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eHealth / IT: Versichertenkarte, Patientenakte


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Elektronische Patientenakte: Mehr IT-Industrieförderung als sinnvoller Beitrag zur Kostenreduktion im Gesundheitswesen

Artikel 2149 Geht es nach den Anbietern der Soft- und Hardware für die ereignisnahe elektronische Verwaltung oder Dokumentation von soziodemographischen, Diagnose- und Therapiedaten von Patienten und den staunenden Besuchern aus Krankenhäusern, Arztpraxen und Krankenkassen an den Werbegeschenkständen von IT-Herstellern auf den einschlägigen Entscheidungsträger-Kongressen, schaffen solche Systeme die Quadratur des Äskulapstabes, sparen also Geld bei meist sogar besserer Versorgungsqualität. Entsprechend wird weltweit, und zuletzt mit einem 27 Milliarden-Dollar-Programm besonders in den USA, die Entwicklung und Einführung von IT-technologischen Verfahren und Instrumente aus Steuermitteln gefördert.

Methodisch hochwertige und unabhängige Studien ebenfalls aus den USA zeigen aber bereits zum wiederholten Male, dass diese Versprechungen und Hoffnungen völlig überzogen sind und lediglich die Suche nach erfolgreicheren Wegen zu dieser Quadratur verhindern.

Wie eine gerade eben in der renommierten Gesundheitspolitikzeitschrift "Health Affairs" veröffentlichte Studie zeigt, gilt dies auch für das Hilfsmittel der elektronischen Patientenakte bzw. des Zugangs zu digitalisierten Dokumenten über die Diagnostik und Therapie von Patienten.
Die WissenschaftlerInnen, sämtlich heute oder früher an der Harvard Medical School tätig, untersuchten speziell die Annahme, dass der Zugang zu digitalisierten bzw. elektronischen Ergebnissen von Labortests und bildgebenden Untersuchungen sowie einer elektronischen Behandlungsakte, die Wahrscheinlichkeit weiterer diagnostischer Tests reduziere und damit einen nicht geringen Geldbetrag spare. Dazu analysierten sie die Behandlungsunterlagen über 28.741 Patientenbesuche bei einer für die USA repräsentativen Anzahl von 1.187 in Praxen tätigen Ärzten im Jahr 2008.

Die wesentlichen Ergebnisse ihrer Untersuchungen lauteten:

• Hatten Ärzte über ihren Praxiscomputer den Zugang zu digitalisierten Ergebnissen von bildgebenden diagnostischen Untersuchungen war im Vergleich zu ihren weiterhin mit "analogen" Röntgenbildern etc. arbeitenden KollegInnen die Wahrscheinlichkeit, dass weiterführende und damit insgesamt teurere Tests veranlasst wurden, um 40-70% höher.
• Ärzte, die mit elektronischen Patientendatensystemen arbeiteten, verordneten 18% ihren Patienten weitere bildgebende Untersuchungen - "zur Abklärung". Von ihren KollegInnen, die noch mit den traditionellen Patienten-Karteikarten arbeiteten, taten dies signifikant weniger, nämlich 12,9%. Die hochsignifikanten Unterschiede gab es bei sämtlichen Diagnosearten wie beispielsweise der Magnet-Resonanz- oder CT-Untersuchung (in beiden Fällen 2,2% vs. 1,1%).
• Ärzte, welche die Ergebnisse von Labortests elektronisch erhielten, d.h. schnell und übersichtlich, ordneten häufiger zusätzliche Bluttests an als Ärzte, die Laborergebnisse noch in der traditionellen Weise erhielten - so Resultat der bivariaten Analyse. In multivariaten Analysen, welche die Patientencharakteristika adjustierten, war die Chance für zusätzliche Bluttests bei den Ärzten mit IT-Zugang zu Laborereignissen um 54% höher. Wurden dann noch die Unterschiede bei den Praxischarakteristika berücksichtigt und adjustiert nahmen die Unterschiede bei den Chancen auf den Wert von 23% ab und die Assoziation war fast nicht mehr statistisch signifikant ("was of borderline significance"), d.h. die Irrtumswahrscheinlichkeit betrug geringfügig mehr als 5%.
• Die WissenschaftlerInnen sehen im Lichte ihrer Daten ihre Zweifel bestärkt, dass elektronische Versorgungstechnologien bei allem sonst möglichem administrativen Nutzen etwas zur Kostendämpfung durch einen signifikanten Rückgang nicht notwendiger veranlasster diagnostischer Verfahren beitragen. Im Gegenteil: "it is possible that computerization will drive costs in this area up, not down."
• Anderslautende Darstellungen orientieren sich nach Meinung der AutorInnen dieser Studie an Fallstudien in wenigen großen "flagship institutions". Sie fassen ihre Ergebnisse daher zu folgender Warnung zusammen: "Whatever the explanation for our findings, they emphasize the importance of establishing the benefits of computerization rather than estimating them in the absence of data, or generalizing from small studies at a few atypical institutions."

Auch wenn das im Titel einer lesenswerten Darstellung der Ergebnisse dieser Studie enthaltene Fragezeichen nicht durch ein Ausrufezeichen ersetzt werden kann, spitzt der österreichische Autor, Michael Strausz, den Forschungsstand korrekt zu: "Digitale Patientenakte: Die große ITlusion?"

Selbst die traditionell IT-gläubige us-amerikanische Denkfabrik RAND dämpft in einer Studie mittlerweile die Erwartungen direkter und schneller Effekte der Elektronisierung oder Digitalisierung im Gesundheitswesen auf die Ausgaben mit dem ausführlichen Hinweis auf ein bereits bei der IT-Ausstattung der Güterindustrie erkanntes IT-Produktivitätsparadoxon.

Die Autoren der RAND-Studie weisen in einem kleinen Aufsatz in der Juniausgabe 2012 der bedeutenden Medizinzeitschrift "New England Journal of Medicine (NEJM)" auf mehrere Aspekte hin, die für den qualitativen wie finanziellen Nutzen der IT oder von E-Health im Gesundheitswesen essentielle Voraussetzungen darstellen.
• Sie weisen für vergangene IT-Innovationsschübe im Bereich der Güterwirtschaft darauf hin, dass "it was the reengineering of processes coupled with the new technology that generated explosive growth in U.S. manufacturing productivity".
• Und um realistisch von IT-Systemen in Gesundheitseinrichtungen eine höhere "Produktivität" erwarten zu können, bedarf es nach Ansicht der RAND-Experten sowohl eines langen Atems ("payoff of an IT investment did not follow quickly") als auch "periods of intensive process reengineering". In dieser Umstrukturierung rückt der eigentliche technische Prozess eher in den Hintergrund oder wirkt vor allem als Katalysator für wichtige soziale und arbeitsorganisatorische Veränderungen: "For every dollar invested in IT systems, firms typically had to invest several dollars for implementation, training, and process redesign to realize productivity gains. Furthermore, IT-driven productivity growth was not inevitable in all organizations but was more likely in organizations with such characteristics as high levels of education and individual autonomy, self-directed work teams, and incentive systems that reward team performance."

Um nicht missverstanden zu werden: IT-Instrumente sind allemal besser als ein chaotisches, unvollständiges und selten rechtzeitig nutzbares Zettel-Wesen. Die Hoffnung durch die Anschaffung und das Befüllen elektronischer Patientenakten o.ä., also durch technische Maßnahmen allein, Nutzen für Patienten und die finanziellen Ressourcen zu stiften, ist aber trügerisch. Ohne die von den RAND-Autoren genannten und noch eine Reihe anderer vorgängig oder parallel laufenden sozialen, qualifikatorischen und arbeitsorganisatorischen Maßnahmen endet der Innovationsversuch kläglich oder erreicht sein Ziel erst wesentlich später als erhofft.

Der Aufsatz "Giving Office-Based Physicians Electronic Access To Patients' Prior Imaging And Lab Results Did Not Deter Ordering Of Tests" von Danny McCormick, David H. Bor, Stephanie Woolhandler, and David U. Himmelstein ist im März 2012 in der Zeitschrift "Health Affairs" (31, NO. 3: 488-496) erschienen und komplett kostenlos erhältlich.

Ebenfalls komplett kostenlos erhältlich ist der Aufsatz "Unraveling the IT Productivity Paradox — Lessons for Health are der RAND-Autoren Spencer S. Jones, Paul S. Heaton, Robert S. Rudin und Eric C. Schneider - erschienen im NEJM (366: 2243-2245).

Bernard Braun, 8.8.12