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Mehr Wirtschaft als Gesundheit - Staatliche Förderung für IgeL

Artikel 2151 Unübersehbaren Optimismus offenbarte zunächst die Berliner Zeitung Ende Juli 2012 mit ihrem Artikel Bundesregierung überprüft Verkaufstrainings für Ärzte. Wie im Forum Gesundheitspolitik bereits Mitte Juni in dem Beitrag Öffentliche Förderung des Verkaufstrainings für IGeL-Angebote nachzulesen war, hat das Haus des ehemaligen Gesundheits- und jetzigen Wirtschaftministers Philipp Rösler das ständige Gerede des Ressortchefs von der Gesundheits-Wirtschaft überaus wörtlich genommen und tatkräftig in die Praxis umgesetzt.

Laut Medienberichten überprüfte die Bundesregierung zunächst die staatliche Förderung der Marketingseminare, in denen sich ÄrztInnen im Verkauf von IGeLeistungen und anderer Selbstzahler-Angebote schulen lassen können. Im Klartext: Ärzte sollen "Verkaufsstrategien" erlernen, um ihre Patienten besser vom Nutzen solcher Leistungen überzeugen zu können. Mittlerweile hat das Wirtschaftsministerium dem großen öffentlichen Fragezeichen nachgegeben und die Verkaufsförderungsprogramme für niedergelassene ÄrztInnen eingestellt.

Brisant war die bisherige Förderung vor allem deshalb, weil das Wirtschaftsministerium damit die Erbringung von zumeist diagnostischen Verfahren befördert hatte, die nicht nur medizinisch überflüssig und stark umstritten, sondern auch explizit nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten sind. Damit unterlief das Wirtschaftsressort gezielt das subsidiär-korporatistische Entscheidungsgefüge des deutschen Gesundheitswesens. Aber was der liberale Koalitionspartner vom Staat und von öffentlichen Entscheidungsstrukturen hält, zeigt nicht nur das Ressort von Philipp Rösler, sondern auch andere FDP-Minister wie insbesondere BMZ-Leiter Dirk Niebel ja seit der Übernahme der Regierungsverantwortlichkeit mit wachsender Begeisterung.

Allen öffentlichen Regulierungsversuchen trotzt auch beharrlich eine bestimmte Gruppe von MedizinerInnen, die gerne im Namen der "Therapiefreiheit" und ihrer eigenen Freiberuflichkeit handeln mit ihrer subjektiven Wahrnehmung gerne empirische Evidenz aushebeln. Tatsächlich sind es in erster Linie die Leistungserbringer, also die niedergelassenen ÄrztInnen, die ihren PatientInnen einseitig Leistungen ohne erkennbaren medizinischen Nutzen aufdrängen. Allzu oft erbringen sie IGeLeistungen ohne vorausgehende Information und Aufklärung sowie ohne schriftliche Vereinbarung. Nicht selten verkaufen sie den ahnungslosen "KundInnen" auch Leistungen aus dem GKV-Katalog als IGeLeistungen. Bisher haben weder die PatientInnen noch die Kassen in solchen Fällen Anspruch auf Schadensersatz.

Die vollständig aus der eigenen Tasche der Versicherten zu zahlenden Behandlungen stellen mittlerweile eine zusätzliche Einkommensquelle für die Kassenärzte dar. Rund zwei von drei KassenärztInnen bieten IGeLeistungen an, vor allem GynäkologInnen. AugenärztInnen und OrthopädInnen und erzielen damit zusätzliche Einnahmen von etwa 1,5 Mrd. €, was nicht weniger als fünf Prozent der kassenärztlichen Leistungsausgaben entspricht. Für viele Niedergelassene sind die IGeLeistungen heute eine willkommene Zusatzeinnahmequelle, mit der sie zunehmend hemmungslos die subjektiv als beständig schrumpfend empfundenen GKV-Honorare aufbessern und ihre gefühlten Verluste an "Therapiefreiheit" kompensieren können. Unter der konservativen Annahme, dass ÄrztInnen bei der Qualität ihrer Arbeit eine Normalverteilung aufweisen, kann das nichts Gutes für die PatientInnen bedeuten.

Um die geht es allerdings auch einer Reihe von MedizinerInnen allenfalls sekundär. Der Beitrag eines niedergelassenen Gynäkologen im streng GKV-feindlichen Ärztenetzwerk Hippokranet lässt an sozialpolitischem Desinteresse und Verachtung von Menschen mit geringem Einkommen nichts zu wünschen übrig: "Niemand wird gezwungen, sich rein kassenmedizinisch behandeln zu lassen.
Jeder in der Bunzrepublik hat die Wahl. ...ob jeder auch das nötige Geld hat, weiss ich nicht....interessiert mich auch nicht."

Solche und vermutlich auch andere MedizinerInnen interessiert sicherlich viel mehr das wachsende Angebot an verfügbarer Information zu IGeLeistungen, die man beispielsweise auf der Internet-Seite Der Igelarzt vorfindet. Zwar missbilligte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, laut Berliner Zeitung vom 30.7.2012 das Förderprogramm des Wirtschaftsministeriums mit den Worten: "Ärzte sind keine Kaufleute und deshalb brauchen wir auch keine Verkaufsseminare für Individuelle Gesundheitsleistungen." Dies entbehrt allerdings nicht einer gewissen Naivität, haben sich zahlreiche VertreterInnen der Ärzteschaft doch mittlerweile unübersehbar von der Ethik auf die Seite der Monetik geschlagen. Denn irgendwelche Ansprechpartner müssen einschlägige Angebote wie Verkaufen - eine neue Dimension der Praxisarbeit, IGeL seriös anbieten, IGeL anbieten - Wie sag ich`s dem Patienten? oder IGEL und Wahlleistungen sicher anbieten und verkaufen ja finden, sonst würden sie sich wohl kaum in der digitalen Welt des Internets halten.
Auch wenn die schwarz-gelbe Bundesregierung nun die Förderung der Patientenabzocke durch niedergelassene ÄrztInnen "überprüfen" will, die tägliche Praxis der "Halbgötter in Weiß", ihren PatientInnen überflüssige und nicht selten gefährliche und schädliche Leistungen aufzuschwatzen wird diese Koalition nicht in Frage stellen. Die größte Oppositionspartei will nicht nur die Marketing-Förderung des Wirtschaftsministeriums für IGeL-ÄrztInnen beenden, sondern die Ärztezeitung meldete am 31. Juli 2012 auch SPD plant "IGeL-Eindämmungsgesetz".

Immerhin nimmt sich nun der Bundesrat direkt dieses Themas an und dabei die Forderung des GKV-Spitzenverbands auf, als Mindestmaßnahme zum Schutz der PatientInnen eine eintägige Bedenkzeit für IGeLeistungen einzuführen. Abgesehen von einzelnen, eher bürokratischen Leistungen wie Attesten - so berichtet die Ärztezeitung in dem Artikel IGeL-Bedenkzeit-Atteste ausgenommen - gäbe eine derartige Bedenkzeit den informationsbezogen benachteiligten und tendenziell schwächeren NutzerInnen von ambulanten Gesundheitsleistungen eine gewisse Chance, die Notwendigkeit von IGeLeistungen zu überprüfen. Vor allem würde dies die Möglichkeiten der AnbieterInnen verringern, ihre PatientInnen mit dem Zusatzangebot zu überrumpeln.

Die Ablehnung aus der Ärzteschaft ließ nicht lange auf sich warten. Energisch kritisierte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Dr. Johannes Fechner, den Vorschlag des GKV-Spitzenverbands, wie in einem Beitrag im Ärztenetzwerk Facharzt.de nachzulesen ist: "Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, warum der GKV Spitzenverband IGeL ablehnt und Schranken fordert. Die meisten IGeL erfolgen zum einen auf Patientenwunsch und sind zum anderen medizinisch sinnvoll." Als "abwegig" bezeichnete Fechner die Forderung, IGeLeistungen erst nach 24-stündiger Denkpause zu erbrbringen dürfen. "Der GKV-Spitzenverband zeigt hier mal wieder," so Fechner, "dass er wenig Kenntnis vom Alltag in einer Praxis und der Behandlung von Patienten hat. Warum soll der Arzt einen Patienten, der eine IgeL nachfragt, wieder nach Hause schicken? Die Patienten müssen einen neuen Termin vereinbaren und noch einmal den Aufwand für den Besuch auf sich nehmen, obwohl sie bereits vor dem Arzt stehen. Viele Leistungen ergeben sich zudem erst im Laufe einer Behandlung. Und soll der Arzt die Patienten, deren Kasse die IGeL wie beispielsweise Osteopathie in ihren Leistungskatalog aufgenommen hat, auch erst nach Hause schicken? Das ist Absurdistan und führt zu völligem Unverständnis bei den Patienten."

Allerdings sind in demselben Forum auch andere Stimmen zu lesen: So heißt es in einer Replik: "Nun werden in der Regel die so genannten "IGeL" ja nicht nachgefragt sondern dem Patienten mehr oder weniger nachdrücklich "empfohlen", "nahegelegt" oder schlicht aufgenötigt. Die echte Nachfrage nach derartigen "Wunschleistungen" darf man getrost ziemlich nahe bei Null einordnen."

Die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten steht kostenfrei online zum Download zur Verfügung.

Jens Holst, 9.8.12