp 90% der deutschen Bevölkerung und einer privaten Voll-Krankenversicherung (PKV) für rund 8% BürgerInnen ist weiterhin virulent.
Dafür sorgte gerade die zitierte spekulative Formulierung im Magazin "Focus" über ein angeblich vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten zu den Möglichkeiten, die PKV abzuschaffen.
Auch wenn das BMG bereits dementierte, dieses Gutachten mit diesem Ziel einholen zu wollen, bestätigt sein Sprecher aber immerhin, es solle überprüft werden ob und wie nach den letzten Gesetzen und Urteilen künftig "gegebenenfalls Rücksicht auf schutzwürdige Positionen von Versicherern und Versicherten genommen werde müsse". Das kann man mit Verlaub auch als Auftrag interpretieren, Positionen zu finden, die nicht schutzwürdig sind.

Egal was das BMG von dem Gutachten erwartet oder mit seinen Ergebnissen machen will: Der seit der Verabschiedung des "Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (WSG)" im Jahr 2007 befürchtete empirische Erosionsprozess der PKV findet bisher in einem wichtigen Punkt nicht statt.

Nach Recherchen des "Tagesspiegels" vom 6.9.2009 und Angaben des Verbands der privaten Krankenversicherungsunternehmen hatten am 1. Juli 2009 insgesamt 9.800 Versicherte den so genannten Basistarif gewählt. Der Wechsel von einer anderen Versicherung in einen Basistarif eines PKV-Unternehmens ist verschwindend gering: Bei der DKV machten dies bislang gerade einmal zwei, bei der Debeka 16 Menschen.
Entgegen allen Unkenrufen und Befürchtungen, die u.a. zu mehreren Verfahren privater Krankenversicherer vor dem Bundesverfassungsgericht geführt hatten, scheinen damit die durch das WSG von 2007 eingeführten Wahlmöglichkeiten kaum angenommen worden zu sein.

Nach einigen kleineren Anläufen in den letzten 30 Jahren, das Nebeneinander und Gegeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu regulieren und Wettbewerbsnachteile der GKV zu mildern, veränderte erst das WSG eine Reihe grundsätzlicher und seit Jahrzehnten beklagten wettbewerbswidrigen Bedingungen für die PKV.

Die Reform verpflichtete die PKV-Unternehmen, ab 1. Juli 2007 einen modifizierten Standardtarif und ab 1. Januar 2009 einen Basistarif anzubieten, der nicht teurer sein darf als der teuerste Tarif bei einer gesetzlichen Kasse, aber dann auch nur die GKV-Leistungen umfasst. Um die im selben Gesetz eingeführte Krankenversicherungspflicht realisieren zu können, dürfen außerdem Antragsteller für eine PKV-Mitgliedschaft dort nicht wegen Krankheiten oder aus Altersgründen abgelehnt werden - es besteht also Kontrahierungszwang.. Weiterhin muss die Branche beim Wechsel eines Versicherten zu einer anderen privaten Versicherung die Übertragbarkeit eines Teils seiner Altersrückstellungen vom alten in das neue Unternehmen und die Verlängerung der Sperrfristen beim Wechsel von einer gesetzlichen in eine private Versicherung (seit dem 2. Februar 2007 belaufen sich diese auf drei Jahre) akzeptieren.
Außerdem besteht seit dem 1. Januar 2009 für alle substitutiven Krankenvollversicherungen, also auch die in der PKV, ein absolutes Kündigungsverbot.

Der auch für die PKV geltende Kontrahierungszwang im Basistarif spiegelt sich versicherungsvertragsrechtlich in § 193 Abs. 5 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) wider, der einen privatrechtlichen Anspruch auf Abschluss eines Vertrages im Basistarif einräumt. Die Vorschrift lautet: "Der Versicherer ist verpflichtet, 1. allen freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten a) innerhalb von sechs Monaten nach Einführung des Basistarifes, b) innerhalb von sechs Monaten nach Beginn der im Fünften Buch Sozialgesetzbuch vorgesehenen Wechselmöglichkeit im Rahmen ihres freiwilligen Versicherungsverhältnisses, 2. allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig sind, nicht zum Personenkreis nach Nummer 1 oder Absatz 3 Satz 2 Nr. 3 und 4 gehören und die nicht bereits eine private Krank- heitskostenversicherung mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben, die der Pflicht nach Absatz 3 genügt, 3. Personen, die beihilfeberechtigt sind oder vergleichbare Ansprüche haben, soweit sie zur Erfüllung der Pflicht nach Absatz 3 Satz 1 ergänzenden Versicherungsschutz benötigen, 4. allen Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die eine private Krankheitskostenversicherung im Sinn des Absatzes 3 mit einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen vereinbart haben und deren Vertrag nach dem 31. Dezember 2008 abgeschlossen wird, Versicherung im Basistarif nach § 12 Abs. 1a des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu gewähren."

Die dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht erhobenen Verfassungsklagen wurden mit dem Urteil vom 10. Juni 2009 im Grunde abgelehnt und die Verfassungsmäßigkeit dieser WSG-Bestimmungen bestätigt.
In drei der vier Leitsätze des Urteils kommt dies so zum Ausdruck: "1. Die Einführung des Basistarifs durch die Gesundheitsreform 2007 zur Sicherstellung eines lebenslangen, umfassenden Schutzes der Mitglieder der privaten Krankenversicherung ist verfassungsgemäß. 2. Der Gesetzgeber durfte zur Erleichterung des Versicherungswechsels und zur Verbesserung des Wettbewerbs in der privaten Krankenversicherung die teilweise Portabilität der Alterungsrückstellungen vorsehen. 3. Die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenkasse darf auf ein dreijähriges Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze ausgedehnt werden."

Das Vorgehen des Gesetzgebers, darunter auch Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit der PKV, sieht das Gericht durch "beachtliche Gemeinwohlinteressen" gerechtfertigt: "Für das im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz formulierte Ziel, allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung zu sichern, kann sich der Gesetzgeber auf das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG berufen. Der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates. Die gesetzgeberische Absicht, einen Krankenversicherungsschutz für alle Einwohner zu schaffen, ist von dem Ziel getragen, ein allgemeines Lebensrisiko abzudecken, welches sich bei jedem und jederzeit realisieren und ihn mit unabsehbaren Kosten belasten kann. Es ist ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die für die Abdeckung der dadurch entstehenden Aufwendungen notwendigen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung sicherzustellen."
Allerdings unterstrich das Bundesverfassungsgericht auch, der Gesetzgeber habe eine "Beobachtungspflicht im Hinblick auf die Folgen der Reform für die Versicherungsunternehmen und die bei ihnen Versicherten", und dabei den Weiterbestand der PKV im Auge zu haben.

Um unnötigen Streit über die Ernsthaftigkeit einer "Beobachtungspflicht" zu verhindern, konkretisierte das Gericht seine Vorstellungen, welche Folgen für wen wie verhindert werden sollen in einer anderen Entscheidung vom selben Tag.

Konkret bedeutet dies zweierlei:

• Das absolute Kündigungsverbot "verstößt auch bei den beschwerdeführenden kleineren Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit nicht gegen Art. 9 Abs. 1 GG", der Vereinigungsfreiheit. Auch wenn damit der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit betroffen ist, ist "dieser Eingriff … jedoch auch bei kleineren Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit in gleichem Maße wie bei großen Versicherern grundsätzlich zum Schutz anderer Schutzgüter mit Verfassungsrang aus Gründen des gemeinen Wohls gerechtfertigt."
• Da der "kleinere Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit … auf einen sachlich, örtlich oder dem Personenkreis nach eng begrenzten Wirkungskreis gesetzlich beschränkt (ist)" und sich "diese Beschränkung … in der ihm erteilten Erlaubnis fort(setzt)", würde ein Kontrahierungszwang dazu führen, dass "eine größere Zahl von Personen bei ihnen um Versicherung im Basistarif nachsuchen würde" und damit "die beim kleineren Versicherungsverein gewollte und vom Gesetz vorausgesetzte Beschränkung auf einen bescheidenen Geschäftsbetrieb aufgegeben" werden müsste. Die Kollision von allgemeinen Kontrahierungszwang und Beschränkung der Geschäftstätigkeit löst das Bundesverfassungsgericht insofern "verfassungskonform" als "dass die kleineren Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dem allgemeinen Kontrahierungszwang im Basistarif nicht unterworfen sind." Dies gilt allerdings auch für diese Art von PKV-Unternehmen nur für Nichtmitglieder also Interessenten für eine Mitgliedschaft.

Bernard Braun, 7.9.09


Wie viele Krankenkassenmitarbeiter gibt es? Und was kosten sie die Versicherten? Daten zum Mythos aufgeblähte Verwaltungsausgaben

Artikel 1628 Durch die rasch anwachsende und auch politisch gewollte Welle von Fusionen schrumpft derzeit die Anzahl gesetzlicher Krankenkassen rasanter als dies zuletzt mit den Instrumenten des Wettbewerbsstärkungsgesetz beabsichtigt war (Stand Februar 2009: 193). So unken selbst einige Zauberlehrlinge des Wettbewerbs von einer nicht mehr weit entfernten Gefahr eines Oligopols weniger Großkassen. Trotz der schon seit vielen Jahren stattfindenden Verringerung der Kassenzahl (z.B. 1999=459) gehört die Kritik an den zu hohen Verwaltungskosten der GKV zum stabilen Kernbestand der GKV-Mythen.

Die oft im Ärztelager oder in den Chefetagen der privater Krankenversicherungsunternehmen zu findenden Ankläger von angeblich durch "Verwaltungspaläste", Scharen von unkündbaren Verwaltungsangestellten und Vorstandsboni der gesundheitlichen Versorgung schwerkranker Patienten vorenthaltenen Riesensummen, vergessen häufig, genaue Daten zu sagen.

Wer sich dafür interessiert, kann relativ aktuelle Daten in dem Bericht "Gesetzliche Krankenversicherung. Personal- und Verwaltungskosten 2007 (Ergebnisse der GKV-Statistiken KG1/ 2007 und KJ1/ 2007)" des Bundesministeriums für Gesundheit vom 28. Januar 2009 finden.

Die wesentlichen Informationen des 14 Seiten umfassenden Berichts lauten:

• Die 2007 existierenden gesetzlichen Krankenkassen beschäftigten insgesamt 137.513 Personen (ohne Eigenbetriebe). Davon waren 133.603 in der Verwaltung und noch 79 Beamte und 11.860 beamtenähnliche so genannte DO-Angestellte. Die restlichen Beschäftigten Tarifangestellte. Hinzu kamen noch 5.027 Beschäftigte in Eigenbetrieben.
• Je 1.000 Versicherte waren dies 1,96 Kassenmitarbeiter. Diese Relation schwankte zwischen 2.98 bei der Knappschaft (deren Mitarbeiter sind aber mit Fragen sämtlicher Sozialversicherungsträgern befasst) und 1,36 bei den Arbeiterersatzkassen. Der Wert für die AOKen lag bei 2,25.
• Sämtliche persönliche Verwaltungskosten der GKv betrugen 2007 absolut 7.109.545.129 Euro und stiegen gegenüber 2006 um 0,2%. Je Mitglied waren dies 140,11 Euro und dieser Betrag nahm gegenüber 2006 um 0,34% ab. Die sächlichen Verwaltungskosten beliefen sich 2007 auf 2.085.410.869 Euro. Dieser Betrag erhöhte sich gegenüber dem im Vorjahr um 1,6%, betrug 41,10 Euro pro Mitglied und erhöhte sich um 1,06% gegenüber 2006.
• Nimmt man die Ausgaben für eine Reihe weiterer Verwaltungsaufgaben hinzu (z.B. die für Rechtsverfolgung oder Kosten von Ausschüssen) kommt man 2007 zu Nettoverwaltungskosten von 8.180.141.593 Euro. Dieser Betrag nahm absolut von 2006 um 0,86% zu und pro Mitglied um 0,32% auf 161,21 Euro.
• Die Aufstellung ist so detailliert, dass man z.B. einen Anstieg der Aufwandsentschädigungen für Werbemaßnahmen um 45,34% im Bereich der persönlichen Verwaltungskosten findet oder die insgesamt 6.678.886 Euro, die als sächliche Verwaltungskosten für Aufwendungen für das Selbstverwaltungsorgan der Vertreterversammlung ausgegeben wurden und gegenüber 2006 um 1,82% zunahm, die Abnahme der Aufwendungen für Rehabilitations-Servicestellen nach §§ 22 bis 25 SGB IX um 2,35% auf einen absoluten Betrag von 702.605 Euro , die Zunahme der Aufwendungen für Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen um 12,57% auf den Betrag von 5.333.492 Euro. Schließlich nahmen 2007 die Kosten von Sozialgerichtsverfahren um 11,07% auf 9.959.350 Euro zu.
• Bezieht man die Nettoverwaltungskosten auf die Gesamtausgaben für Leistungen in Höhe von 144.432.734.000 Euro beträgt der Verwaltungskostenanteil 5,66%. Dies ist ein Wert leicht über dem seit Jahren um die 5,5%-Marke oszillierenden Wert.
• Im Vergleich mit anderen Sozialversicherungsträgern steht die GKV günstig da: Der Verwaltungskostenanteil an den jeweils erbrachten Leistungen beträgt etwa bei der Bundesagentur für Arbeit derzeit rund 5,9%, bei den Rentenversicherungsträgern knapp 7% und bei den Berufsgenossenschaften ca. 10%. Wesentlich höher ist die zuletzt für das Jahr 2004 ermittelte vollständige Verwaltungausgabenquote der privaten Kranken- und Pflegeversicherungen: Inklusive Abschlusskosten, aber ohne die in der GKV gewichtigen Vertrags- und Preisverhandlungskosten liegen sie nach der Gesundheitsausgabenrechnung des Statistischen Bundesamtes bei 16%.

Den Bericht "Gesetzliche Krankenversicherung. Personal- und Verwaltungskosten 2007 (Ergebnisse der GKV-Statistiken KG1/ 2007 und KJ1/ 2007)" gibt es kostenlos als PDF-Datei.

Bernard Braun, 24.8.09


Atypisch Beschäftigte nehmen 2008 weiter zu und der Verdienst von fast jedem Zweiten liegt unter der Niedriglohngrenze

Artikel 1624 Der im Forum bereits mehrfach beschriebene Trend der Zunahme atypischer Beschäftigung (u.a. zuletzt für das Jahr 2007) setzte sich nach den gerade für die Zeit von 1998 bis 2008 vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Daten ungebremst fort. Damit veränderte sich nicht nur die soziale Situation der atypisch beschäftigten Personen, sondern auch die Einnahmesituation der Sozialversicherungsträger, deren Beiträge sich immer noch auf das Bruttoeinkommen beziehen.

Nach den Ergebnissen des Mikrozensus arbeiteten 1998 noch 72,6% aller Beschäftigten in einem so genannten Normalarbeitsverhältnis, was 2008 nur noch für 66% zutraf. Der Anteil atypischer Beschäftigungsformen stieg im gleichen Zeitraum von 16,2% auf 22,2%.
Unter einem Normalarbeitsverhältnis wird ein Beschäftigungsverhältnis verstanden, das voll sozialversicherungspflichtig, mit mindestens der Hälfte der üblichen vollen Wochenarbeitszeit und mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag ausgeübt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat, was bei Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern nicht der Fall ist. Von atypischen Beschäftigungsformen wird gesprochen, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt sind. Dazu zählen neben der Zeitarbeit, Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Stunden Arbeit pro Woche, geringfügige Beschäftigungen sowie befristete Beschäftigungen.

Unabhängig von der von einigen Protagonisten der atypischen Beschäftigung erwarteten verbesserten Flexibilität der atypisch Beschäftigten und des damit angeblich verbundenen Vorteils für ihre langfristigen Beschäftigungschancen - zum Teil unbewiesen, zum Teil widerlegt - gibt es durch die niedrigeren Einkommen dieser Beschäftigtengruppe systematisch soziale Nachteile. Diese werden wenig kommuniziert und ihre Quantität ist häufig auch unbekannt.

Mit den jetzt vom Statistischen Bundesamt vorgelegten Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung, die zuletzt 2006 durchgeführt wurde, existiert eine solide quantitative Basis für die weitere Debatte. Vorgelegt wurden die Angaben der Personen im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren, soweit sich diese nicht in Bildung oder Ausbildung befinden.

Nach dieser amtlichen Erhebung erhielt fast jeder zweite atypisch Beschäftigte (49,2%) einen Bruttostundenlohn unter der Niedriglohngrenze. Die Niedriglohngrenze wurde nach international angewendeten Kriterien der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) errechnet. Demnach gilt der Stundenlohn einer Person als Niedriglohn, wenn er weniger als zwei Drittel des Medians aller erfassten Bruttostundenlöhne beträgt. Der Median ist der Wert, der alle erfassten Bruttostundenlöhne genau in zwei Hälften teilt. Im Jahr 2006 lag die so berechnete Niedriglohngrenze bei 9,85 Euro.

Die Anzahl der Angehörigen der einzelnen Gruppen atypischer Beschäftigung welchen lediglich den Niedriglohn verdienten sah im einzelnen so aus:

• Bei der größten Gruppe der atypisch Beschäftigten, den Teilzeitbeschäftigten mit wöchentlich 20 oder weniger Stunden, erhielten knapp ein Fünftel (19,5%) einen Niedriglohn.
• Befristet Beschäftigte hatten ein Niedriglohnrisiko von 36,0%.
• Am stärksten waren 2006 die geringfügig Beschäftigten (81,2%) von Niedriglöhnen betroffen.
• Auch die Zeitarbeit (67,2%) war häufig mit einem Niedriglohn verbunden.

Somit lag für alle Kategorien atypisch Beschäftigter das Niedriglohnrisiko deutlich höher als für Personen in einem Normalarbeitsverhältnis. Der Vollständigkeit halber sei aber festgehalten, dass Niedriglohn nicht nur ein Problem der atypisch Beschäftigten ist: "Immerhin 11,1% der Normalarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer bekamen 2006 auch einen Niedriglohn. Das waren von den nahezu 19 Millionen Beschäftigten, über die die Verdienststrukturerhebung repräsentative Aussagen macht, 1,6 Millionen Normalbeschäftigte mit einem Stundenverdienst unter der Grenze von 9,85 Euro. Berücksichtigt man, dass Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten und insbesondere die Wirtschaftsabschnitte Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Öffentliche Verwaltung sowie Private Haushalte durch die Erhebung nicht abgedeckt sind, dürfte die Zahl der Niedriglohnbezieher noch höher liegen."
Berücksichtigt man weiter, dass 42,6% der Niedriglohnbezieher in einem Normalarbeitsverhältnis arbeiten, scheint das typisch us-amerikanische Phänomen der "working poor" voll in Deutschland angekommen zu sein. Unter allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland lag der Niedriglohnanteil bei 20,0%.

Auch wenn in Deutschland u.a. wegen der Möglichkeit soziale Transferleistungen zu erhalten ein Niedriglohn aus Erwerbstätigkeit nicht zwingend zu Armutsgefährdung führt, zeigt sich bei Auswertungen des Mikrozensus für 2008: Atypisch Beschäftigte nach EU-Definition sind deutlich häufiger armutsgefährdet (14,3%) als Personen in einem Normalarbeitsverhältnis (3,2%). Insgesamt waren in Deutschland 2008 6,2% aller Erwerbstätigen armutsgefährdet.

Das bei einer Pressekonferenz des Statistischen Bundesamt am 19. August 2009 vorgelegte, 27 Seiten umfassende statistische Material zum Thema "Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit", kann kostenlos bezogen werden und enthält eine Fülle weiterer Angaben zum gruppenspezifischen Umfang, Art und zur Betroffenheit von atypischer Beschäftigung und niedrigem Einkommen.

Bernard Braun, 19.8.09


Wissenschaftler: Das deutsche Krankenversicherungs - System mit privater und gesetzlicher Kasse ist in Europa heute die Ausnahme

Artikel 1612 Der Fuldaer Gesundheitsökonom Prof. Dr. Stefan Greß und die Dr. Simone Leiber und Maral Manouguian vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung Forscherinnen zeigen in einer jetzt veröffentlichten Studie, dass Deutschland mit seinem Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenvollversicherung in Europa mittlerweile eine Ausnahme ist. In den Niederlanden, dem letzten europäischen Land mit einer ähnlichen Aufteilung des Krankenversicherungsmarktes, wurden beide Versicherungssysteme im Jahr 2006 integriert. Unter den entwickelten Industriestaaten verfügen nur noch die USA über vollkommen unterschiedliche Versicherungssysteme für die Krankenvollversicherung.

Für eine Abkehr von der jetzt in Deutschland noch heftig verteidigten "dualen" Struktur gibt es nach Einschätzung der Forscher gute Gründe, weil sie die Effizienz und Gerechtigkeit im Krankenversicherungssystem nachhaltig schwächen:
• Es gibt Anreize zum Ausstieg aus dem Solidarsystem. Die für Versicherte mit hohem Einkommen, Selbstständige und Beamte bestehende Möglichkeit, aus der gesetzlichen (GKV) in die private Versicherung (PKV) zu wechseln, führt zu einer "negativen Auslese". Insbesondere gesunde junge Singles mit hohen Einkommen entziehen sich dem gesetzlichen Solidarsystem. Personen mit mittleren oder unteren Einkommen, chronisch Kranke und Versicherte mit vielen Kindern bleiben in der GKV.
• Begünstigt wird eine "Zwei-Klassen-Medizin": PKV-Versicherte genießen oft eine Vorzugsbehandlung: Sie kommen beim Arzt schneller dran und werden ausführlicher beraten, wie viele Studien zeigen. Mit Blick auf diese Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsleistungen warnen die Experten: Es bestehe "die massive Gefahr von Unter- und Fehlversorgung, durch die vermeidbare gesundheitliche Schäden entstehen. Gleichzeitig besteht die Gefahr der Überversorgung von privat versicherten Patienten". Die Ungleichbehandlung sei eine Folge der unterschiedlichen Abrechnungssysteme für ärztliche Leistungen: Mediziner verdienen an Privatpatienten, für die sie alle Einzelleistungen ohne Mengenbegrenzung abrechnen können, besser als an Kassenpatienten - ein Grund für das starke Ausgabenwachstum der PKV. Die Behandlung von Kassenpatienten wird mit einem Mix aus Fallpauschalen und gedeckelten Einzelvergütungen entlohnt.

Die technisch einfachste Möglichkeit, die Defizite des aktuellen Systems zu beheben, bestünde den Wissenschaftlern zufolge darin, alle Bürger zur Mitgliedschaft in der GKV zu verpflichten und privaten Anbietern nur das Feld der Zusatzversicherungen zu überlassen. Dies sei jedoch politisch wenig realistisch. Und es würde Unternehmen hart treffen, die ausschließlich diese Versicherungssparte betreiben und in der Vergangenheit wenig in den Markt für Zusatzversicherungen investiert haben. Für leichter umsetzbar halten die Wissenschaftler ein Modell, in dem für alle Krankenversicherungen die gleichen Regeln gelten. So gäbe es keine systematischen Wettbewerbsvor- oder -nachteile für einen bestimmten Versicherungstyp. Ein solches Modell wäre auch mit dem neu eingeführten Gesundheitsfond vereinbar.

Der Staat würde dann einen Mindestkatalog der von der Standardversicherung abzudeckenden medizinischen Leistungen vorgeben. Den Versicherungsträgern stünde es frei, ihren Mitgliedern weitere, extra zu bezahlende Leistungen anzubieten. Die Existenzberechtigung privater Krankenversicherer würde in diesem Modell nicht infrage gestellt, betonen die Wissenschaftler. Um diesen Ansatz zu verwirklichen, wären einige grundlegende Korrekturen am Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungen nötig:
• Privat Versicherte würden künftig einkommensabhängige Beiträge an den Gesundheitsfonds leisten.
• Auch die privaten Versicherungen bekämen Zahlungen für ihre Mitglieder aus dem Gesundheitsfonds.
• Das Abrechnungssystem für ärztliche Leistungen müsste vereinheitlicht werden - nach Möglichkeit aufkommensneutral.

• Abstract des Aufsatzes: Stefan Greß, Simone Leiber, Maral Manouguian: Integration von privater und gesetzlicher Krankenversicherung vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen
• Inhaltsverzeichnis WSI Mitteilungen 7/2009, Schwerpunktheft: "Zukunft der Sozialversicherung - Sozialversicherung der Zukunft"
• Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung: Gesundheitsforscher: Reformschritte für fairen Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen

Gerd Marstedt, 20.7.09


Ausgaben und Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens aktuell - ein weiteres Stück Gesundheitsberichterstattung.

Artikel 1579 Aus der kruden Perspektive der "Lohnnebenkosten" sind die Gesundheitsausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Jahrzehnten zu hoch, aus Sicht der niedergelassenen Ärzte ist entweder zu wenig Geld "im System" oder muss explizit rationiert werden und die Protagonisten und Propagandisten des "Jobmotors" Gesundheitswirtschaft sehen außerhalb der GKV-Gesundheitsversorgung Milliardeneinnahmen ungehoben liegen.

Wie es mit den Ausgaben für Gesundheit und deren Finanzierung wirklich aussieht war noch nie einfach zu verstehen; nicht zuletzt wegen der massiven, mächtigen und persistenten Mythen ŕ la "Kostenexplosion" und "Gefährdung des Wirtschaftsstandortes durch Lohnnebenkosten".

Das im Mai 2009 veröffentlichte Heft Nr. 45 der "Gesundheitsberichterstattung des Bundes" liefert in kompakter Weise einen aktuellen Überblick, der in den zahllosen Debatten u.a. über die eingangs zitierten Parolen und Forderungen nützlich sein kann.

Zu den Kernergebnissen dieses Bandes gehören:

• "In den zwölf Jahren von 1995 bis 2006 haben sich die Gesundheitsausgaben um 58,5 Milliarden Euro auf 245 Milliarden Euro erhöht", ein Anstieg, der den Mythos von der "Kostenexplosion" früher wie heute als Faktum erscheinen lässt. Dahinter verschwindet die Tatsache, dass die Ausgaben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt nicht überproportional gestiegen sind: "Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag in den letzten Jahren zwischen 10,1 % und 10,8 %." Nicht bewegter ging es bei den Leistungsausgaben der GKV zu, die sich seit Ende der 1970er Jahre stets irgendwo zwischen einem Anteil am BIP von 6% bis 6,5% (2007: 6,3%) hin und her bewegte.
• Der wichtigste Ausgabenträger ist die GKV, bei der rund 88 % der deutschen Bevölkerung versichert sind und die ca. 57 % der Gesundheitsausgaben trägt.
• Die Bedeutung von privat finanzierten Leistungen nimmt stetig zu.
• Ärztliche Leistungen sowie die Waren des Gesundheitswesens - also Arzneimittel, Hilfsmittel, Zahnersatz und sonstiger medizinischer Bedarf - sind die ausgabenmäßig bedeutendsten Leistungsarten. Die kostenintensivste Einrichtung sind die Krankenhäuser.
• Im internationalen Vergleich liegt Deutschland beim Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt im oberen Drittel und bei den Ausgaben je Einwohner im Mittelfeld der OECD-Staaten.
• Seit 1995 hat sich die Struktur der Finanzierung im Gesundheitswesen zu Gunsten der öffentlichen Haushalte sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und zu Lasten der privaten Haushalte/privaten Organisationen ohne Erwerbszweck verschoben. Die Finanzierung aus Bundesmitteln wird zukünftig an Bedeutung gewinnen.
• 2006 gaben die privaten Haushalte 5,3 Milliarden Euro für Zuzahlungen zu GKV-Leistungen aus. Für Arzneimittel sowie die ärztliche Behandlung mussten dabei die meisten Zuzahlungen geleistet werden. Die Eigenbeteiligung der privaten Haushalte an den Gesundheitsausgaben in Deutschland entspricht dem Niveau der Nachbarstaaten.
• "Die privaten Haushalte und privaten Organisationen ohne Erwerbszweck (o. E.) finanzierten 2006 rund 13,6 % der gesamten Gesundheitsausgaben. Die privaten Haushalte haben einen deutlichen Ausgabenanstieg zu verkraften."
• Die private Krankenversicherung hat ebenfalls überdurchschnittliche Ausgabenzuwächse. Rund 9,2 % der Gesundheitsausgaben werden von der privaten Krankenversicherung getragen.
• Eine Studie des Wissenschaftlichen Institutes der allgemeinen Ortskrankenkassen (WIdO) schätzte - basierend auf Selbstauskunft der Versicherten - den Umsatz der IGeL für 2004 auf knapp 1 Milliarde Euro.
• Für rezeptfreie und frei verkäufliche Arzneimittel zur Erhaltung der Gesundheit und zur Behandlung von Gesundheitsstörungen haben die Patientinnen und Patienten 2006 insgesamt 4,5 Milliarden ausgegeben. Von diesen Präparaten wiederum werden mehr als zwei Drittel ohne vorangegangene Arztkonsultation von den Verbraucherinnen und Verbrauchern selbst gekauft.

Das vom Robert-Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt herausgegebene Heft 45 der "Gesundheitsberichterstattung des Bundes" zum Thema "Ausgaben und Finanzierung des Gesundheitswesens" von Michael Müller und Karin Böhm umfasst 47 Seiten und ist kostenlos als PDF-Datei erhältlich.

Bernard Braun, 16.6.09


1-Eurojobs als "bedeutsamstes Instrument der Arbeitsmarktpolitik": Wenig Wirkung, viele Nebenwirkungen!

Artikel 1571 Im April 2009 gab es nach Daten der Bundesagentur für Arbeit insgesamt 270.000 Personen, die in einem so genannten 1-Euro-Job arbeiteten. Ein überproportionaler Anteil, nämlich 42% dieser Jobs entfiel auf Personen in den ostdeutschen Bundesländern. Über 200.000 dieser Berufstätigen waren Jugendliche und junge ERwachsene unter 25 Jahren. Der zeitpunktbezogene Wert verbirgt, dass die Anzahl der in einem gesamten Jahr mindestens einmal und vorübergehend in einem 1-Eurojob tätigen Personen deutlich höher liegt. 2007 waren dies 775.000 und 2008 764.000 Personen.

Dieses mit der so genannten Hartz-Gesetzgebung eingeführte Arbeitsmarktinstrument wird in zweierlei Hinsicht problematisiert:

• Es häufen sich Hinweise, dass der ursprünglich von ihm erwartete Effekt, den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern, weitgehend nicht funktioniert.
• Zweitens gibt es Anzeichen dafür, dass mit 1-Eurobeschäftigten die Beschäftigung tariflich zu bezahlender Arbeitskräfte mit entsprechenden Einkommen und entsprechenden Sozialbeiträgen umgangen wird. Diese sozialpolitische Maßnahme würde also einen der vielen kleinen aber stabilen gesetzlich induzierten Beiträge zur Erosion der Basis für die einkommensbezogene Beitragsfinanzierung der Sozialversicherungsträger leisten.

In einer kurzen Übersicht über Erkenntnisse aus der amtlichen Statistik und einer Befragung von 1-Euro-Jobbern hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Mai 2009 beide Kritikpunkte erhärtet.

Zum ersten Punkt zitiert er einen kritischen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs aus dem November 2008, in der sich dieser folgendermaßen zur Wirkung der 1-Eurojobs äußert: "Das Ziel eines rechtskonformen, zielgerichteten und wirtschaftlichen Einsatzes dieses Instrumentes ist auch in den letzten Jahren nicht erreicht worden. ... Zwei Drittel der geprüften Maßnahmen erfüllten nicht die gesetzlichen Fördervoraussetzungen. In acht und zehn beanstandeten Fällen war die Tätigkeit nicht zusätzlich … In der Hälfte der beanstandeten Fälle stand die Tätigkeit nicht im öffentlichen Interesse. ... Die Arbeitsgelegenheiten blieben aus Sicht des BRH für drei von vier Hilfebedürftigen weitgehend wirkungslos. Messbare Integrationsfortschritte waren nicht erkennbar. ... Den Grundsicherungsstellen war häufig - insbesondere bei teilnehmerstarken Maßnahmen - nicht bekannt, welche konkreten Tätigkeiten die Hilfebedürftigen ausübten."

Die Evidenz des zweiten Kritikpunkts ergibt sich aus mehreren empirischen Untersuchungen über die sozialen Merkmale der 1-Eurojobber und der ihnen zugewiesenen Tätigkeiten.

Dabei sind folgende Merkmale sichtbar geworden:

• "68 Prozent der Teilnehmenden (besaßen) eine Berufsausbildung bzw. einen Hochschulabschluss." Dies spricht dafür "dass die Teilnehmenden durchaus qualifizierte Tätigkeiten verrichten können, die regulärer Beschäftigung nahe kommen bzw. solcher entsprechen. Auch das IAB kommt in einer Untersuchung (aus dem Jahr 2007) zu dem Schluss, dass die Hälfte der 1-Euro-Jobber fit ist für den ersten Arbeitsmarkt und 1-Euro-Jobs reguläre Beschäftigung 'in nicht zu vernachlässigendem Umfang' ersetzen."
• "Dementsprechend gibt auch in der PASS-Befragung (Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung) fast jede/r zweite Befragte (45 Prozent) im 1-Euro-Job an, das Gleiche gemacht zu haben, wie festangestellte Kolleginnen und Kollegen. Jede/r vierte Befragte sagt, dass für die Tätigkeit im 1-Euro-Job eine abgeschlossene Ausbildung erforderlich gewesen sei. Demnach könnte zumindest ein Viertel der 1-Euro-Jobs einer regulären Beschäftigung entsprechen, also eine Tätigkeit sein, für die eine Berufsausbildung notwendig ist, die von einem Teilnehmenden mit Berufsausbildung gemacht wurde, der das Gleiche gemacht hat, wie Festangestellte."

Die PASS-Befragung erfasst 332 im 1-Euro-Job Beschäftigte sowie 900 Personen mit 1-Euro-Job Erfahrung. Insgesamt wurden 19.000 Personen über den Zeitraum erstes Halbjahr 2005 bis erstes Halbjahr 2007 befragt, davon 9.386 mit ALG II Leistungsbezug.

Die in der Reihe "Arbeitsmarkt aktuell" des DGB erschienene zehnseitige Studie "Praxis und neue Entwicklungen bei 1-Eurojobs" ist kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 1.6.09


Ungleich, ungleicher, Vermögensverteilung in Deutschland - Wie schwer hätte es eine Bürgerversicherung aktuell?

Artikel 1469 Glaubt man den letzten Wahlergebnissen und den Prognosen ist zwar bei der Bundestagswahl im September 2009 eine parlamentarische Mehrheit für die Einführung der vor der letzten Bundestagswahlen u.a. von der SPD, den Grünen und den Gewerkschaften debattierten Bürgerversicherung (vgl. dazu und zur Debatte über das Kopfpauschalenmodell der CDU die umfassende Quellensammlung der Arbeitnehmerkammer Bremen), die durch Beiträge auf Erwerbseinkommen und Einkünften aus Vermögen finanziert werden sollte, eher unwahrscheinlich.

Trotzdem ist ein regelmäßiger Blick auf die Entwicklung der Vermögensverteilung und der Einkünfte aus Vermögen und Investitionen in zweifacher Hinsicht aus Sicht der möglichen künftigen Finanzierung der Gesundheitsversorgung interessant und wichtig: Zum einen zeigt er die relative Verringerung der Finanzierung aus Erwerbseinkommen und damit auch selbst bei sonst unveränderten Umständen eine schwächer werdende erwerbseinkommenbezogener Finanzierungsbasis der Sozialversicherungsträger. Zum zweiten kann daran aber auch ermessen werden, welcher Widerstand gegen Pläne zu erwarten sein würde, die Einkünfte aus Vermögen zur Finanzierung von Sozialversicherungsträger "verbeitragen" zu wollen.

Wie der bereits ausführlicher im Forum-Gesundheitspolitik vorgestellte "Verteilungsbericht 2008 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung zeigte, sind die Einkommen aus Gewinnen und Vermögen in Deutschland brutto wie netto noch einmal gestiegen und erreichten 2008 einen historischen Spitzenwert: 2007 machten sie netto 34 % des privat verfügbaren Volkseinkommens aus, im ersten Halbjahr 2008 waren es 35,8 %. 1960 hatte diese Einkommensart noch einen Anteil von 24,4 %, 1990 waren es 29,8 % und im Jahr 2000 lag die Quote bei 30,8 %. Besonders stark wuchsen dabei zuletzt die Unternehmensgewinne und vor allem die Gewinne von Produktionsunternehmen. Da nach den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) lediglich rund vier Prozent der Erwachsenen in Deutschland Betriebsvermögen besitzen, kommen die Gewinne einem sehr kleinen Personenkreis zu gute.

Der Wochenbericht 4/2009 vom 21. Januar 2009 des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DWI)" beschäftigt sich u.a. mit der Entwicklung der Vermögensverteilung und deren Stand im Jahr 2007.
Auf einem bereits hohen Niveau der Ungleichverteilung wird nach Berechnungen auf der Datenbasis des "Sozioökonomischen Panels (SOEP)" die Verteilung immer ungleicher: Im Jahr 2002 besaß das oberste Fünftel der deutschen Bevölkerung 76,9 % allen Vermögens, 2007 schon 80,1 %. Diese schon beeindruckende Konzentration des Vermögens wird noch deutlicher wenn man sieht, dass das oberste Zehntel 2002 57,9 % und 2007 61,1 % des gesamten Vermögens in der Bundesrepublik Deutschland besaß.

Dieser Vermögensbesitzer-Spitze stehen an der anderen Seite der Vermögensverteilung 27 % der Bevölkerung gegenüber, die kein Vermögen oder sogar "Negativvermögen", d.h. Schulden haben. So war es beim untersten Zehntel der Bevölkerung, das 2002 Schulden hatte, die einem Umfang von 1,1 % am Gesamtvermögen entsprachen, ein Wert, der 2007 bereits 1,6 % betrug.

Ein wesentlicher Treibsatz dieser ungleichen Entstehung von Vermögen sind die relativ hohen und noch wachsenden Einkommen der Spitzenverdiener, die daraus auch wesentlich mehr sparen können als die Bezieher niedrigerer Einkommen. So betrug 2003 die Sparquote der Personen mit einem durchschnittlichen Netto-Monatseinkommen von 8.868 € 22,2 %. Wer netto 3.061 € pro Monat verdiente sparte 9,8 % und Personen mit weniger als rund 1.200 € konnten gar nichts sparen bzw. hatten eine "Entsparquote" von -13 % (bei einem Monatseinkommen von 699 €).

Zur Höhe des privaten Vermögens stellte einer der DIW-Autorinnen fest: "Im Jahr 2007 betrug das Nettovermögen nach Abzug von Hypotheken und Konsumentenkrediten etwa 6,6 Billionen Euro. Pro Erwachsenen bedeutet das ein individuelles Vermögen von mehr als 88 000 Euro im arithmetischen Mittel. Wenn man die Bevölkerung nach der Höhe des Vermögens sortiert und die untere und obere Hälfte teilt, liegt der Wert des mittleren Vermögens gerade einmal bei 15 000 Euro."

Da die DIW-Autoren betonen, dass durch die seit dem 1. Januar 2009 geltende Abgeltungssteuer "vermögende und damit oft auch einkommensstarke Gruppen besonders ... profitieren werden" ist fast abzusehen, dass selbst geringfügige Belastungen der Einkünfte aus diesem Vermögen auf den Widerstand der Betroffenen treffen werden oder solche Eingriffe nicht erfolgen werden.

Der materialreiche Aufsatz "Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland von Joachim R. Frick und Markus M. Grabka im DIW-Wochenbericht 4/2009 (Seite 54-67) ist kostenlos und komplett als PDF-Datei erhältlich.

Bernard Braun, 25.1.09


Private Krankenversicherung: Die Bindung an einen Hausarzt ist häufig schon Tarifnorm

Artikel 1451 Die private Krankenversicherung (PKV) wird in Abgrenzung zu gesetzlichen Krankenkassen meist als eine erstklassige Risikoabsicherung betrachtet, zumindest was Service und Komfort in der medizinischen Versorgung anbetrifft. Denn mehrere Studien hatten zuletzt gezeigt, dass Privatversicherte sehr viel kürzere Wartezeiten für einen Arzttermin haben (vgl. Wartezeiten auf einen Arzttermin, Neue Studie: Kassenpatienten warten dreimal so lange, Wartezeiten beim Arzt). Ob auch die medizinische Versorgung von Privatpatienten einen besseren Standard aufweist, ist strittig. Denn immerhin hatte der Journalist und Mediziner Markus Heier, unlängst festgestellt, dass bei Privatversicherten oftmals eine "Überdiagnostik und Übertherapie" feststellbar ist, also eine häufige Durchführung medizinisch unnötiger, aber finanziell einträglicher Untersuchungen, und dass weiterhin bei ihnen das Innovationsrisiko modernster Arzneien besteht, also eine Verschreibung neu auf den Markt gekommener Arzneimittel, über deren langfristige Risiken und Wirkungen in Kombination mit anderen Mitteln noch wenig bekannt ist. (vgl.: Magnus Heier "Privatpatienten: In den Klauen der Halbgötter" Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.06.2007, Nr. 25 / Seite 65)

Eine Auswertung der häufigsten Tarife privater Krankenversicherungen hat nun jedoch angedeutet, dass die Leistungen der PKV teilweise massiv überschätzt werden. Dies hat eine Analyse der 150 am häufigsten gewählten Tarifsysteme von 34 privaten Krankenversicherern gezeigt, die der Chef des Beratungsunternehmens Premium Circle für die Berliner Zeitung durchführte. "Außer bei den allgemeinen Arztleistungen erreichen in einigen Leistungskriterien nur rund die Hälfte aller am Markt vorhandenen Privattarife den Standard der gesetzlichen Krankenkassen", erklärte Claus-Dieter Gorr in der Berliner Zeitung.

Auf folgende, von Versicherten oft nicht beachtete Regelungen wird in der Analyse hingewiesen:
• Die Verpflichtung gesetzlicher Krankenkassen zu einem Hausarzttarif wird derzeit noch überaus kontrovers diskutiert, da Studien bislang keine überzeigenden Belege erbracht haben, dass sich mit der Bindung an einen Hausarzt auch die Versorgungsqualität verbessert. Überdies wird kritisiert, dass damit für gesetzlich Versicherte die freie Arztwahl storniert wird. Übersehen wird dabei allerdings, dass nach der Studie von PremiumCircle bei einem Drittel der geprüften Tarife in der PKV die Bindung an einen Haus- oder Allgemeinarzt längst Standard ist. Versicherte, die einen solchen Tarif gewählt haben und sich nicht an diese Regelung halten, müssen u.U. Leistungskürzungen von bis zu 40 Prozent in Kauf nehmen.
• Ein weiteres Manko besteht laut Analyse darin, dass Heil - und Hilfsmittel in vielen Tarifen erschöpfend aufgeführt sind. Das bedeutet aber, dass diese und nur diese Mittel bewilligt werden. Sofern durch den medizinisch-technischen Fortschritt zukünftig Innovationen im Bereich der Hilfsmittel auf den Markt kommen, sind diese nicht durch die Versicherung gedeckt. Nur in 20 Tarifen ist der Hilfsmittelkatalog also offen und bei Innovationen ergänzungsfähig, bei den 130 anderen sind die Leistungen abschließend definiert. "Wer als Privatversicherter darauf hofft, dass seine Kasse in einer Notsituation schon helfen wird, begibt sich in eine kritische Lage", heißt es in der Berliner Zeitung. "Der Bundesgerichtshof hat den Privatkassen verboten, mehr zu leisten als vertraglich vereinbart. Schließlich sind diese Leistungen nicht in die Prämie einkalkuliert worden und würden zu Unrecht zu Lasten anderer Versicherten gehen. Ein geschlossener Hilfsmittelkatalog, der die Aufnahme von Innovationen verbietet, kann deshalb gravierende Auswirkungen haben. Wer weiß schon, was in 30 Jahren alles möglich ist?"

"Das Paradoxe an der PKV ist, dass sich ihre allgemeinen Werbeaussagen in den meisten Tarifen nicht widerspiegeln", erklärte der PremiumCircle-Chef. "Nur knapp zehn Prozent der geprüften Tarife bieten einen wirklich umfassenden Schutz."

Daniel Baumann: Unter Standard. Studie: Private Krankenkassen sind bei etlichen Leistungen nicht besser als die gesetzlichen
Berliner Zeitung, 27.12.2008, Wirtschaft

Gerd Marstedt, 29.12.08


Abschied von der "Mittelstandshypothese": Zur schwachen Empirie des "Jobmotors" Klein- und Mittelbetriebe.

Artikel 1448 Die finanzielle Stabilität und damit die Leistungsfähigkeit von Sozialversicherungssystemen, die an die Erwerbstätigkeit und die dort erzielten Einkommen gebunden sind, beruhten und beruhen ihrerseits erheblich auf ideell und materiell gesicherten Annahmen über die Stabilität von sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen.

Dazu gehört in der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung die in vielerlei Hinsicht erwartete und unangefochten verfochten stabilisierende Existenz der kleinen und mittleren Betriebe (alle Betriebe mit bis zu 499 Beschäftigten).

Die wichtige Rolle dieser Größenklasse von Betrieben ergibt sich schon aus der Tatsache, dass im Jahr 2005 69,6 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland in kleinen Betrieben mit unter 250 Beschäftigten arbeiteten und dieser Anteil in den letzten 10 Jahren sogar gewachsen ist (1994=65 %). Damit hängen sowohl die Erwerbstätigkeit oder Arbeitslosigkeit als auch das Einkommen und damit die Einnahmenbasis und die Höhe der Einnahmen von Sozialversicherungsträgern in erheblichem Maße vom Geschehen in Klein- und Mittelunternehmen (KMU) ab. Der Anteil aller Beschäftigten, die in KMU arbeiteten lag 2005 bei 79,7 %.

Wegen der historisch gewachsenen besonderen Binnen-Sozialverhältnisse und der spezifischen Produktionsweisen in mindestens einem Teil dieser Betriebe (Stichwort "Betriebsfamilie") galt es bisher für gesichert, dass in ihnen weniger schnell konjunkturellen Impulsen gefolgt und entlassen wird als in Großbetrieben und sogar rascher und mehr neue Arbeitsplätze geschaffen werden als in größeren Betrieben. Es wurde sogar für möglich gehalten, dass Beschäftigungseinbrüche in größeren Betrieben durch kleinere und mittlere Unternehmen kompensiert werden können.

Ein empirischer Beleg dafür ließ sich aber bisher nicht (einfach) finden, aber Zweifel an dieser Funktion nahmen zu.

Für die Jahre 1993 bis 2005 beseitigt diese Ungewissheiten und Erkenntnislücken aber jetzt eine Analyse der Beschäftigungsdynamik in Betrieben unterschiedlicher Größe in allen Sektoren der Wirtschaft, die mit Beschäftigungs-Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) von WissenschaftlerInnen des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" durchgeführt wurde. Die Datenbasis ist ein Mikrodatensatz auf Betriebsebene, der aus der Grundgesamtheit aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (ohne geringfügig Beschäftigte) aus der Beschäftigten-Historik der BA gebildet wurde.

Die als "IAB-Kurzbericht 23/2008" auf 6 Seiten veröffentlichten Ergebnisse zeigen ein wesentlich weniger idyllisches Bild der Kompensationskraft kleinerer Betriebe als in den (Selbst)-Inszenierungen mittelständischer Betriebslandschaft von links bis rechts:

• Betriebe mit weniger als 500 Beschäftigten sind am Auf- und Abbau von Arbeitsplätzen, also an den Beschäftigungsbewegungen, überdurchschnittlich beteiligt - sowohl in Zeiten des Aufschwungs als auch in Abschwungphasen und dies stärker als bisher.
• Sie können sich aber - anders als früher - in Jahren des Beschäftigungsrückgangs nicht mehr besser behaupten als große Betriebe.
• In Westdeutschland unterliegen die Anteile der Kleinstbetriebe (1 bis 9 Beschäftigte) und die der Kleinbetriebe (10 bis 49 Beschäftigte) an den Beschäftigungsgewinnen nur leichten Schwankungen. Ihr Anteil an den Verlusten nimmt dagegen im Untersuchungszeitraum tendenziell zu.
• Beschäftigungsverhältnisse sind in Großbetrieben beständiger als in Kleinstbetrieben mit bis zu 9 Beschäftigten: Während ein Arbeitsplatz in einem westdeutschen Großbetrieb mit 500 und mehr Beschäftigten im Zeitraum von 1994 bis 2005 rund 11 Jahre bestand, betrug die Lebensdauer eines Arbeitsplatzes in einem westdeutschen Kleinstbetrieb im selben Zeitraum 2,6 Jahre. Die Arbeitsplatz-Lebensdauer lag in Ostdeutschland in allen Betriebsgrößenklassen unter der vergleichbar großer Betriebe in Westdeutschland.
• Die KMU sind - gemessen durch die jeweilige Veränderung der Nettobeschäftigung bezogen auf die größenklassenspezifische Durchschnittsbeschäftigung - sowohl in Aufschwung- als auch in Abschwungzeiten überdurchschnittlich an den entsprechenden Beschäftigungsbewegungen beteiligt. Im Zeitraum 2002-2005 nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Großbetrieben um 1,19 % ab, in allen anderen Größenklassen war der Abschwung stärker. Mit -2,27 % lagen hier die westdeutschen Betriebe mit bis zu 9 Beschäftigten an der Spitze (Beschäftigte in ostdeutschen Kleinstbetrieben schrumpften im selben Zeitraum um 4,41 %).
• Anders als oft unterstellt, können mittelständische Unternehmen somit Beschäftigungseinbrüche nicht in erheblichem Umfang kompensieren und die eingangs erwähnte gesicherte Erwartung entsprechender materieller Effekte zielt ins Leere.

Die Autorengruppe fragt sich angesichts der Ergebnisse ihrer Analysen "warum sich das uneingeschränkt positive Bild der KMU als 'Jobmotor' in der Öffentlichkeit und der Politik durchgesetzt hat", ohne selbst eine Antwort oder zumindest Hypothesen zu liefern. Zu Recht heben sie aber hervor, dass eine besondere Förderung der kleinen und mittleren Betriebe wegen einer besonderen Fähigkeit zur Arbeitsplatzsicherung durch ihre Empirie nicht gerechtfertigt werden kann.

Der IAB-Kurzbeitrag "Beschäftigungsbeitrag von kleinen und mittleren Unternehmen. Viel Umschlag, wenig Gewinn" von Thomas K. Bauer, Alexandra Schmucker und Matthias Vorell ist komplett kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 20.12.08


Komponenten der GKV-Einnahmeschwäche: Mehr Frauen erwerbstätig aber mit sinkender Arbeitszeit - deutscher "Sonderweg".

Artikel 1430 Auf den engen Zusammenhang zwischen den Strukturen des Arbeitsmarktes bzw. der Beschäftigung und ihren gewaltigen Veränderungen innerhalb der letzten Jahre mit der einkommensabhängigen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme in Deutschland wurde im Forum-Gesundheitspolitik als einer Ursache der Einnahmeschwäche von Sozialversicherungsträgern bereits mehrfach hingewiesen.

Auf die Auswirkungen eines deutschen "Sonderwegs" im Bereich der Frauenerwerbstätigkeit weist jetzt eine im Auftrag der Hans Böckler Stiftung (HBS) am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen erstellte Studie hin. Dort geht es darum, dass in Deutschland zwar langfristig und zäh die Erwerbstätigkeit von Frauen zunimmt aber die Arbeitszeit und damit das Einkommen der erwerbstätigen Frauen genauso langfristig abnimmt.

Die Studie basiert auf einer Sonderauswertung, den so genannten IAQ/HBS-Arbeitszeitmonitor, des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für den Zeitraum 2001 bis 2006. Die Datenbasis ist die größte repräsentative Erhebung zu den Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland.

Die wichtigsten Trends:

• Der Anteil der Frauen in Deutschland, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, nimmt langfristig zu und betrug 2006 61,5% aller Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren. Auf Vollzeitstellen umgerechnet stagniert dieser Anteil jedoch seit Beginn des Jahrzehnts, weil vor allem durch den Minijob-Boom die Arbeitszeit pro Person abnimmt.
• Der deutsche Sonderweg ist dadurch charakterisiert, dass die auf Vollzeitstellen umgerechnete Beschäftigungsquote von Frauen in den letzten Jahren unter den EU-Durchschnitt gesunken ist. Die Arbeitszeiten von Frauen (Vollzeit und Teilzeit zusammengenommen) sind die zweitkürzesten in Europa, bei den Teilzeitbeschäftigten sogar die kürzesten. Der so genannte "gender gap", d.h. die Differenz zwischen den vollzeitäquivalenten Beschäftigungsverhältnissen für Männer und Frauen in Prozentpunkten hat mit 22,9 % in Deutschland den dritthöchsten Wert in Europa (Durchschnitt der EU 27 = 20,6 %).
• Auch wenn der Anteil der Männer an den Teilzeitbeschäftigten sich in den letzten Jahren erhöht hat, ist Teilzeitarbeit insbesondere in Westdeutschland ein mehrheitlich weibliches Phänomen: 2006 waren rund 87 % aller Teilzeitbeschäftigten Frauen. Die Teilzeitbeschäftigung liegt dann aber auch stundenmäßig recht niedrig, nämlich durchschnittlich 16,9 Stunden bei den Männern und 18,2 Stunden bei den Frauen.
• Bei den Durchschnittsarbeitszeiten aller Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten nimmt die Kluft zwischen den Arbeitszeiten von Männern und Frauen in Deutschland insgesamt weiter zu.
• Trotz aller öffentlichen Debatten über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat sich der Einfluss von Ehe und Kindern auf die Arbeitszeiten von Frauen in den letzten Jahren weiter verstärkt. Verheiratete Frauen und Frauen mit Kindern arbeiten heute mit 29,1 Stunden mehr als eine Stunde pro Woche weniger als 2001, und die Schere zwischen ihren Arbeitszeiten und denen von Männern mit Kindern hat sich weiter geöffnet. Männer arbeiten in Deutschland 2006 im Durchschnitt 38,4 Wochenstunden, d.h. fast genauso lange wie 2001. 2001 arbeiteten Männer 8,8 Stunden länger als Frauen. 2006 betrug der Unterschied 9,3 Stunden.
• Außerdem sinkt bei Frauen die Anzahl der Arbeitsstunden mit steigender Anzahl der Kinder, während dies bei den Vätern genau umgekehrt verläuft. Mütter mit zwei Kindern arbeiteten 2006 im Durchschnitt 23 Stunden in der Woche, Väter mit ebenfalls zwei Kindern dagegen 41,5 Stunden.

Neben den einkommens- und familienpolitischen Auswirkungen dieser Entwicklung verschlechtert sich durch sie bei unveränderten Beitragssätzen auch das Volumen der Beitragseinnahmen z. B. der Gesetzlichen Krankenversicherung, ohne dass die GKV daran etwas verändern kann. Hier handelt es sich also um die Verlagerung der belastenden Wirkungen eines gesellschaftspolitisch gewünschten oder beeinflussten Zustands in ein Solidarsystem bzw. einen kleinen "Zug" im "Verschiebebahnhof-Geschehen".

Die als IAQ-Report 2008-04 Immer mehr Frauen sind erwerbstätig - aber mit kürzeren Wochenarbeitszeiten" von Angelika Kümmerling, Andreas Jansen und Steffen Lehndorff veröffentlichten Ergebnisse sind auf 12 Seiten komplett und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 3.12.08


Determinanten der Einnahmeschwäche des Sozialversicherungssystems: Tarifflucht neugegründeter Betriebe in Ost und West

Artikel 1381 Auch wenn sich mittlerweile immer mehr Diskutanten einig sind, dass eine anhaltende Einnahmeschwäche und nicht eine Ausgabenexplosion zu den Hauptproblemen der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören, sind genauere qualitative und quantitative Angaben über die Ursachen dieser Schwäche immer noch selten. Deshalb kommt auch selbst Kennern der Lage bei den Stichworten "Branchen- und Flächentarifvertrag" nicht sofort auch ein Teil der finanziellen Stabilität der GKV in den Sinn.

Zur Normalität der Leistungsfähigkeit und vor allem der Finanzierung des deutschen Sozialsicherungssystem gehören aber neben vielen anderen Faktoren Flächentarifverträge, die einen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelten Tariflohn und andere betrieblich einheitlichen Arbeitsbedingungen möglichst in jedem Betrieb der Branche garantieren. Ohne Flächentariflöhne besteht die Gefahr eines interregionalen und -betrieblichen Einkommensgefälles, von wesentlich stärkeren Einkommensschwankungen als mit Flächentarifen und schließlich unterschiedlicher Arbeitsbedingungen mit damit möglicherweise auch verbundenen unterschiedlichen Gefährdungs- oder Risikobedingungen für die Gesundheit der Beschäftigten. Damit kommt es in einem einkommensbasierten beitragsfinanzierten Sozialsystem zu Ungleichheiten der Bezugsbasis der Einnahmen - bei weiterhin bundesweit einheitlichem Leistungsniveau.

Um welche Größenordnungen und damit potenziellen Ungleichheiten es sich dabei dreht weist nun erstmals für die Bundesrepublik ein Kurzbericht des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit auf Basis des so genannten IAB-Betriebspanels nach. Dieses Panel ist eine jährliche Wiederholungsbefragung von mittlerweile rund 16.000 Betrieben, die seit 1993 in Westdeutschland und seit 1996 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird. Grundgesamtheit sind Betriebe aller größerer Branchen und Größenklassen, die mindestens einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben. In persönlich-mündlichen Interviews werden Informationen zu verschiedenen Themen erhoben, seit 1996 auch zur Tarifbindung in beiden Landesteilen.

Die Hauptergebnissen und -tendenzen sehen danach so aus:
• Insgesamt sinkt die Tarifbindung zumindest in Westdeutschland weiter. Zu den Austritten aus den Arbeitgeberverbänden kommt die abnehmende Neigung neuer Betriebe, sich an Tarifverträge zu binden. Während 1996 in der westdeutschen Privatwirtschaft noch 66 % der Beschäftigten von einem Flächentarifvertrag erfasst wurden, waren es 2007 lediglich noch 52 %. In Ostdeutschland ging ihr Anteil von 48 % auf 33 % zurück.

• Eine bisher kaum wahrgenommene Dynamik in der deutschen Betriebe-Landschaft ist ihr sehr großer und schneller ständiger Wandel: Von den insgesamt rund 2 Millionen Betrieben mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten "sterben" jedes Jahr 200 bis 250.000 und werden durch etwa die gleiche Anzahl neuer Betriebe ersetzt. Dieser stete Wechsel führt dazu, dass z.B. über einen Zeitraum von 4 Jahren ungefähr ein Drittel des Betriebsbestandes ausgetauscht wird. Ein Teil der neu entstandenen Betriebe 'überlebt’ die ersten Jahre nicht. • Die tatsächlichen Neugründungen - die etwa zwei Drittel der neu entstandenen Betriebe ausmachen - sind besonders 'tariffern’. Durch organisatorische Änderungen (z. B. Ausgründungen, Eigentümerwechsel oder Rechtsformwechsel) entstandene Betriebe sind dagegen deutlich öfter tarifgebunden.

• In der jüngsten Zeit, also zwischen 2003 und 2007, wird der sinkende Anteil von Betrieben mit Tarifbindung insbesondere durch die neu entstandenen Betriebe forciert: Der in den alten Bundesländern weiterhin starke Rückgang der an einen Branchentarif gebundenen Betriebe vollzieht sich sowohl unter den Bestandsbetrieben (von 43% auf 37%) als auch in besonderem Maße durch den Austausch von alten(41%) durch neue Betriebe (24%). In den neuen Bundesländern tut sich insgesamt nicht viel, erkennbar ist die Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Es zeigt sich aber auch hier der immer noch niedrigere Anteil tarifgebundener Einheiten unter den neu entstandenen Betrieben.

• Die Vermutung, an die Stelle von Flächen- oder wenigstens Branchentarifverträgen träten verstärkt Firmentarifverträgen, die zwischen Gewerkschaft und Betrieb ausgehandelt werden, kann das IAB-Betriebspanel nicht.

Auch trotz einiger Schwächen des Betriebspanels, wie etwa der bisherigen Konzentration auf 17 Branchen, zeichnen sich insbesondere bei der Vielzahl völlig neu gegründeter Betriebe eine Reihe sich verstetigenden und noch expandierenden sozialer Probleme ab. Zu ihnen zählt auch die beeinträchtigte Finanzierungsbasis der Sozialversicherung. Die Autoren des IAB-Berichts verweisen zum Schluss ihrer Analyse auch darauf hin, dass Arbeitgeberverbände neben dem allgemeinen Interesse an Mitgliedern auch ein Eigeninteresse an halbwegs vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen für ihre Mitglieder haben müssten. Dies scheinen sie aber in ihren dramatisierenden Appellen zur Senkung der Lohnnebenkosten durch alle geeigneten Maßnahmen restlos zu verdrängen.

Der 8 Seiten umfassende "5. IAB-Kurzbericht Nr. 16/2008: Branchentarifvertrag - Neu gegründete Betriebe sind seltener tarifgebunden" von Susanne Kohaut und Peter Ellguth ist als PDF-Datei komplett und kostenlos erhältlich.

Bernard Braun, 2.11.08


"Arbeit zu haben ist besser als gar keine Arbeit zu haben": Blaue Seiten des "Jobwunders" für "Arbeithaber" und Sozialversicherung

Artikel 1345 Natürlich ist in einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft Erwerbstätigkeit sozial wie materiell von enormer individueller und kollektiver Bedeutung und niemand kann ruhig mit hoher Sockel- oder Langzeitarbeitslosigkeit leben.
Insofern ist es zunächst positiv, wenn die Anzahl von "Arbeitsplätzen" in den letzten Jahren zugenommen hat und damit "Menschen in Arbeit" gekommen sind oder - so z. B. angeblich im Gesundheitswesen - noch in verstärktem Maße kommen werden.

Nicht nur Tropfen, sondern ganze Kübel von Skepsis schütten aber in diesen "Wein" in letzter Zeit immer mehr Studien, die sich die Art dieser "Arbeitsplätze" und die finanziellen wie sozialen Nebenwirkungen des Großteils dieses "Jobwunders" genauer angeschaut haben.

In die Schar der Skeptiker und Kritiker vor der dominierenden Art der Beschäftigungsentwicklung reihte sich jetzt auch das "Statistische Bundesamt" mit einem umfassenden Bericht ein.

Seine wesentlichen Erkenntnisse sind:

• Der Anstieg der Anzahl von "Arbeitsplätzen" ist vor allem durch enormen Anstieg so genannter "atypischer Beschäftigung" geprägt, die von 1997 bis 2007 um die Hälfte auf 7,7 Millionen stieg. Mehr als ein Viertel aller Beschäftigten (25,5 %) sind 2007 in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, meist schlecht bezahlter oder anders prekärer Art. 1997 waren es erst 17,5 %.
• Unter den "atypischen" und sogar vom Statistischen Bundesamt als "häufig prekär" (bundesamtlich formuliert liest sich das so: "Atypische Beschäftigung kann häufig mit prekärer Beschäftigung einhergehen, ist mit dieser aber nicht gleichzusetzen.") bezeichneten atypischen Beschäftigungsverhältnissen stehen 4,95 Millionen Teilzeitbeschäftigte mit 20 oder weniger Stunden regelmäßiger Arbeitszeit an der Spitze, 2,77 Millionen sind geringfügig (unter 10 Stunden) beschäftigt, 2,66 Millionen befristet und 0,61 Millionen in Zeitarbeitsverhältnissen tätig (zum Teil überschneiden sich die Verhältnisse; die Zahlen können daher nicht addiert werden).
• Junge Menschen bis unter 25 Jahre (39,2 %), gering Qualifizierte (39,9 %) und Nicht-EU-Ausländer (36,8 %) sind mit den in Klammern angegebenen Anteilen an der Gesamtbeschäftigung dieser Gruppen am ehesten atypisch beschäftigt.
• Was "prekär" heißt, zeigt sich daran, dass 7,3 % der atypisch Beschäftigten für ihren Lebensunterhalt hauptsächlich auf Leistungen nach Hartz-IV angewiesen sind, obwohl sie erwerbstätig sind (das Phänomen der "working poor" ist in Deutschland angekommen), während es bei normal Beschäftigten weniger als 1 % sind. Weitere 1,7 % brauchen andere Sozialleistungen und 18,2 % brauchen die Hilfe ihrer Familien. Zusammen sind das mehr als 27 % der atypisch Beschäftigten, die nicht hauptsächlich vom Ertrag ihrer Arbeit leben können. Da von diesen Einkommenssituationen oftmals ganze Familien abhängen, erklären sie auch wesentlich das vor einigen Tagen berichtete Niveau der sozialen Mindestsicherung und damit der Armut in Deutschland. In dem ebenfalls vom Statistischen Bundesamt erstellten Bericht finden sich folgende Eckdaten: "Am Jahresende 2006 erhielten in Deutschland rund 8,3 Millionen Menschen Transferleistungen der sozialen Mindestsicherungssysteme, um ihren grundlegenden Lebensunterhalt zu bestreiten. Damit sind 10,1 % der in Deutschland lebenden Menschen auf existenzsichernde finanzielle Hilfen des Staates angewiesen. Im Verlauf des Jahres 2006 sind für diese Leistungen Kosten in Höhe von 45,6 Milliarden Euro entstanden."
• Die immer noch denkbare Möglichkeit der mit dem Anstieg der atypischen Beschäftigung verbundenen Entstehung von mehr Arbeit wird vom Statistischen Bundesamt ins Reich der Illusion verbannt: "Die Zahl der insgesamt in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden hat sich im Vergleich zu 1997 nahezu nicht verändert. Dieser Befund spricht also eher dafür, dass im Rahmen des Beschäftigungswachstums das gleiche zeitliche Volumen an Arbeit auf mehr Köpfe umverteilt wurde." Das "Jobwunder" ist also lediglich eine Umverteilung vorhandener Arbeit oder bedeutet einen relativen Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen in allen Wirtschaftssektoren.
• Wie bereits erwähnt, hat diese Art der "Arbeitsplatzvermehrung" erhebliche Auswirkungen auf die materielle Lage der so Beschäftigten und ihre in anderem Zusammenhang gerne abgeforderte Konsumneigung oder -fähigkeit. Sie hat aber in einem Sozialsystem, dessen Finanzbasis maßgeblich auf prozentualen Beiträgen von Einkommen beruht, auch massive soziale Auswirkungen auf dessen Finanz- und Leistungskraft oder führt ceteris paribus zu einer Erhöhung der Beiträge zu den Sozialversicherungen.
• Die Brisanz des derzeitigen Umgangs mit der Ressource erwerbsfähiger Personen wird erst richtig deutlich, wenn man sich auf der Basis der neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes auch die weiteren wesentlichen Teilgruppen der erwerbsfähigen Bevölkerung ansieht: Neben den 7,7 Millionen atypisch Beschäftigter gibt es nämlich 2007 noch 3,8 Millionen registrierte Arbeitslose und 1,4 Millionen Angehörige der "stillen Reserve". Zu ihr gehören durch den Verlust ihres Arbeitplatzes entmutigte Arbeitskräfte, die sich nicht mehr arbeitslos melden, Rentner, die aus Arbeitsmarktgründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, Schüler und Studenten, die aufgrund schlechter Arbeitmarktbedingungen ihren Abschluss hinauszögern, Teilnehmer an bestimmten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, insbesondere: (Vollzeit-) Weiterbildungsmaßnahmen, Rehabilitation, Altersübergangsgeld und Vorruhestandsgeld-Ost, ältere Arbeitslose, die nach § 428 SGB III der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen, und die Teilnehmer von Trainingsmaßnahmen.
• Von den rund 35 Millionen Personen, die 2007 erwerbstätig hätten sein können, waren 12,8 Millionen atypisch beschäftigt, arbeitslos oder "stille Reserve" und nur noch 63,7 % oder rund 22 Millionen Personen in Normalarbeitsverhältnissen.

Die 22 Seiten umfassende PDF-Version des Berichtes "Atypische Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt" ist kostenlos erhältlich.

Der 79 Seiten umfassende "Bericht zur Mindestsicherung in Deutschland 2006" steht ebenfalls kostenlos als Pdf-Datei zur Verfügung. Diese Analysen sind Teil des Projekts "Sozialberichterstattung der amtlichen Statistik", das von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder durchgeführt wird.
Der Bericht liefert als erste Bestandsaufnahme einen groben Überblick über Fallzahlen, Strukturen und Ausgaben der sozialen Mindestsicherungssysteme und liefert an vielen Punkten genauere und realistischere Zahlen als der 2008 ebenfalls veröffentlichte "3. Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung.

Bernard Braun, 14.9.2008


Einmal im Niedriglohnsektor, immer im Niedriglohnsektor? - Daten zur Erwerbsstatusmobilität in Deutschland.

Artikel 1262 Wie bereits mehrfach im Forum-Gesundheitspolitik berichtet wächst der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren kontinuierlich an. Bereits jeder sechste Vollzeitbeschäftigte gehört zu den Geringverdienern.

Damit ist nicht nur eine prekäre Einkommenssituation dieser Erwerbstätigen verbunden, sondern in einem von der Einkommenssituation abhängigen beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystem dessen Stabilität, die Leistungsfähigkeit u.a. der gesundheitlichen Versorgung und die Nettolohnhöhe der außerhalb des Niedriglohnsektors beschäftigten Beitragszahler.

Entsprechend den internationalen Gepflogenheiten wurde in der Studie die Niedriglohnschwelle bei zwei Dritteln des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten angesetzt. Der Medianlohn ist ein Durchschnittslohn, allerdings nicht im Sinne eines arithmetischen Durchschnitts: Die Hälfte aller Beschäftigten verdient mehr, die andere Hälfte weniger als den Medianlohn. Dieser Definition folgend lag die deutsche Niedriglohnschwelle im Jahr 2005 in Westdeutschland bei 1.779 Euro brutto, in Ostdeutschland bei 1.323 Euro brutto. Überstunden, Prämien, Weihnachts- und Urlaubsgeld sind darin anteilig enthalten.

Eine theoretisch mögliche Teillösung dieser Konstellation wäre eine hohe und schnelle Fluktuation der Mehrheit der Niedriglohnverdiener in höhere Einkommens- und daher auch Beitragsbereiche.

Diese Hoffnung zerstört nun eine gerade veröffentlichte Studie des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" und des Lehrstuhls für Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik der Universität Erlangen-Nürnberg, die dazu die "schwach anonymisierte Version des Beschäftigtenpanels der Bundesagentur für Arbeit (kurz: BAP)" auswerteten:

• Etwa jeder dritte Geringverdiener von 1998/99 war nämlich sechs Jahre später immer noch im Niedriglohnbereich beschäftigt. Nur jedem Achten gelang der Sprung über die Niedriglohnschwelle.
• Ebenfalls jeder Achte wechselte in eine Teilzeit- oder geringfügige Beschäftigung. Jeder Zehnte wurde arbeitslos. Nahezu jeder dritte Geringverdiener schied aus der statistischen Auswertung aus, da er sich ganz aus dem Erwerbsleben zurückzog oder eine selbstständige Tätigkeit aufnahm.
• Frauen sind von niedrigen Löhnen überproportional betroffen. Sie stellen nur gut 35 % aller Vollzeitbeschäftigten, aber fast 60 % der vollzeitbeschäftigten Geringverdiener. Frauen sind zudem besonders gefährdet, im Niedriglohnsektor zu verbleiben: Bei den Männern schaffte rund jeder fünfte innerhalb von sechs Jahren den Sprung über die Niedriglohnschwelle, bei den Frauen nur jede zehnte.
• Mit der Betriebsgröße nehmen die Aufstiegschancen zu. So ist die Wahrscheinlichkeit, die Niedriglohnschwelle innerhalb von sechs Jahren hinter sich zu lassen, in einem Großbetrieb mit über 500 Mitarbeitern mehr als doppelt so hoch wie in Kleinbetrieben mit maximal 20 Beschäftigten.
• Auch ein Betriebswechsel führt oft zu einer Verbesserung: Bei jenen, die im Betrieb bleiben, schafft nur jeder sechste den Aufstieg - bei den Betriebswechslern fast jeder zweite. Dies sei allerdings wenig überraschend, da der höhere Lohn oft Grund für den Betriebswechsel sein dürfte, so die Autoren der Studie.

Weitere Ergebnisse können dem kostenlos als IAB-Kurzbericht 8/2008 erhältlichen achtseitigen Studienbeitrag "Niedriglohnbeschäftigung Sackgasse oder Chance zum Aufstieg?" von Thorsten Schank, Claus Schnabel, Jens Stephani und Stefan Bender entnommen werden.

Bernard Braun, 9.6.2008


Privatpatienten bringen Ärzten eine doppelt so hohe finanzielle Vergütung - und damit Anreize zur Bevorzugung dieser Gruppe

Artikel 1237 Ärztinnen und Ärzte erhalten für ihre Leistungen bei PKV-Versicherten im Schnitt ein mehr als doppelt so hohes Honorar wie bei Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse. Zu diesem Ergebnis kommen die Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem, Stefan Greß und Anke Walendzik in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Umgerechnet auf die Gesamtheit aller Versicherten summiert sich die Vergütungsdifferenz auf 3,6 Milliarden Euro im Jahr. Dies sei ein massiver Anreiz, Privatpatienten zu bevorzugen, erklärten die Wissenschaftler. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass eine Angleichung der Vergütungsstruktur eine wesentliche Voraussetzung zur Gleichbehandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten ist.

Die Gesundheitsökonomen von der Universität Duisburg-Essen und der Hochschule Fulda ermittelten erstmals genau, wie groß die Vergütungs-Differenz zwischen Privatpatienten und gesetzlich Versicherten bei der ambulanten Behandlung ausfällt. Der Grund für die Differenz liegt in den unterschiedlichen Abrechnungsregelungen für gesetzliche (GKV) und private (PKV) Krankenversicherungen: Bei den Privatpatienten dürfen niedergelassene Mediziner die Sätze der von der Bundesregierung erlassenen Gebührenordnung für Ärzte deutlich überschreiten. Außerdem sehen die gesetzlichen Regelungen hier keine Mengenbegrenzungen vor: Die Gesamtmenge der abrechenbaren Leistungen ist nicht budgetiert. Bei Kassenversicherten haben die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dagegen Obergrenzen ausgehandelt. Außerdem müssen sich Kassen und KVen an gesetzlich definierte Budgets halten.

Das Team um Wasem und Greß verwendete für die Berechnung Daten einer großen Krankenkasse. Diese hat im Rahmen eines Programms zur Kostenerstattung die Vergütungssysteme von GKV und PKV vergleichbar gemacht. Die Unterschiede sind eklatant: Für eine medizinisch im Grundsatz gleiche Leistung erhält ein niedergelassener Arzt von der Privatversicherung durchschnittlich das 2,28-fache der Vergütung, die ihm die gesetzliche Kasse zahlt. Bei Radiologen, Internisten, Kinder- und Hausärzten fällt der Aufschlag sogar noch etwas höher aus, bei Augen- oder Hautärzten etwas geringer. Umgerechnet auf alle Versicherten erhalten die niedergelassenen Mediziner insgesamt für die Behandlung privat versicherter Patienten 3,6 Milliarden Euro mehr, als wenn sie diese Patienten auf der Basis des Vergütungssystems in der gesetzlichen Krankenversicherung behandelt hätten.

Angesichts der Vergütungsdifferenz findet es der Fuldaer Hochschullehrer Greß nicht überraschend, wenn Studien zu dem Ergebnis kommen, dass privat versicherte Patienten in der ambulanten Versorgung kürzere Wartezeiten haben als GKV-Versicherte. Schließlich setze das Vergütungssystem "massive Anreize für die bevorzugte Behandlung von Privatpatienten". Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass eine Angleichung der Vergütungsstruktur eine wesentliche Voraussetzung zur Gleichbehandlung ist. Das gilt etwa für die Niederlande, dort wurden die Vergütungen in den beiden Systemen schon Ende der 80er Jahre angeglichen. Außerdem lösten die Niederländer die überkommene Aufteilung des Krankenversicherungsmarktes auf, die - ähnlich wie in Deutschland - systematisch dazu geführt hatte, dass die PKV im Schnitt jüngere und besser verdienende Mitglieder hatte als die gesetzlichen Kassen.

Auch in Deutschland ist nach Analyse der Forscher eine Anpassung der Vergütungssysteme möglich, kurzfristig umzusetzen wäre sie aber nicht. Die Wissenschaftler halten eine Angleichung der Vergütung gleichwohl für sinnvoll: "Die Ungleichbehandlung von privat und gesetzlich versicherten Patienten ist ein Anachronismus", sagt Forscher Greß. Um so wichtiger sei es, einen funktionierenden Ausgleichsmechanismus zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu etablieren. So könnte die Belastung der GKV-Versicherten beispielsweise gegenfinanziert werden, indem man die Privatversicherungen in den Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Kassen einbeziehe.

• Hier ist eine kurze Zusammenfassung der Befunde: Doppelte Vergütung für Privatpatienten (Böckler Impuls 8/2008)
• Hier ist die komplette Studie: Anke Walendzik, Stefan Greß, Maral Manouguian, Jürgen Wasem: Vergütungsunterschiede im ärztlichen Bereich zwischen PKV und GKV auf Basis des standardisierten Leistungsniveaus der GKV und Modelle der Vergütungsangleichung (Diskussionsbeitrag aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Universität Duisburg-Essen Campus Essen Nr. 165, Februar 2008)

Gerd Marstedt, 16.5.2008


Was bedeutet das "Abspecken des Mittelschichtbauchs" für die finanzielle Situation der Sozialversicherungsträger in Deutschland?

Artikel 1203 Zu den Bedingungen einer langfristig funktionierenden solidarischen Finanzierung von einkommensabhängig finanzierten Sozialversicherungssystemen gehört eine bestimmte Verteilung der Einkommen. Je polarisierter die Einkommensverteilung in niedrige und hohe Einkommen oder je abgespeckter der "Bauch" mittlerer Einkommen ist, desto stärkere Finanzierungsprobleme gibt es, wenn gleichzeitig die Einnahmen- und Ausnahmenbedingungen gleich bleiben und Personen mit höherem Einkommen uneingeschränkt in eine private Krankenversicherung gehen können.

Und genau einen dramatischen Schwund der Mittelschicht in Deutschland berichtet nun das "Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)" unter der Überschrift "Schrumpfende Mittelschicht - Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?" in seinem Wochenbericht vom 5. März 2008 (10/2008, 5. März 2008: 101-108).

Die auf Basis der langjährigen Erhebungen des "Sozio-ökonomischen Panels (SOEP)" gewonnenen Erkenntnisse sind im Wesentlichen folgende:

• Der Anteil der Bevölkerung, die über ein Einkommen in der Nähe des statistischen Mittels verfügt, ist in den vergangenen sieben Jahren von 62,3 auf 54,1 Prozent gesunken.
• Diese Entwicklung lässt sich auch noch aus folgender differenzierten Betrachtung unterstreichen: In der Periode schwachen wirtschaftlichen Wachstums bis 1998 lag das mittlere bedarfsgewichtete Jahreseinkommen, (also das arithmetische Mittel der Jahreseinkommen - Einfügung des Verfassers), stabil bei rund 17 000 Euro. Der anschließende Aufschwung hatte einen deutlichen Zuwachs auf über 19 000 Euro (im Befragungsjahr 2003) zur Folge. Danach gingen die realen Einkommen wieder zurück. Gemessen am Median - dem Einkommen, das die obere von der unteren Hälfte der Einkommensbezieher trennt - fiel der Zuwachs im Zeitraum von 1992 bis 2006 mit weniger als 900 Euro deutlich geringer aus."
Die Schlussfolgerung des DIW lautet dann auch: "Der Unterschied im Verlauf zwischen dem arithmetischen Mittel und dem mittleren Einkommen (Median) deutet darauf hin, dass die zwischenzeitlich erzielten Wohlfahrtsgewinne nicht der gesamten Bevölkerung gleichermaßen zugute kamen. Die Einkommen der oberen Hälfte der Einkommensbezieher sind schneller gewachsen als die der unteren Hälfte, das heißt, die Einkommensungleichheit hat zugenommen."
• Sozial- und sozialversicherungspolitisch noch brisanter ist eine ebenfalls zu beobachtende "klare Verfestigung der Einkommensschichten": "Während zwischen 1996 und 2000 nur rund 54% aller armutsgefährdeten Personen auch nach fünf Jahren noch in dieser Einkommensschicht waren, lag die Beharrungsquote für den Zeitraum 2002 und 2006 bei mehr als 60%." Gleichzeitig konnten sich die Einkommensstarken im zweiten Zeitraum im höheren Maße (69% mit einer Zunahme von 5 Prozentpunkten) in dieser Einkommensposition halten und ihre Position ausbauen.
• Spiegelbildlich dazu ist der Anteil der Deutschen mit extrem niedrigen oder extrem hohen Einkommen gestiegen: So hat sich der Anteil der Niedrigverdiener (als Niedrigverdiener bezeichneten die DIW-Forscher die Bezieher von Einkünften mit weniger als 70% des Durchschnitts) seit dem Jahr 2000 von 18,9% auf mehr als 25,4% erhöht. Der Anteil der Spitzenverdiener (als Spitzenverdiener galten Deutsche mit Einkünften von mehr als 150% des Durchschnitts) ist im selben Zeitraum von 18,8 auf 20,5% gestiegen.
• Insgesamt seien in den vergangenen sieben Jahren demnach fünf Millionen Deutsche aus der Mittelschicht in den Randzonen der Gesellschaft gelandet.
• Kein Wunder ist nach diesen Zahlen dann der sich auf einem "historischen Höchststand" befindliche Anteil der Mittelschichtsangehörigen, die sich 2005 "große Sorgen" um ihre wirtschaftliche Situation machte: 26%!

Da die Einwohner mit höherem Einkommen meist nicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind oder ihr Beitrag zu einer gesetzlichen Krankenkasse über der so genannten Beitragsbemessungsgrenze sowieso nicht mehr weiter steigt, führt der Schwund der Mittelschicht zu Einnahmensverlusten, die nur durch Beitragssatzerhöhungen, Leistungsreduktionen oder sozialpolitische Maßnahmen wie allgemeine Einkommenserhöhungen oder eine deutliche Erhöhung der Bemessungsgrenze kompensiert werden könnten.

Die kritischen Hinweise eines Mitarbeiters des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) darauf, dass die DIW-SOEP-Daten zuletzt für das Jahr 2005 vorlägen und mithin noch nicht die Auswirkungen des jüngsten Konjunkturaufschwungs berücksichtige, sind zutreffend, ändern aber nichts an der berichteten Grundtendenz.
Dies bestätigt auch folgender Passus aus der IW-Anmerkung: "Weniger dramatisch ist die Situation aus Sicht der Mittelschicht selbst. Trotz der erwähnten deutlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit waren 75 Prozent der Mittelschichtler des Jahres 2001 auch im Jahr 2005 wieder in dieser Einkommensschicht vertreten. Zwar rutschten 14 Prozent nach unten ab, aber immerhin 11 Prozent gelang der Sprung in die Gruppe der Einkommensstarken." Auch hier wird deutlich, dass ein deutlich größerer Anteil der Mittelschicht absteigt.

Die komplette Ausgabe des DIW-Wochenberichts mit dem von Markus Grabka und Joachim Frick verfassten Beitrag "Schrumpfende Mittelschicht - Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?" ist als PDF-Datei zugänglich.

Bernard Braun, 17.4.2008


Leicht schwindende offene und deutlich zunehmende verdeckte Arbeitslosigkeit als Ursachen der Einnahmeschwäche der deutschen Sozialversicherung.

Artikel 1112 Zu den hier immer wieder angesprochenen Ursachen der Einnahmeschwäche der Sozialversicherungsträger in Deutschland gehört die Arbeitslosigkeit bestimmter erwerbsfähiger und z. B. krankenversicherten Bevölkerungsgruppen. Dies gilt sowohl für jüngere Personen mit Schwierigkeiten überhaupt oder zu guten Einkommensbedingungen in den Arbeitsmarkt zu gelangen und dann auch für ältere Personen, die auf vielfache Weise vor Erreichen des Altersrenten-Alters (bisher 65 und mit langer Übergangszeit in einigen Jahren 67 Jahre) teilweise oder komplett aus der Erwerbstätigkeit hinausgedrückt werden.
Dies bedeutet für Sozialversicherungssysteme, deren Einnahmen sich durch einen auf das Einkommen bezogenen Beitrag finanzieren, sinkende oder sogar fast völlig ausbleibende Einnahmen und für die betroffenen Personen, ob durch niedrigere Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung oder wegen der mit Abschlägen abgesenkten Renten, niedrigere Einkommen.

Wie stark ältere Personen von diesen Exklusionsprozessen betroffen sind und dass dabei Arbeitslosigkeit nicht die einzige Form ist, zeigen die Ergebnisse einer am 19. Dezember 2007 im Kurzbericht Nr. 25 des IAB veröffentlichte Analyse der Arbeitsverwaltungsdaten für die Jahre 2000 bis 2004.

Die wichtigsten Ergebnisse lauten:

• Ende 2004 waren nur rund fünf Prozent aller 64-jährigen Männer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Bei 64-jährigen Frauen lag die Beschäftigungsquote mit drei Prozent im Westen und einem Prozent im Osten sogar noch erheblich darunter. Wer die Regelaltersrente erreicht, ist demnach meist gar nicht mehr erwerbstätig.
• Aber auch in der Altersgruppe der unter 60-Jährigen, gab es 2004 relativ hohe Anteile nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigter: "Mitte 2 004 betrug die Beschäftigungsquote der 55- bis 59-jährigen Männer 47,9% im Westen und 44,7% im Osten. Damit waren in beiden Landesteilen nicht einmal die Hälfte der betrachteten Personengruppe sozialversicherungspflichtig beschäftigt, und das, obwohl im Zähler der Quote auch die Personen enthalten sind, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit oder in Beschäftigung schaffenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befanden."
• Bereits ab 55 sinken die Beschäftigungsquoten, ab 60 Jahren sogar rapide. "Ein Ausscheiden vor dem 65. Lebensjahr ist immer noch die Regel. 64-Jährige stehen so gut wie nicht mehr im Erwerbsleben", so die Autorin der Studie, Franziska Hirschenauer.
• Nach dem 60. Lebensjahr sinkt aus vielen Gründen auch der Anteil der Arbeitslosen: So waren Mitte 2 004 im Westen 12,1%, im Osten 2 1,4% der 55- bis 59-jährigen Männer registriert arbeitslos oder im erleichterten Leistungsbezug nach § 428 SGB III. In der Altergruppe darüber - in der die vorzeitigen Renteneintritte zu Buche schlagen - lagen die entsprechenden Werte nur noch halb so hoch, nämlich bei 6,7 Prozent (West) und 10,7% (Ost). Bei den Frauen reduzieren sich mit der Möglichkeit des vorzeitigen Rentenbezugs, d.h. in der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen z. B. die Arbeitslosenanteile im Westen auf 3%, im Osten auf 5,1%. Beide Werte, auch der ostdeutsche, liegen damit unter denjenigen der Männer.
• Dass verschiedene Appelle und einige materielle Programme zur Unterstützung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer nicht ganz erfolglos waren, zeigen die trotz der im Zeitabschnitt 2000 bis 2004 noch schlechten konjunkturellen Entwicklung gestiegenen Beschäftigungsquoten der Menschen über 60.
• Eine wichtiger gewordene Ausstiegsform älterer Erwerbsfähiger aus dem Erwerbsleben ist die verdeckte Arbeitslosigkeit. Dies bedeutet: Jenseits der 60 ist kaum noch jemand registriert arbeitslos, sodass ihre Situation nicht von der Arbeitslosenstatistik widergespiegelt wird. So waren im Jahr 2004 beispielsweise 12% der westdeutschen und 21% der ostdeutschen Männer im Alter von 59 arbeitslos, ohne in der Statistik registriert zu sein. Bei den ab 60-Jährigen sinken diese Anteile, sie bleiben jedoch deutlich über denjenigen der registrierten Arbeitslosen. Damit war Ende 2004 die Zahl der nicht registrierten Arbeitslosen in allen Altersgruppen ab 58 größer als die Zahl der registrierten Arbeitslosen. Auch die gestiegene Inanspruchnahme der Altersteilzeit hat bei den über 58-Jährigen zu niedrigeren Arbeitslosenzahlen geführt.
• Dass leider der immer wieder zu hörende und geglaubte Satz, bei einer entsprechend besseren konjunkturellen Situation würden sich die Arbeitslosigkeitsprobleme von alleine auflösen, nicht stimmt, zeigt der regionale Vergleich in der IAB-Studie. Hier zeigt sich, dass die Erwerbsintegration der Älteren in wirtschaftlich prosperierenden Regionen (wie beispielsweise in Baden-Württemberg zwar höher ist als in wirtschaftlich schwachen Gebieten. Aber selbst dort arbeiten die Menschen längst noch nicht bis zum Alter von 65 Jahren.

Der IAB-Kurzbericht "Regionale Arbeitsmarktlage der Älteren. Arbeiten bis 65 - längst noch nicht die Regel" von Franziska Hirschenauer (2007; Nr. 25; 8 Seiten) kann kostenlos abgerufen werden.

Bernard Braun, 23.1.2008


"GKV-Beiträge bleiben 2008 weitgehend stabil" oder auch nicht! - Wo bleibt der Beitrags-Abschwung bei wirtschaftlichem Aufschwung?

Artikel 1059 Gehörten bis in die jüngste Vergangenheit hinein Prognosen, die Krankenkassenbeiträge würden sinken, zum gesundheitspolitischen Standardrepertoire zum Jahresende, ist schon die aktuelle Meldung, die Beiträge blieben "2008 weitgehend stabil", die große aber möglicherweise auch unrealistische (eine der größten deutschen Krankenkassen, die Techniker Krankenkasse, kündigt in diesem Sinne gerade an, ihren Beitragssatz zum 1. Januar 2008 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen) Erfolgsmeldung - und dies trotz abnehmender Arbeitslosigkeit, steigenden Gewinnen und mittelfristigem Optimismus über den wirtschaftlichen Aufschwung.

Diese Faktoren sollten eigentlich über steigende Löhne die u.a. durch die seit rund 10 Jahren anhaltende Lohnstagnation bedingte Einnahmeschwäche der Sozialversicherungskassen als wesentlichem Erklärungsfaktor der langjährigen Beitragssteigerungen mildern oder gar beseitigen. Soweit die Theorie.

Die Wirklichkeit der Einkommensentwicklung sieht leider anders aus, d.h. trotz der von der Bundesagentur für Arbeit zuletzt im Oktober für den August 2007 gemeldeten mehr (27,17 Millionen, was gegenüber dem Vorjahr ein Zuwachs von 589.000 Personen oder um 2,2% war) sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen entwickeln sich die Einkommensverhältnisse so, dass der Einkommenstopf zwar schon etwas voller wird, aber in hohem Maße mit relativ niedrigen und damit beitragsschwachen Einkommen aus Dienstleistungstätigkeiten oder deutlich unter dem dank der gestiegenen Produktivität eigentlich möglichen Niveau.

Nur zur Erinnerung für die Entwicklung der erwerbstätigen und sozialversicherten Personen: Die gerade geschilderte Verbesserung erfolgt auf einem niedrigen Niveau, das Ergebnis eines jahrelangen kräftigen Rückgang der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer war. Noch 2001 gab es rund 28,3 Millionen derartig beschäftigter Personen. Dies hat auch mit einer weiteren sorgfältig getrennt zu betrachtenden Entwicklung zu tun: Der Anteil der sozialversicherungspflichtigen und damit Sozialbeiträge zahlenden Personen an den insgesamt erwerbstätigen Personen sank von 77,7% im Jahr 1991 auf zuletzt 68,5% im Jahr 2004. Insgesamt erwerbstätig waren 1991 38,6 Millionen und 2004 38,9 Millionen Personen.

Wie es zu dieser Wirklichkeit kommt sollen jüngste Daten des Statistischen Bundesamt und der Bundesbank etwas transparenter machen. Dabei handelt es sich nicht um scharf getrennte kumulative Effekte, sondern um getrennt erhobene und sich auch mehr oder weniger überlappende, verstärkende oder auch einschränkende Bedingungen:

• Nach der aktuellsten Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 14. Dezember 2007 zur Entwicklung der Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe zwischen dem Oktober 2006 und dem Oktober 2007, stieg die Anzahl der dort Beschäftigten um 2,2%, die der geleisteten Arbeitsstunden um 6,1% und die Summe der Entgelte und damit der Quelle für Sozialversicherungseinnahmen aber lediglich um 5,3%. Damit entgehen bei offensichtlich guten konjunkturellen Bedingungen mindestens 0,8% des Zuwachses an ökonomischer Leistungsfähigkeit der so genannten "Verbeitragung". Dass in Wirklichkeit noch mehr der gestiegenen Leistungsfähigkeit an den Einkünften und den Beiträgen der Sozialversicherungsträger vorbeigeleitet wird, zeigt der aktuelle Indikator für sie, d.h. die Produktion pro Beschäftigten oder die Produktivität in der gewerblichen Wirtschaft. Diese stieg nach Berechnungen der Bundesbank zwischen Oktober 2006 und Oktober 2007 um 5,9% an.
Die genannten Entwicklungen sind natürlich nicht nur in Bezug auf die Einnahmeseite der Sozialversicherungsträger problematisch, sondern auch für die Einkommenssituation der Erwerbstätigen. Die Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe bedeutet bei der aktuellen realen Inflationsrate von rund 3% ein Minus von fast 4%, was die gerade im Weihnachtsgeschäft beklagte "Konsumzurückhaltung" als überwiegend schlichten Mangel an ausgabefähigen Einkommen erklärt.

Zur Lohnentwicklung und auch vielen weiteren wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen liefern die Rundbriefe des "Infoportals Deutschland & Globalisierung", zuletzt im Rundbrief 35 aktuelle und verständliche Informationen.

• Die zähe Zunahme der Lohneinkommen schaffen selbst die Autoren der Bundesbank in der November 2007-Ausgabe ihres Monatsberichts nicht mehr wegzuformulieren: "Mit der Verbesserung der Lage am Arbeitsmarkt sind auch die Tarifabschlüsse im laufenden Jahr etwas höher ausgefallen. … Trotz der höheren Abschlusssätze (in der Industrie) blieb der Lohnkostendruck im bisherigen Jahresverlauf insgesamt recht verhalten. Dies liegt zum einen daran, dass im Dienstleistungsbereich Tarifabschlüsse aus Vorjahren nachwirken, die für das laufende Jahr keine oder nur geringe Lohnanhebungen vorsehen, zum anderen sind Tarifverträge ausgelaufen, ohne dass bisher ein Anschlussvertrag vereinbart wurde. Schließlich sehen einige Neuabschlüsse eine Anhebung erst im Jahr 2008 vor."

• Das gerade angemerkte "Nachwirken" früherer niedriger Tarifabschlüsse im Dienstleistungsbereich wirkt sich wegen einer der strukturellen Besonderheiten der Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung besonders aus. In den Worten des Statistischen Bundesamtes ist der nämlich bis zum 3. Quartal 2007 u.a. durch Folgendes geprägt: "Zu dem Beschäftigungsaufbau haben die verschiedenen Wirtschaftsbereiche unterschiedlich stark beigetragen. Maßgeblichen Anteil hatten die Dienstleistungsbereiche, in denen die Zahl der Erwerbstätigen im dritten Quartal 2007 insgesamt um 496.000 Personen (+ 1,7%) gegenüber dem Vorjahr zunahm. Weiter zulegen konnte im Vorjahresvergleich auch das Produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe) mit Beschäftigungsgewinnen von 109.000 Personen (+ 1,4%) im dritten Quartal 2007, nach Zuwächsen von 87.000 Personen (+ 1,1%) im zweiten Quartal und 67.000 Personen (+ 0,9%) im ersten Quartal. Demgegenüber fiel im Baugewerbe das Beschäftigungsplus mit 18.000 Personen (+ 0,8%) im Berichtsquartal deutlich geringer aus als noch zu Jahresbeginn - im ersten Quartal 2007 lag der Zuwachs noch bei 106.000 Personen (+ 5,2%). In der Land- und Forstwirtschaft wuchs die Beschäftigung im Berichtsquartal mit 9.000 Personen (+1,0%) in etwa wie im Vorquartal (+10.000 Personen oder + 1,2%)."

• Aufgrund der sektoral unterschiedlichen Beschäftigungsdynamik und weiteren Faktoren handelt es sich bei der Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer auch laut der Bundesagentur für Arbeit nicht ausschließlich um eine Zunahme von Vollzeitstellen mit damit evtl. höheren Einkommen, sondern "etwa die Hälfte der Beschäftigungszunahme (entfällt) auf sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen. Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten betrug nach ersten Hochrechnungen der Bundesagentur für Arbeit im August (2007) 4,86 Millionen (von insgesamt 27,17 Millionen Arbeitnehmern mit Sozialversicherungspflicht), 81.000 mehr als vor einem Jahr (+1,7%)." In anderen Studien, wie etwa die der Hans Böckler Stiftung, gab es 2007 rund 7 Millionen geringfügig beschäftigte und entlohnte Erwerbstätige.

• Eine weitere strukturelle Besonderheit der Entwicklung des Erwerbstätigenpotenzials in Deutschland, nämlich der hohe Anteil von Teilzeitbeschäftigten als einer der vielen Formen atypischer Beschäftigung, trägt auch erheblich zur Stagnation der beitragsfähigen und konsumfähigen Einkommen bei. Die letzten verfügbaren Daten des Statistischen Bundesamtes aus der neuen vierteljährlichen Verdiensterhebung zeigen dazu unter zusätzlicher Berücksichtigung der Ost-West-Unterschiede für das zweite Quartal 2007 folgendes: Vollzeitbeschäftigte im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich verdienten in den alten Ländern (mit Berlin-Ost) 18,79 Euro brutto pro Stunde (ohne Umrechnung von Sonderzahlungen). In den neuen Bundesländern (Ohne Berlin-Ost) belief sich dieser Betrag auf durchschnittlich 13,27 Euro, d.h. auf 70,6% der Westlöhne. Teilzeitbeschäftigte verdienten im selben Quartal im Westen 14,56 Euro und im Osten 11,79 Euro, d.h. 81% des durchschnittlichen Bruttoverdienstes pro Stunde in den alten Bundesländern. Die westdeutschen Teilzeitbeschäftigten verdienten damit 77,5% der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste der westdeutschen Vollzeitbeschäftigten. In den neuen Bundesländern liegen die Stundenverdienste der Teilzeitbeschäftigten um 11,2% unter denen der dortigen Vollzeitbeschäftigten.

• Schließlich und endlich wirkt sich in dem bisher skizzierten Einflussgeflecht noch zusätzlich und eigenständig eine ebenfalls strukturelle Eigenart der internen Einkommenstrukturen von Erwerbstätigen in Deutschland aus: Der Abstand der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste zwischen Männern und Frauen oder der so genannte "gender pay gap". Hierzu veröffentlichte wiederum das Statistische Bundesamt schon im März 2007 eine knappe Übersicht. Dort wird folgendes festgestellt: "In den letzten 10 Jahren bewegte sich der Gender Pay Gap für Deutschland überwiegend zwischen 21 und 23 %. Der Durchschnittswert der europäischen Länder und Ihrer Beitrittskandidaten lag 2004 bei 15%. Die höchsten Verdienstabstände wiesen Estland (24%), Zypern (25%) und die Slowakei (24%) auf. Malta ist mit einem Gender Pay Gap von 4 % dagegen das Land mit dem niedrigsten Verdienstabstand. … Untersucht man den Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern mit Hilfe einer Strukturerhebung, die zusätzlich auch noch Auskunft über Faktoren gibt, die den Verdienst beeinflussen, wird das Bild klarer. Die unterschiedlichen Durchschnittsverdienste von Frauen und Männern lassen sich teilweise auf Unterschiede in der weiblichen und männlichen Arbeitnehmerstruktur zurückführen. Frauen arbeiten häufiger in kleinen Unternehmen und in Wirtschaftszweigen mit niedrigeren Verdienstniveaus. Frauen sind viel seltener in Führungspositionen mit hohen Verdiensten und üben viel häufiger einfachere Tätigkeiten aus, die schlechter bezahlt werden. Auch das Alter spielt eine Rolle: Berufstätige Frauen sind im Durchschnitt jünger als ihre Kollegen und gehören überwiegend Altersklassen an, in denen auch Männer niedrigere Verdienste erzielen. In den Altersklassen, in denen Männer dagegen ihre höchsten Verdienste erzielen, sind Frauen bei den Vollzeitbeschäftigten unterrepräsentiert. Überdurchschnittlich häufig sind sie als Teilzeitbeschäftigte oder als Geringfügig Beschäftigte tätig."

Wenn nun einerseits erfreulicherweise Frauen mit zu den Trägern bzw. "Gewinnern" des Aufschwungs am Arbeitsmarkt gehören, tragen sie bzw. die sie beschäftigenden und entlohnenden Arbeitgeber andererseits bei ansonsten unveränderten Strukturen ihrer Erwerbstätigkeit (Teilzeitarbeit im Dienstleistungsbereich) unerfreulicherweise zur Stagnation oder nur zähen Zunahme der Brutto-Gesamteinkommen in Deutschland bei.

Ohne hier auch noch auf die in diesem Zusammenhang natürlich auch relevante Debatte über Mindestlöhne eingehen zu wollen, zeigen alle jeweils spezifisch wirkungsvollen Einflussfaktoren auf die Finanzierungsbedingungen der Sozialversicherungsträger, dass deren Einnahmeschwäche nicht durch die Perpetuierung von Beitragserhöhungen gemildert oder beseitigt werden kann, sondern nur durch eine Beseitigung wesentlicher dieser Einflussbedingungen im Einkommensbereich.

Die Grundsatzdebatten darüber, ob z. B. die GKV statt weiter durch Beiträge auf Einkommen auf eine Steuerfinanzierung umgestellt werden sollte, helfen allein schon dadurch nicht viel, weil natürlich auch dieser Steueranteil in irgendeiner Weise über Lohn- und Einkommensteuern finanziert werden muss, die sich wiederum am Erwerbseinkommen orientieren.

Auch hier gilt also der alte Merksatz des Nationalökonomen Mackenroth, der 1952 gegen die bereits damals diskutierten Ideen des Umstiegs von der Beitrags-/Umlage- in eine Kapitalanspar-Finanzierung in der deutschen Sozialversicherung folgendes anmerkte: "Nun gilt der einfache und klare Satz, daß aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß. Es gibt gar keine andere Quelle (…) aus der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Fonds, keine Übertragung von Einkommensteilen von Periode zu Periode, kein 'Sparen' im privatwirtschaftlichen Sinne -, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand." (41) (Mackenroth, Gerhard 1952: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 4, 39-76.)

Bernard Braun, 16.12.2007


Entwicklungstendenzen atypischer Beschäftigung als Risiko für die Sozialsystem-Finanzierung - Materialquelle IAB-Infopool

Artikel 1042 Solange das deutsche Krankenversicherungs- und Gesundheitssystem weit überwiegend mit einkommensbezogenen Beiträgen von Versicherten und Arbeitgebern finanziert wird, also auf Arbeitseinkommen oder Einkommensersatzformen basiert, spielt die Anzahl der Beschäftigten, deren Arbeitsvolumen und die Bezahlung ihrer Arbeitskraft eine herausragende Rolle. Dies umso mehr als dass viele der atypischen Beschäftigungsformen mit einem proportional oder sogar überproportional sinkenden Einkommensniveau verbunden sind.

Da aber auch bei niedrigerem Einkommen und meist auch sinkenden Sozialversicherungsbeiträgen aus diesen Einkommen das Leistungsniveau nahezu unverändert bleibt, wirkt sich diese Entwicklung erheblich auf die Einnahmenseite z. B. der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus.

Daher haben wir im Forum auch mehrmals auf die Problematik von Arbeitslosigkeit und der Auflösung von Normalarbeitsverhältnissen auf die finanzielle Stabilität und damit auch die Akzeptanz des sozialen Krankenversicherungssystem hingewiesen.

Seit kurzem existiert nun auf der "Informationsplattform des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit)" ein Infopool speziell zum Thema "Atypische Beschäftigung".

In den Worten des IAB geht es dabei um Folgendes: "Vollzeit, unbefristet und fest angestellt - das typische Normalarbeitsverhältnis ist zwar immer noch die Regel. Doch arbeiten die Erwerbstätigen heute vermehrt auch befristet, in Teilzeit- und Minijobs, als Leiharbeitnehmer oder als Solo-Selbständige. Was sind die Konsequenzen der zunehmenden Bedeutung atypischer Beschäftigungsformen für die Erwerbstätigen, die Arbeitslosen und die Betriebe? Welche Bedeutung haben sie für die sozialen Sicherungssysteme, das Beschäftigungsniveau und die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes? Der IAB-Infopool bietet Informationen zum Forschungsstand."

Aufgegliedert in die Themenschwerpunkte Ergebnisse aus dem IAB, atypische Beschäftigung insgesamt, Beschäftigungsformen, Geschlecht, Qualifikationsniveau, Alter und geografischer Bezug, sind bis Anfang Dezember 2007 Hunderte von Literaturhinweise, Forschungsprojekte, Institutionen und weiterführende Links zusammengestellt worden.

Unter der Überschrift Beschäftigungsformen finden sich weitere Subthemen wie beispielsweise befristete Beschäftigung oder Saisonarbeit. Zur befristeten Beschäftigung gibt es z. B. aktuell 111 Literaturhinweise, 20 Forschungsprojekte, 2 Institutionen und 10 weiterführende Links.

Zahlreiche der Literaturhinweise lassen einen direkten kostenlosen Download der Studie oder des Aufsatzes zu. Die Nachweise konzentrieren sich auch nicht nur auf nationale Untersuchungen, sondern schließen solche über das deutschsprachige aber auch fernere Ausland ein.

Die Informationsplattform "Atypische Beschäftigung" des IAB erreicht man hierüber.

Bernard Braun, 5.12.2007


Arme Kassenpatienten, glücklich, wer privat krankenversichert ist?

Artikel 1038 Wenn eine private Versicherungsagentur wie die MLP AG, die eine finanziell potente, akademische Zielgruppe als Kunden im Blick hat, eine Meinungsbefragung zum Thema gesundheitliche Versorgung in Auftrag gibt, was könnte herauskommen? Ganz klar: Die Mehrheit der Bevölkerung hält die Private Krankenversicherung für besser als die Gesetzliche. Und wie wird dieses Umfrage-Ergebnis verkauft? Natürlich nicht als schlichtes Umfrageergebnis, sondern als "Offenbarung".

Die Schlagzeile der Pressemitteilung "MLP Gesundheitsreport offenbart: Deutsche fühlen sich zunehmend schlecht versorgt" verrät zunächst allerdings noch wenig über die verborgene Botschaft der Versicherungsagentur, die knapp 700.000 meist gut betuchte Akademiker zu ihren Kunden und 2.500 freiberufliche Vertreter zu ihren Beschäftigten zählt. Zwar hatte das Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit auch Sorgen und Nöte, doch hier werden vorrangig die Sorgen und Nöte des kleinen Mannes und sein unentwegter Verdruss über das deutsche Gesundheitssystem bedient. Natürlich "beurteilen die Bundesbürger die aktuelle Gesundheitsversorgung zunehmend kritisch", selbstverständlich ist auch "die Skepsis gegenüber der künftigen Entwicklung des Gesundheitssystems weiter gestiegen" und damit nicht genug: "Sorgenvoll blicken die meisten Deutschen zudem auf die Entwicklung in der Pflegeversicherung".
Ist dieses bedrohliche Menetekel erst einmal in groben Umrissen an die Wand gemalt, kommen einige Details dazu, die auch schon andeuten, wo die Lösung zu finden ist. "Lediglich 57 Prozent (...) sind der Überzeugung, im Krankheitsfall ausreichend abgesichert zu sein", "... mehr als jeder Dritte (beurteilt) den eigenen Versicherungsschutz zumindest in Teilbereichen skeptisch" und "gut drei Viertel der Befragten erwarten, dass es immer mehr zu einer Zwei-Klassen-Medizin kommt."

Und dann folgen die Kernbotschaften der beim Institut für Demoskopie Allensbach von der MLP in Auftrag gegebenen Umfrage: "Private Krankenversicherung wird deutlich positiver beurteilt. Wie ist man im Krankheitsfall besser abgesichert? 64 Prozent sind der Überzeugung, dass dies in der privaten Krankenversicherung (PKV) der Fall ist; sogar unter den ausschließlich gesetzlich Versicherten vertreten 61 Prozent diese Meinung. Insgesamt würden derzeit 22 Prozent der gesetzlich Versicherten gerne in die PKV wechseln - sieben Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren. Für einen Wechsel spricht aus ihrer Sicht, dass man 'als Privatpatient in vielen Dingen besser gestellt' ist (92 Prozent). Ein weiterer Grund ist die Tatsache, weniger von den Entscheidungen des Gesetzgebers abhängig zu sein (59 Prozent). Innerhalb der Gesetzlichen kommt ein Wechsel der Krankenkasse für 29 Prozent in Frage, weitere 13 Prozent sind hier 'unentschieden'. Gleichzeitig ist das Interesse an privaten Zusatzversicherungen - vor allen für Zahnersatz und Sehhilfen - deutlich auf 40 Prozent gestiegen (1997: 23 Prozent)."

• Hier ist die Pressemitteilung der MLP: MLP Gesundheitsreport offenbart: Deutsche fühlen sich zunehmend schlecht versorgt
• Hier ist die Präsentation zum MLP Gesundheitsreport 2007 (PDF mit Diagrammen zu einzelnen Fragen, 43 Seiten, anlässlich der Pressekonferenz vom 21. November 2007)

Wie es scheint, haben einige Studien über längere Wartezeiten auf Arzttermine bei gesetzlich Krankenversicherten im Vergleich zu Privatpatienten in der Bevölkerung zu einer pauschalen Schlussfolgerung geführt: Privat ist besser als gesetzlich. (vgl. "Wartezeiten beim Arzt: GKV-Versicherte warten länger als Privatpatienten"). Empirische Belege, dass auch bei der Versorgungsqualität solche Unterschiede bestehen, gibt es bislang jedoch keine. Eher im Gegenteil: Ein Bericht des Journalisten und Arztes Magnus Heier, der in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung unter dem Titel "Privatpatienten: In den Klauen der Halbgötter" und auch in der Zeitschrift "Capital" ("Risiko Privatpatient") veröffentlicht wurde, deutet an, dass bei privat versicherten Patienten:
• oftmals eine "Überdiagnostik und Übertherapie" feststellbar ist, also die Durchführung medizinisch unnötiger, aber finanziell einträglicher Untersuchungen,
• das Innovationsrisiko modernster Arzneien besteht, also eine Verschreibung neu auf den Markt gekommener Arzneimittel, über deren langfristige Risiken und Wirkungen in Kombination mit anderen Mitteln noch wenig bekannt ist,
• die Psychofalle überflüssiger Informationen besteht, also ein Geschäft mit der Angst gemacht wird: Aufwändige Untersuchungen führen zu gefundenen Normabweichungen, die keinen Krankheitswert haben, aber eine weitere Kaskade von Diagnostik einleiten.

Der Hintergrund dieser Praxis laut FAZ.NET: "Eine Kassenarztpraxis ist seit Jahren "gedeckelt", das heißt, sie darf nur so viel Umsatz machen wie im letzten, vorletzten und vorvorletzten Jahr (mit nur minimalen Abweichungen). Der einzige Spielraum, den der Kassenarzt hat, sind die selbst zu zahlenden Zusatzangebote (die sogenannten IGEL-Leistungen) - und die Privatpatienten. Jede zusätzliche Untersuchung, jede Behandlung bringt Honorar. Und so ist es weder überraschend noch neu, dass dieser wirtschaftliche Ausweg genutzt wird."

Hier ist der Artikel von Magnus Heier "Privatpatienten: In den Klauen der Halbgötter" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.06.2007, Nr. 25 / Seite 65)
Sein Aufsatz in der Zeitschrift Capital, Ausgabe 19/2007 ist online leider nicht verfügbar.

Gerd Marstedt, 4.12.2007


Quelle der GKV-Einnahmeschwäche: Jeder siebte Bundesbürger unter 65 bekam 2005/2006 mindestens kurz Arbeitslosengeld II

Artikel 0913 Die bereits öfter angesprochene Einnahmenschwäche der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als eine ihrer vorrangigen krisenhaften Bedingungen hängt u.a. mit der Entwicklung der Anzahl der Empfänger des Arbeitslosengeld II und der Dauer seines Bezugs zusammen. Dies deshalb, weil die "Bundesagentur für Arbeit" seit 2005 für die Empfänger des Arbeitslosengeld II nicht mehr den allgemeinen, sondern nur noch den ermäßigten durchschnittlichen Beitragssatz (die Ermäßigung entspricht dem Anteil des Krankengeldes an den Gesamtausgaben der Krankenkassen, da AlG-II-Empfänger kein Krankengeld beziehen) an die gesetzlichen Krankenkassen zahlt, und dies rund einen Beitragssatzpunkt Unterschied bedeuten kann.

Wie einschneidend die Auswirkungen dieser per Gesetz geschaffenen Bedingungen sind, zeigt eine im September 2007 vorgelegte Analyse des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der "Bundesagentur für Arbeit" zur Entwicklung der Mitglieder so genannter "Bedarfsgemeinschaften" (grob nach dem SGB II: erwerbsfähige Hilfebedürftige mit Partnern und/oder minderjährigen unverheirateten Kindern) in den Jahren 2005 und 2006. Zur Erinnerung vorab: AlG-II- bzw. SGB II-Leistungen (obwohl Herr Hartz mittlerweile eher durch andere Aktivitäten bekannt geworden ist, gab er seinen Namen auch mal für diese - Hartz IV - Leistungen her) können auch von Erwerbstätigen mit sehr geringem Einkommen zusätzlich zu diesem bezogen werden.

In dem von Tobias Graf verfassten sechseitigen "IAB-Kurzbericht" (Ausgabe Nr. 17 / 12.9.2007) steht die wichtigste Botschaft bereits in der Überschrift: "Die Hälfte war zwei Jahre lang durchgehend bedürftig." Beim AlG-II-Bezug handelt es sich also nicht um schnell vorübergehende Episoden, sondern um eine teilweise dauerhafte drastische Absenkung der Einkünfte und damit auch der Beiträge z. B. für die GKV von sehr vielen Personen.

Was dies genau in Zahlen heißt, findet sich in dem Bericht ausführlich:
• Die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften (BG), die im Dezember 2006 durchgehend schon zwei Jahre lang Leistungen bezogen hatten und im Titel des Berichts angesprochen wurden, betrug 1,87 Millionen, was 56 % entsprach.
• Die Anzahl der BGs stieg zunächst von 3,33 Millionen im Januar 2005 kontiunuierlich auf 4,13 Millionen im Mai 2006 und sank dann bis Dezember auf 3,76 Millionen.
• Im Juli 2007 bezogen nach vorlaeufigen statistischen Hochrechnungen immer noch 7,3 Millionen Personen in 3,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften SGB-II-Leistungen.
• Im Untersuchungszeitraum 2005 und 2006 erhielten insgesamt 6,2 Millionen BGs, in denen 10,25 Millionen Personen lebten zumindestens zeitweise Unterstützung.
• Sieht man von den über 65-Jährigen ab - sie haben definitionsgemäss keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II -, war jeder siebte Einwohner Deutschlands (mit ihnen jeder achte) in diesen zwei Jahren mindestens einen Monat auf die staatliche Unterstützung angewiesen. Es sind also erheblich größere Teile der Bevölkerung auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen, als aus den Monatsstatistiken erkennbar ist.
• Rund 0,54 Mio. Bedarfsgemeinschaften, die im Januar 2005 SGB-II-Leistungen bezogen hatten, beendeten ihre Hilfebedürftigkeit im Laufe des Jahres 2005 durch ein ausreichendes Einkommen aus Beschäftigung. Neuzugänge im Jahr 2006 konnten ihre Hilfebedürftigkeit etwas schneller überwinden als Neuzugänge im Jahr 2005.
• Am kürzesten ist die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld II bei Paaren ohne Kinder. Nach 21 Monaten sind von den Neuzugängen im Jahr 2005 nur noch 32 % im Leistungsbezug. Bei Paaren mit Kindern waren es nur leicht mehr, nämlich 36 %.
• Anders sieht es bei Alleinerziehenden aus, von denen im Vergleich Ende 2006 noch 55 % im Leistungsbezug waren.
• Regionale Unterschiede gibt es auch und lassen sich so charakterisieren: Vor allem Alleinstehende im Westen und Paare mit Kindern im Osten konnten die Hilfebedürftigkeit am schnellsten überwinden.

Hier erhalten Sie kostenfrei den kompletten sechsseitigen IAB-Kurzbericht "Die Hälfte war zwei Jahre lang durchgehend bedürftig.".

Bernard Braun, 15.9.2007


Was hat "Generation Praktikum" mit der GKV-Einnahmeschwäche zu tun? Berufseinstieg von Hochschulabsolventen schwieriger!

Artikel 0568 Der Berufseinstieg in Deutschland wird für einen wachsenden Teil junger Menschen komplizierter und langwieriger. Dies hat Folgen für die davon Betroffenen und letztlich auch für die Finanzierung der erwerbseinkommenbasierten Sozialversicherungssysteme. Darauf wurde in diesem Forum auch bereits mehrmals hingewiesen. Das Bild bliebe unvollständig, wenn man nicht auch die spezifischen Berufseinstiegsverzögerungen für Hochschulabsolventen beachten würde. Diese existieren in wachsendem Maße und werden lediglich hinter dem Etikett "Generation Praktikum" nicht sofort als solche erkannt oder sogar idyllisiert.
Außer zahlreichen Fallstudien gab es bisher keine genaueren Daten über den Umfang und die Entwicklung der Praktika für Hochschulabsolventen.

Die Studie "Generation Praktikum? Prekäre Beschäftigungsformen von Hochschulabsolventinnen und -absolventen" von Dieter Grühn und Heidemarie Hecht, die vom Arbeitsbereich Absolventenforschung der FU Berlin im Auftrag der DGB-Jugend und der Hans-Böckler-Stiftung erstellt und im Februar 2007 veröffentlicht wurde, beendet diesen Zustand.
In der Studie wurde der Absolventenjahrgang des Wintersemesters 2002/03 der FU Berlin und der Universität Köln zu Praktika nach dem Studium, zur Berufseinstiegsbiografie und zur derzeitigen Situation auf dem Arbeitsmarkt im Herbst 2006, also dreieinhalb Jahre nach Studienabschluss befragt. Ihre wesentlichen Ergebnisse lauten:

• In den letzten zwei Jahren fand ein deutlicher Anstieg von postgraduellen Praktika statt: Gegenüber dem Absolventenjahrgang 2000 stieg der Anteil der Absolventen, die nach dem Studium noch ein Praktikum absolvieren, von 25 auf 41 Prozent.
• Bei diesen Praktika handelt es sich oftmals um »verdeckte reguläre Beschäftigung«. Denn die Mehrheit der Praktika ist weniger ein Ausbildungs- als ein Arbeitsverhältnis: Nur 32 Prozent geben an, dass das Lernen bei den Praktika im Vordergrund stand.
• Die durchschnittliche Dauer eines Praktikums nach dem Studium beträgt sechs Monate. Während dieser Zeit reicht die Bezahlung nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die durchschnittliche Dauer liegt bei den unbezahlten Praktika bei fünf und bei den bezahlten Praktika bei sechs Monaten.
• Die durchschnittliche Entlohnung der bezahlten Praktika liegt bei etwa 600 € (Frauen 543 € /Männer 741 €). Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler erhalten deutlich weniger als Wirtschafts- oder Naturwissenschaftler.
• Postgraduelle Praktika sind ein Symptom einer allgemeinen Entwicklung: Die »Berufseinstiegsphase« für Akademikerinnen und Akademiker verlängert sich insgesamt. Eine sichere Berufsperspektive besteht dreieinhalb Jahre nach Studienabschluss längst nicht für alle: Nur 39 Prozent der Absolventinnen und Absolventen haben dann einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Eine unbefristete Anstellung ist also für eine große Gruppe akademischer Berufseinsteiger zunächst unerreichbar.
• Dagegen spielen freiberufliche und selbstständige Tätigkeiten eine immer größere Rolle, was unter anderem dem »Outsourcing« vieler Beschäftigten geschuldet ist. So sind 15 Prozent der Befragten dreieinhalb Jahre nach dem Abschluss freiberuflich oder selbständig tätig. Diese Absolventen befinden sich häufig in einer prekären Arbeitssituation. Viele von ihnen geben an, unter der Unsicherheit zu leiden. Außerdem ist das Einkommen bei dieser Personengruppe sehr niedrig.
• Von dieser Entwicklung sind Frauen vergleichsweise stärker betroffen als Männer: 44 Prozent der Frauen, allerdings »nur« 23 Prozent der Männer, machen nach dem Studium noch mindestens ein Praktikum. Auch sind Frauen häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen und ihr späteres Einkommen liegt deutlich unter dem ihrer männlichen Kollegen.

Bei allen der auch bei den HochschulabsolventInnen erkennbar werdenden Auflösungstendenzen ihres "akademischen Normalarbeitsverhältnisses" sollte aber nicht vergessen werden, dass diese Gruppe immer noch weit bessere Chancen auf Beschäftigung nach der Ausbildung hat als die meisten Haupt- oder Realschulabsolventen oder Menschen mit einer Berufsausbildung.

Eine 34 Seiten umfassende PDF-Version der Studie "Generation Praktikum? Prekäre Beschäftigungsformen von Hochschulabsolventinnen und -absolventen" können Sie hier herunterladen.

Bernard Braun, 13.2.2007


Betriebsräte, Einkommenshöhe und Sozialbeitragsvolumen: ein positiver Zusammenhang!

Artikel 0548 Eine aktuelle Studie des "Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)" an der Universität Mannheim, deckt einen für das Einkommensniveau und die von ihm abhängigen volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Größen elementaren Zusammenhang auf: In hinsichtlich der Branchenzugehörigkeit, der Unternehmensgröße und weiterer Merkmale ähnlichen Unternehmen mit Betriebsrat sind die Löhne um mehr als 10 % höher als in Betrieben ohne Betriebsrat. Ferner ist die Lohnspreizung geringer, was insbesondere den Beschäftigten unterer Lohngruppen und den weiblichen Beschäftigten zu gute kommt. Die unerwarteten größten Gewinner der Existenz eines Betriebsrates sind Frauen mit geringem Einkommen.

Während die Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsräten also spürbare Einkommensvorteile haben, ist in der Folge das bei gleichen Beitragssätzen entstehende Beitragsvolumen der Kranken- und anderer Sozialversicherten in diesen Betrieben ebenfalls spürbar höher. Entsprechend besser stehen u.a. Krankenkassen finanziell da, wenn sie Mitglieder aus derartigen Betrieben versichern. Umgekehrt stellt sich damit unter sonst gleichen Umständen die Einnahmesituation von Krankenkassen mit vielen Mitgliedern aus betriebsratslosen Betrieben schlechter dar.

Die Ergebnisse stammen aus einer Auswertung von Daten des repräsentativen so genannten "Linked employer employee Datensatz des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit) (LIAB)", der für 2001 zahlreiche Merkmale und Eigenschaften der 1,3 Millionen Beschäftigten der mehr als 8.500 Betriebe des IAB-Betriebspanels enthält.

Allgemeines über die Datengrundlage findet sich z.B. in dem 10-seitigen Aufsatz von Bellmann et al. über "Der Linked Employer-Employee-Datensatz aus IAB-Betriebspanel und Beschäftigtenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit (LIAB)".

Bei den möglichen Ursachen steht nach den Berechnungen der ZEW-Forscher eine höhere Produktivität der Beschäftigten in Betriebsratsbetrieben deutlich im Vordergrund. Mit Abstand spielt dann z.B. auch noch die höhere Abschöpfung der Gewinne zugunsten der Löhne eine Rolle.

Um die gesamtgesellschaftliche Wirkung dieses Zusammenhangs abschätzen zu können, ist die Frage interessant, wie viele Betriebe in Deutschland Betriebsräte haben?
Auch wenn sich diese Frage nicht ganz eindeutig beantworten lässt, zeigen sich doch grobe Trends und Proportionen, welche abzuschätzen erlauben, was die Analyse des ZEW bedeutet:

• Nach Recherchen der Hans Böckler Stiftung (HBS) gab es 1998 nur in 16 % aller westdeutschen Betriebe, die laut Gesetz einen Betriebsrat haben könnten, tatsächlich diese Interessenvertretung. Im Osten: in 14 % der berechtigten Betriebe.
• 2004 gab es wieder laut der HBS nach Schätzungen des IAB in Deutschland etwa 105.000 Betriebe mit Betriebsratsgremien (Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat, Konzernbetriebsrat). Die Betriebsräte vertreten 11 Millionen Beschäftigte. Etwa ein Zehntel aller privatwirtschaftlichen Betriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern verfügte 2004 über einen Betriebsrat - in Ost- wie Westdeutschland. Während im Westen allerdings knapp die Hälfte aller Beschäftigten (47 %) durch einen Betriebsrat vertreten wird, sind es im Osten nur 38 %.
• Nach den Erhebungen des von der HBS geförderten Forschungsprojektes "Betriebliche Interessenregulierung in Deutschland. Survey+Strukturanalyse (BISS)" an der Ruhr-Universität Bochum gab es 2005 in 22 % der Betriebe mit mehr als 10 Beschäftigten einen Betriebsrat oder eine kirchliche Mitarbeitervertretung. Dies bedeutet, dass 57 % der Beschäftigten in dieser Art von Betrieben durch einen Betriebsrat vertreten wurden. In derselben Studie wurden auch erhebliche Unterschiede in der branchenspezifischen Präsenz von Betriebsräten festgestellt.

Die kostenfreie PDF-Datei des als ZEW-Discussion Paper No. 06-086 veröffentlichten Aufsatz "Works Councils and the Anatomy of Wages" von Addison, Teixeira und Zwick erhalten Sie hier über den FTP-Server des ZEW.

Bernard Braun, 7.2.2007


Wenn der Schuster nicht bei seinem Leisten bleibt - Erzwungene Berufswechsel und GKV-Finanzierung

Artikel 0509 Denkt man bei der These, die Finanzierungsprobleme der GKV hingen wesentlich von strukturellen Einnahmeschwächen ab, lediglich an die Arbeitslosigkeit oder die jahrelange Stagnation der Tarifeinkommen, erfasst man die strukturelle Tiefe und Komplexität dieser Situation nicht. Wie bereits an mehreren Beispielen (z.B. über die Wirkung von Teilzeitarbeit, Mini- oder Midi-Arbeitsverhältnisse) dargelegt wurde, ist nämlich auch die partielle Erosion des traditionellen "Normalarbeitsverhältnisses" und darin eine völlig neue und spezielle Vernutzung des Arbeitskräftepotenzials in Deutschland eine Ursache für die relativ schwindende Einnahmebasis der einkommensbasierten Sozialversicherungsträger.

Dazu gehört auch die jüngere Entwicklung des Übergangs von der Ausbildung ins berufliche Erwerbsleben und die damit verbundenen Effekte auf die Einkommenssituation der Jungerwerbstätigen.
Eine am "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der "Bundesagentur für Arbeit (BA)" von Holger Seibert durchgeführte Datenanalyse zeigte jetzt, dass jeder Fünfte der Absolventen einer Berufsausbildung den erlernten Beruf bereits unmittelbar nach Ausbildungsende wechselt. Seit 1977 ist der Anteil der jungen männlichen Berufswechsler von 18 auf 26 % gestiegen, bei weiblichen Berufsausgebildeten aber von 19 auf 16 % gesunken. Die Häufigkeit eines Berufswechsels unmittelbar nach der Ausbildung hängt aber auch noch von anderen Faktoren als dem Geschlecht ab. Die IAB-Studie hebt hervor, dass in Berufen, deren Ausbildung kostengünstig ist, über Bedarf ausgebildet wird und daher zu viel Ausgebildete für die Beschäftigungsstellen existieren, Berufswechsel also überdurchschnittlich häufig notwendig sind. Umgekehrt sieht es bei kostenintensiven Ausbildungsberufen aus.

Warum diese spezielle Mobilität nicht nur Auswirkungen auf die berufliche Situation der davon Betroffenen hat, sondern auch auf das Finanzierungspotenzial der einkommensgekoppelten Sozialversicherung einwirkt, rührt von einer im Prinzip seit Jahrzehnten unveränderten Dynamik ab: "Je weiter der erlernte vom aktuell ausgeübten Beruf inhaltlich entfernt ist, desto höher ist das Risiko einer unterwertigen Beschäftigung" (IAB) und desto niedriger meist das Einkommen. Kommt dann noch die ebenfalls vom IAB schon seit den 1970er Jahren beobachtete Tendenz hinzu, dass auch unabhängig von einem Berufswechsel unterwertige Beschäftigung beim Berufseinstieg zugenommen hat, kumulieren rasch Schwundeffekte der Finanzierungsbasis.

Allerdings, so das IAB: "In der zeitlichen Entwicklung fällt auf, dass unterwertige Beschäftigung nach der Ausbildung seit Ende der 1990er Jahre deutlich zugenommen hat - und zwar unabhängig davon, ob der Ausbildungsberuf verlassen wird oder nicht. Eine Ursache dafür ist der Beschäftigungsrückgang in zahlreichen gewerblichen Berufen, insbesondere in der Metall- und Baubranche sowie im Handwerk."
Zur Finanzierung selbst des Status quo der Leistungen müssen dann die prozentuale Beiträge erhöht werden.
Analysiert wurden ausschließlich Erwerbsverläufe von westdeutschen Absolventen betrieblicher Berufsausbildungen.

Wenig tröstlich oder hilfreich ist dagegen die Tatsache, dass zumindest der Schuster in dieser Entwicklung meist bei seinen sprichwörtlkichen Leisten bleibt.

Im Internet steht der erste im Jahr 2007 veröffentlichte sechsseitige IAB-Kurzbericht "Berufswechsel in Deutschland: Wenn der Schuster nicht bei seinem Leisten bleibt ..." hier.

Bernard Braun, 22.1.2007


Mangelware "kontinuierlicher Erwerbsverlauf" und die Einnahmeschwäche der Sozialversicherungssysteme

Artikel 0424 Die so genannte Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, d.h. das für einen größer werdenden Teil der potenziell Erwerbsfähigen und -Tätigen zunehmende Risiko nicht mehr ein ganzes Erwerbsleben an einem Ort, bei einem Arbeitgeber und ohne mehr oder weniger lange Unterbrechungen ein Vollarbeitsverhältnis ausüben zu können, spielt auch für die Finanzierung und Funktionsfähigkeit der beitragsfinanzierten Sozialversicherungssysteme eine wachsende Rolle. Trotz der ernst zu nehmenden Entwicklung sollte sie aber auch nicht gleich wieder überdramatisiert werden, denn große Teile der Erwerbsbevölkerung arbeiten durchaus noch in Normalarbeitsverhältnissen.
Einerseits belasten viele der einkommensmindernden Umstände dieses Erosionsprozesses die Einnahmenseite dieser Systeme. Dies verschärft sich seit einigen Jahrzehnten noch durch die so genannte "Verschiebebahnhofpolitik", die u.a. darin besteht, den staatlichen Anteil der Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger abzusenken, also die Finanzierungslast auf alle Beitragszahler zu verschieben. Andererseits wirken sich Erwerbsunterbrechungen wie die Arbeitslosigkeit aber auch das Nebeneinander mehrerer Tätigkeiten nachweisbar auf die Gesundheit aus und erhöhen damit die für diesen Personenkreis aufzubringenden Ausgaben.

Eine neue Studie des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)" der Bundesagentur für Arbeit gibt nun auf der Basis der langjährigen amtlichen Beschäftigtenstichprobe einen ersten quantitativen Überblick in die längerfristigen Veränderungen der Erwerbsverläufe westdeutscher Erwerbspersonen.

Die wesentlichen Ergebnissen lauten:

• Immer weniger Erwerbstätige können einen kontinuierlichen Erwerbsverlauf vorweisen. Um das Jahr 1960 Geborene wurden häufiger und in jüngeren Jahren arbeitslos als 1950 oder 1940 Geborene. Rund 60 % der Männer, die 1940 oder 1950 geboren wurden, waren zwischen ihrem 30. und 40. Lebensjahr durchgehend erwerbstätig. Die Erwerbsverläufe der 1960 geborenen Männer sind dagegen weniger stabil: Nur noch die Hälfte von ihnen kann im selben Lebensjahrzehnt eine durchgängige Beschäftigung.
• Frauen sind deutlich seltener als Männer über lange Zeiträume hinweg anhaltend beschäftigt. Die Unabhängigkeit eines Teils dieses Phänomens vom Geburtsjahr zeigt, dass sich hier auch eine nahezu unveränderte Art der Familien- oder Kinderplanung auswirktz, bei der der Frau voll die Aufgabe der Kindererziehung zufällt.
• Auch wenn die Hälfte der über fünf Jahrzehnte hinweg untersuchten Erwerbspersonen nie arbeitslos wurde, tritt bei den jüngeren Jahrgängen in der anderen Hälfte die Arbeitslosigkeit heute früher, d.h. auch gleich zu Beginn ihres Erwerbslebens ein.
• Obwohl die Arbeitslosigkeitsdauer bei der Mehrheit der Männer in allen betrachteten Alterskohorten sehr gering ist, hat sie im Laufe der Zeit von der ältesten bis zur jüngsten Kohorte zugenommen. Trotz erschwerter Arbeitsmarktbedingungen gelingt der Mehrheit der Männer doch eine schnelle Rückkehr ins Erwerbsleben. Die Arbeitslosigkeitsdauer bei den Frauen liegt durchgehend deutlich über der der Männer - was überwiegend durch die bereits erwähnte Art der Familienarbeitsteilung zu tun hat.

Der sechsseitige IAB-Kurzbericht über die Studie kann hier abgerufen werden.

Bernard Braun, 28.12.2006


Einnahmenkrise der GKV auch durch Niedrigsteinkommen und fehlende Mindestlöhne

Artikel 0283 Die neben der Wettbewerbsstärkung und der Ausgabendämpfung meist vergessene Einnahmekrise der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird durch zahlreiche sozialökonmische Bedingungen und Interessen verstetigt und ausgebaut. Neben der chronischen Arbeitslosigkeit, den seit einem Jahrzehnt sinkenden Lohneinkommen und den milliardenschweren Griffen der Finanzminister in die Beitragskassen der GKV, spielen Umstrukturierungen der Erwerbsarbeit eine wachsende Rolle.

Hierzu gehört die Zunahme der Erwerbstätigen mit Niedrigstlöhnen, die aktuell auf rund 6 Millionen Personen geschätzt werden. In einer für das Jahr 2004 vom "Institut für Arbeit und Technik (IAT" in Gelsenkirchen mit Daten des "Sozioökonomischen Panels (SOEP)" durchgeführten Analyse über die Wirkungen von gesetzlichen Mindestlöhnen finden sich auch Zahlen über die quantitativen Effekte der Niedriglohnarbeit für die Sozialversicherungen.

Würde in Deutschland ein international durchaus üblicher Mindestlohn von 7,50 € eingeführt, profitierten davon rund 4,9 Millionen Beschäftigungsverhältnisse. Bei einer Höhe von 5,00 € wären es immerhin noch 1,5 Millionen. Gesamtwirtschaftlich würden die Arbeitnehmerbruttolöhne bei einem Mindestlohn von 7,50 € um etwa 12 Milliarden € steigen. Bei 5,00 € läge die Steigerung bei lediglich gut 2,2 Milliarden €. Mit der Lohnsteigerung durch einen Mindestlohn von 7,50 € wären Mehreinnahmen für die Sozialversicherungen von knapp 4,2 Milliarden € verbunden, bei 5,00 € wären es lediglich gut 660 Millionen €.
Empfehlenswert ist die Lektüre der Studie von Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf natürlich besonders für diejenigen, die an belastbaren Daten für die Debatte über Mindestlöhne interessiert sind.

Hier finden Sie die PDF-Datei des IAT-Reports.

Bernard Braun, 5.11.2006


GKV-Beitragssatz könnte um 1-2 Prozentpunkte gesenkt werden

Artikel 0241 Der durchschnittliche Beitragssatz für die Krankenversicherung kann um knapp einen Prozentpunkt sinken, wenn in Deutschland ein integriertes Krankenversicherungssystem geschaffen wird, das die gesamte Wohnbevölkerung umfasst. Zu diesem Ergebnis kommen aktuelle Berechnungen von Gesundheitsökonomen im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Ein weiterer knapper Prozentpunkt Senkung lässt sich finanzieren, wenn die Beitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der Gesetzlichen Rentenversicherung steigt - also von derzeit 3562 auf 5250 Euro.

Ein integriertes Krankenversicherungssystem kann sowohl über einkommensabhängige Beiträge als auch über Pauschalbeiträge finanziert werden Damit bei einer Umstellung auf Pauschalbeiträge auch die meisten Versicherten mit geringerem Einkommen entlastet werden können, sind aber steuerfinanzierte Beitragszuschüsse von insgesamt 39 Milliarden Euro im Jahr notwendig. Knapp die Hälfte dieser Summe könnte durch die Besteuerung der ausgezahlten bisherigen Beitragsanteile von Arbeitgebern und Rentenversicherungsträgern aufgebracht werden.

Das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES), das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) und die Prognos AG haben im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersucht, welche Auswirkungen entstehen, wenn die verschiedenen Modelle realisiert würden. Dabei zeigt sich: Auch Elemente der bislang als konkurrierend angesehenen Modelle "Bürgerversicherung" und "Kopfpauschale" lassen sich prinzipiell zusammenbringen, um eine stabilere Finanzierungsbasis und mehr Wettbewerb für das Krankenversicherungssystem zu erreichen. "Die Effekte werden transparenter, wenn man solche einzelnen Elemente untersucht statt vorgegebene Modellstrukturen", so Prof. Dr. Anita Pfaff, Leiterin von INIFES.

Einzelne Ergebnisse der von INIFES, IGES und PROGNOS erstellten Studie:
• Ein wesentliches Element eines integrierten Krankenversicherungssystems ist der übergreifende Krankenversicherungsmarkt. Unabhängig von Berufsgruppe oder Einkommenshöhe haben alle Versicherten ebenso Zugang zu den Anbietern der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wie der Privaten Krankenversicherung (PKV). Auch ein Wechsel zwischen GKV und PKV ist möglich.
• Nach IGES-Berechnungen wirkt die Entlastung im integrierten System insgesamt progressiv: Haushalte mit niedrigem und mittlerem Nettoeinkommen (bis 25 000 Euro im Jahr) werden im Vergleich zum aktuellen System entlastet, Haushalte mit höherem Einkommen müssen mehr zahlen als bisher. Differenziert man nach Berufsgruppen, werden heute GKV-Versicherte Arbeiter und Angestellte mit einem Jahreseinkommen zwischen 10 000 und 50 000 Euro sowie Rentner entlastet. Beamte werden dagegen generell stärker belastet.
• Ein integriertes Krankenversicherungssystem mit Pauschalbeiträgen entlastet Haushalte mit niedrigem und mittlerem Jahresnetto bis zu 30 000 Euro stärker als ein System mit einkommensabhängigen Beiträgen. Das ist das Resultat einer IGES-Modellrechnung, bei der jeder Erwachsene eine monatliche Pauschale von 189 Euro zahlt. Parallel dazu müssen allerdings steuerfinanzierte Beitragssubventionen in Höhe von 39 Milliarden Euro pro Jahr fließen. Wesentlich für die konkrete Verteilungswirkung von Pauschalbeiträgen ist, über welche Steuern diese Zuschüsse konkret finanziert werden. Haushalte mit einem Einkommen ab 50 000 Euro werden in einem Pauschalbeitragssystem grundsätzlich stärker belastet als bei einkommensabhängiger Finanzierung. Durchgängig belastet werden auch Familien mit Kindern.

Ein integriertes System in der Krankenversicherung kann grundsätzlich für die gesamte Bevölkerung zu einem Stichtag eingeführt werden. Altkunden der PKV können in ein reformiertes System übernommen werden, ohne Einbußen bei ihren Ansprüchen auf versicherte Zusatzleistungen ihrer Vollversicherung gegenüber den GKV-Leistungen zu erleiden. Die IGES-Forscher skizzieren dafür mehrere Varianten. Anders als bisher häufig angenommen, entfiele damit eine jahrzehntelange Übergangsfrist für die vollständige Umsetzung einer Reform.

Die Abschlussberichte der drei Institute stehen als PDF-Dateien auf der Website der Hans-Böckler-Stiftung zum Projekt "Reform der Krankenversicherung" kostenlos zur Verfügung.

Gerd Marstedt, 11.2.2006


Verdreifachung der GKV-Ausgaben bis 2050 durch medizinischen Fortschritt?

Artikel 0155 Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nach Meinung des Fritz Beske Instituts für Gesundheits-System-Forschung Kiel der medizinische Fortschritt, d.h. neue Arnzeimittel, neue Behandlungsmethoden und moderne Medizintechnik. In einer Studie rechnen die Experten bei einer durch den medizinischen Fortschritt ausgelösten jährlichen Ausgabensteigerung von 1 Prozent mit einer Verdopplung, bei 2 Prozent mit einer Verdreifachung des heutigen Beitragssatzes von 14,2 Prozent bis 2050 und damit auf 43 Prozent.

In der Studie werden bereits für die heutige Situation vielfältige Beispiele aktueller Finanzierungs- und Versorgungsdefizite aufgeführt, so zum Beispiel:
• Früherkennungsuntersuchungen: Eine vollständige Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen hätte bei der GKV zu Mehrausgaben von rund 1 Milliarde geführt
• Schutzimpfungen: Es müssten 2004 bei vollständiger Inanspruchnahme der empfohlenen Schutzimpfungen rund 1,2 Milliarden Euro ausgegeben worden sein. Tatsächlich sind nur rund 0,68 Milliarden Euro ausgegeben worden, ein Differenzbetrag von rund 0,54 Milliarden
• Diabetes: Rund 10% der Bevölkerung leiden an einem Diabetes mellitus. Nicht alle Patienten sind bekannt und versorgt. Für 2001 werden Behandlungskosten in Höhe von 14,6 Milliarden angegeben. Es wird bei Versorgung aller Patienten mit Diabetes eine erhebliche Steigerung der Ausgaben für den Diabetes vorausgesagt
• Organtransplantation: Wenn erreicht werden könnte, dass jeder Patient, der eine Organtransplantation benötigt, auch ein neues Organ erhält, würde dies zu erheblichen Ausgabensteigerungen führen.
Weitere im Gutachten beschriebene Defizite betreffen etwa den Investitionsstau im Krankenhaus, Vergütungsdefizite bei Krankenhausärzten und die vertragsärztliche Versorgung.

Im Gutachten des Fritz Beske Instituts für Gesundheits-System-Forschung wird für den Zeitraum 2005-2050 von unterschiedlichen Szenarien ausgegangen, die allerdings auch zwei schwierig prognostizierbare Faktoren beinhalten, den "medizinischen Fortschritt" (und dessen Implikationen für den Leistungskatalog der GKV) sowie eine weitere Erhöhung der Lebenserwartung.

Im Bundesgesundheitsministerium meinte man lapidar: "Das Bundessozialministerium weist das Horrorszenario zurück. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz bewiesen, dass er in der Lage ist, im Bereich der Gesundheitsversorgung Einsparungen zu realisieren und gleichzeitig für mehr Qualität und Wettbewerb zu sorgen. Das wird fortgesetzt. Darüber hinaus wird Prävention in Zukunft eine größere Rolle spielen, ebenso wie die gezielte Behandlung von Krankheiten. Auch dies wird zu Kosteneinsparungen führen. Im Übrigen ist nicht alles, was als Fortschritt verkauft wird, auch wirklich ein Fortschritt. Die Beske-Studie hat daher einen ausgesprochen geringen Bezug zur Realität."

Das komplette Gutachten "Finanzierungsdefizite in der Gesetzlichen Krankenversicherung - Prognose 2005 - 2050" ist beim IGSF Kiel für 10,00 Euro bestellbar.

Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnis (5 Seiten) gibt es kostenlos als PDF-Datei: Krankenkassenbeiträge werden weiter steigen

Gerd Marstedt, 17.10.2005


Ohne "Verschiebebahnhof"-Politik GKV-Beitragssatz unter 12 Prozent

Artikel 0079 Anders als dies im Umfeld gesundheitspolitischer Reformen, also jedes zweite bis dritte Jahr, suggeriert wird, tragen häufig andere politische Entscheidungen derselben politische Akteure vorsätzlich oder als unerwünschte Begleiterscheinung dazu bei, die Beiträge der GKV zu steigern oder auf einem hohen Niveau zu halten. Zu den Problemen der neuerlichen Debatte Bürgerversicherung versus Kopfprämie/Gesundheitsprämie gehört auch, den jahrzehntelangen Anteil politischer Entscheidungen an den Finanzierungsschwierigkeiten der GKV systematisch zu verdrängen. Statt auch darüber nachzudenken, wie diese Effekte rückgängig gemacht werden können, wendet sich die Politik stattdessen lieber ausschließlich dem jeweiligen "großen Wurf" zu.

Mit den so genannten "Verschiebebahnhof"-Effekten hat sich das von Fritz Beske geleitete Kieler Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) schon mehrfach beschäftigt. Die zuletzt 2004 als Band 101 der Schriftenreihe des Instituts erschienene Berechnung ihrer finanziellen Auswirkungen zeichnet u.a. folgendes Bild:

• Durch die seit 1977 betriebene Politik der Verlagerung von Finanzierungsanteilen aus anderen Sozialversicherungsträgern in die GKV (z. B. Reduktion der Beiträge für Arbeitslose) ergibt sich im Jahre 2004 eine finanzielle Belastung von 8,08 Mrd. Euro. Ohne diese Belastung hätte der Beitrag um 0,82 Prozentpunkte niedriger liegen können, also statt bei 14,1 Prozent bei 13,24 Prozent.
• Ohne die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung läge der GKV-Beitragsatz noch niedriger, nämlich bei höchstens 11,8 Prozent.

Hier findet sich eine faktenreiche Kurzfassung der Studie

Bernard Braun, 10.8.2005


Mehr Privatisierung der Absicherung von Krankheitsrisiken: Weder wirksamer noch wirtschaftlicher als das GKV-System!

Artikel 0076 Zu den erklärten Zielen und Problemlösungsmitteln einer breiten Koalition von Umbauern des öffentlichen und solidarischen deutschen Gesundheitssystems gehört eine spürbare Privatisierung der Absicherung von Krankheitsrisiken - gerne auch als "Stärkung der Eigenverantwortung" verkauft. Als Beitrag zur "Senkung der Lohnnebenkosten" gerechtfertigt, sorgt ein System von Zuzahlungen und Zusatzversicherungen für ganze Leistungsbereiche bereits heute dafür, dass neben dem nur noch weniger als zur Hälfte von den Arbeitgebern mitfinanziertem Krankenkassenbeitrag ein ausschließlich von den Versicherten privat finanzierter zweiter Beitrag bezahlt wird, der nicht mehr bagatellisiert werden kann.

In 10 Thesen setzt sich der Volkswirt und Leiter des Referats Krankenversicherung im Gesundheitsministerium des Landes Brandenburg, H. Reiners, in griffigen Formulierungen mit der theoretischen Schlüssigkeit sowie der tatsächlichen empirischen Leistungsfähigkeit einer stärkeren Privatisierung auseinander.
Dabei stellt er u.a. folgende Thesen vor:

• Das allerdings auch nur zu etwas mehr als 50 Prozent private Gesundheitssystem der USA zeigt drastisch , dass Privatisierung keineswegs zu hoher Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit führt: Es ist das weltweit teuerste und bürokratischste System.
• Die wirtschaftlichen Vorteile eines öffentlich finanzierten Gesundheitswesens zeigen sich auch im Vergleich von GKV und PKV in Deutschland. Die PKV hat deutlich höhere Steigerungsraten der Leistungsausgaben als die GKV und doppelt so hohe Verwaltungskosten.
• Für die Behauptung, die GKV verleite systematisch zu einer Über-Inanspruchnahme von Leistungen ("moral hazard") gibt es keine stichhaltigen Belege.
• Ein privates Versicherungssystem ist entgegen den Behauptungen der PKV und den Hoffnungen der Politik nicht "demografieresistenter" als das GKV-System.

Hier finden Sie die PDF-Datei des 10 Thesen-Vortrags

Bernard Braun, 9.8.2005


GKV-Beitragssatz 2040 = 31,2 %? So funktioniert demografischer Schwindel!

Artikel 0054 "Hauptsache hoch und unausweichlich" scheint das Motto der meisten Prognosen der Entwicklung des künftigen Beitragssatzes der GKV unter den Bedingungen der demografischen Veränderungen zu sein. Die dann für die Jahre 2040 oder 2050 prognostizierten Beitragssätze von 15 bis 31,2 Prozent sind wegen der Schwierigkeiten einer gleichzeitig zuverlässigen Prognose der Bevölkerungsentwicklung, der Entwicklung ihrer Gesundheit sowie der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung der GKV für einen solch langen Zeitraum äußerst fragwürdig.

Die wesentlichen Unsicherheiten und Fehlfolgerungen derartiger Prognostik trägt Hagen Kühn (WZB) in einem Aufsatz zusammen, der folgendes Resumee zieht: "Wer heute den demographischen Wandel für langfristig unausweichliche Pro-Kopf-Ausgaben der Krankenversicherung verantwortlich macht, begeht eine grobe und unprofessionelle Fehlinterpretation."

Hier finden Sie den Aufsatz von Hagen Kühn Demographischer Wandel und demographischer Schwindel - Zur Debatte um die gesetzliche Krankenversicherung

Bernard Braun, 31.7.2005