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"Bürokratiemoloch" US-Gesundheitssystem: Rund 30 von 100 US-Dollar für "Gesundheit" werden in den USA für Verwaltung ausgegeben
Eines der vielen Biertischargumente im öffentlichen Diskurs gegen soziale Gesundheits- oder Sozialsicherungssysteme sind deren vermeintlichen Kosten für die "faule, aber teure (Beamten-)Bürokratie", ihre "Verwaltungspaläste" oder allgemein ihre Verwaltungskosten. Außen vor bleiben dabei meist die Administrationskosten der privaten Versicherungs- und Versorgungssysteme.
Wer aber in der GKV-Welt durch immer weitere Differenzierung der Versicherungssachverhalte, also durch Zusatzversicherungen, zentrale Fonds oder z. B. durch die Expansion selektiver Verträge immer mehr Verwaltungsnotwendigkeiten erzeugt, sollte sich schon fragen lassen müssen, ob und wie viel hierfür von den eigentlich für gesundheitliche Leistungen bezahlten Beiträgen in die zusätzlich notwendige Verwaltung fließen muss. Eine Antwort findet man dazu in Versicherungs- und Gesundheitssystemen wie dem der USA, aus dem ja auch eine Reihe der im GKV-System als Reform gefeierten Leistungsdifferenzierungsinstrumente stammen.
Bereits 2003 hatten die Gesundheitswissenschaftler Steffie Woolhandler, Terry Campbell und David U. Himmelstein von der Harvard Medical School in Boston (USA) im "New England Journal of Medicine (NEJM)"(NEJM 2003; 349:768-75) unter dem Titel "Costs of Health Care Administration in the United States and Canada" die Unterschiede zwischen zwei benachbarten aber im Kern unterschiedlichen Gesundheitssystemen für das Jahr 1999 dargestellt.
Im Jahr 1999 entfielen auf die Verwaltungstätigkeiten im überwiegend privatwirtschaftlich und marktlich verfassten Gesundheitssystem der USA pro Kopf der Bevölkerung 1.059 US-$ während es im überwiegend öffentlich und sozial bestimmten System Kanadas lediglich 307 US-$ waren. Nach einer Bereinigung aller in Frage kommenden Posten betrug der Anteil der Verwaltung an sämtlichen Gesundheitsausgaben der USA 31 % und 16,7 % in Kanada.
Betrachtet man nur den Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben, der durch die Verwaltungstätigkeit der privaten Versicherer verbraucht wird, ähneln sich die Anteile in den beiden Staaten sehr stark, wobei die Privatversicherer in Kanada mit einem Anteil von 13,2 % sogar mehr benötigen als die in den USA mit 11,7 %. Für die gesamten Overheadkosten von Kanadas nationaler Krankenversicherung mussten dagegen lediglich 1,3 % aller Ausgaben verwandt werden. Kräftig unterschiedlich sah es auch bei den ebenfalls aus dem Versicherungsbudget zu bezahlenden Verwaltungskosten der Leistungserbringer (z. B. Ärzte) aus, die in Kanada wesentlich niedriger waren als in den USA. Erklärt wurde dies bereits in der Vergangenheit durch die in privatvertraglichen Systemen zwangsläufig hohen Versicherungs- und Rechtskosten der Leistungserbringer.
Entsprechend unterschiedlich entwickelte sich die gerade auch von deutschen Gesundheitswirtschaftspropagandisten beschworene oder gefeierte Anzahl der Beschäftigten im Verwaltungsbereich des Gesundheitssystems: Von 1969 bis 1999 stieg ihr Anteil in den USA von 18,2 % auf 27,3 %, während der Anstieg in Kanada zwischen 1971 und 1996 von 16 % auf 19,1 % erfolgte (in beiden Berechnungen wurde das Personal in der Versicherungsindustrie ausgeschlossen).
Die so genannte "stock performance" der US-Versicherungsunternehmen, d.h. die Verzinsung des bei ihnen angelegten Kapitals, litt darunter in den letzten Jahren nicht - im Gegenteil. Wer im Dezember 2001 100 US-$ in Aktien investierte, erhielt bei einem Engagement im so genannten S&P500-Bereich (Der S&P 500 = Standard & Poor's 500 ist ein Aktienindex, der die Aktien von 500 der größten, börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen umfasst) im September 2008 114,96 US-Dollar zurück. Wer dies aber vor 7 Jahren bei den Versicherungsgrößen Cigna, United Health, Wellpoint oder Aetna getan hatte, konnte laut einer in der "Los Angeles Times" vom 21. Oktober 2008 veröffentlichten Statistik rund 116, 144, 189 oder gar 439 US-$ realisieren.
Die in einer Befragung für die Studie "PNC Health Care Industry Study Highlights - 2007" der PNC Financial Services Group befragten US-BürgerInnen hatten den ihnen dort vorgelegten Anteil von 30 US-Cents, die von jedem Gesundheits-Dollar für Verwaltungszwecke ausgegeben wurden, für wesentlich geringer gehalten. 70 % von ihnen waren über diesen Anteil erschüttert und besorgt. 76 % der Befragten glaubten stattdessen, dass der Verwaltungs-Overhead 10 US-Cents oder weniger betragen sollten.
Ohne dass daraus für die kanadischen BürgerInnen ein nachweisbarer Nachteil entsteht, stellen sich die Bostoner WissenschaftlerInnen am Ende ihres Aufsatzes vor, was man mit einem eingesparten Unterschiedsbetrag von 752 US-$ pro Kopf und Jahr in den USA alles gesundheitlich oder sonstwie hätte bewegen können.
Eine etwas jüngere, nämlich aus dem Jahr 2005 stammende, Untersuchung der Versicherungskosten für Verwaltungstätigkeiten von Versicherungsunternehmen, Ärzten und Krankenhäusern im Bundesstaat Kalifornien ("The Cost Of Health Insurance Administration In California: Estimates For Insurers, Physicians, And Hospitals") von James G. Kahn, Richard Kronick, Mary Kreger und David N. Gans, veröffentlicht in der renommierten Gesundheitspolitik-Zeitschrift "Health Affairs" (Health Affairs 24, no. 6 (2005): 1629-1639) bestätigte in etwa die älteren Zahlen, d.h. ermittelte einen Gesamtanteil der Verwaltungsausgaben an allen Ausgaben für die gesundheitliche Versorgung im Gesundheitssystem dieses Bundesstaates von 25 %. Zusätzlich konzentrierte sich diese Studie dann auf den im Detail relativ unbekannten Anteil aller Verwaltungsausgaben, die für das Abrechnungswesen und die versicherungsbezogenen Arbeiten (die so genannten "billing and insurance-related [BIR] functions") aufgewandt werden mussten. Auf der Basis eines Mail-Surveys und von Interviews (für den Bereich der Arztpraxen), von Regulierungsberichten (für Krankenhäuser) und mittels der Angaben eines Consulting-Unternehmens (für die privaten Krankenversicherungsunternehmen) errechneten die ForscherInen folgende Aufwendungen für BIR:
• Bei privaten Versicherungsgesellschaften betrug dieser Ausgabenblock 9 % des Gesamtumsatzes, der Anteil für die restliche Verwaltung 9,9 %.
• Arztpraxen gaben 14 % ihres Umsatzes für BIR-Aufwendungen aus und weitere 27 % für ihre restlichen Verwaltungstätigkeiten, d.h. rund 4 von 10 Dollar wurden in ärztlichen Praxen für Verwaltungszwecke ausgegeben.
• Krankenhäuser waren in Kalifornien etwas weniger verwaltungsintensiv, gaben aber immer noch 7-11 % für BIR-Funktionen und 21 % für den Rest der Verwaltung aus.
Alles in allem wurden daher in Kalifornien 20-22 %, also mindestens ein Fünftel der insgesamt von privat Krankenversicherten finanzierten Ausgaben im Bereich der Akutversorgung für BIR-Funktionen ausgegeben.
Übrigens liegen die Verwaltungskosten der GKV-Kassen trotz einiger in den letzten Jahren neu hinzugekommenen und oft unsinnig aufgeblähten Marketingaktivitäten oder den aus Versichertenbeiträgen bezahlten Mitgliederwerbeprämien für MitarbeiterInnen der Kassen samt der Erfolgsboni für "erfolgreiche" Führungskräfte, seit Jahren und Jahrzehnten und immer noch zwischen durchschnittlich 5 und 6 % des Gesamtfinanzvolumens der GKV - haben aber in den letzten Jahren eine gegenüber anderen Kostenarten der GKV überdurchschnittliche Zunahme.
Den 11 Seiten umfassenden Aufsatz "Costs of Health Care Administration in the United States and Canada" von Steffie Woolhandler, Terry Campbell und David U. Himmelstein erhält man kostenlos in einer PDF-Version.
Der ebenfalls 11-seitige Aufsatz "The Cost Of Health Insurance Administration In California: Estimates For Insurers, Physicians, And Hospitals. Quantifying how much to attribute to billing and insurance-related expenses, to move the debate forward" von by James G. Kahn, Richard Kronick, Mary Kreger und David N. Gans ist kostenlos als PDF-Datei erhältlich.
Bernard Braun, 22.10.08