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Patienten
Gesundheitsversorgung: Analysen, Vergleiche


Medizinische Prävention ist nicht genug (25.10.23)
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Kritik an Choosing Wisely-Empfehlungen gegen medizinische Überversorgung

Artikel 2685 Die Choosing Wisely-Kampagne wurde in den USA im Jahr 2012 von der ABIM Foundation initiiert. Das Anliegen besteht in Minderung überflüssiger Diagnostik und Therapie durch die Förderung des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Fachgesellschaften waren und sind dazu aufgerufen, sog. Top 5-Listen als Grundlage für diese Gespräche zu erstellen. Als Erfolge kann die Kampagne u.a. verbuchen: Ausbreitung auf 24 Länder, insgesamt knapp 1300 Empfehlungen und eine Reihe von Erfolgsgeschichten.

Die ABIM hat die Kriterien für die Erstellung von Empfehlungen aus pragmatischen Gründen relativ allgemein gefasst und lässt den Fachgesellschaften damit viel Spielraum im Aufgreifen bzw. Ignorieren bekannter Probleme der Überversorgung. Auf die fehlende methodische Stringenz sowie auf die Fokussierung allein auf Überversorgung, wurden von Seiten des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin bereits frühzeitig kritisch hingewiesen.

Die Vermutung lag nahe, dass die Fachgesellschaften erst einmal Listen mit Maßnahmen erstellten, in denen umstrittene, brisante und für das Einkommen von Mitgliedern relevante Themen ausgespart blieben.

Eine im November 2019 veröffentlichte Studie ging dieser Frage nach. Die australischen Autoren wollten wissen, welcher Anteil von Empfehlungen einkommensrelevant ist und ob sich die einkommensrelevanten Empfehlungen an die eigene oder an andere Fachgruppen richtete. Als einkommensrelevant wurde Leistungen klassifiziert, deren Durchführung üblicherweise außerhalb eines normalen Arzt-Patient-Kontaktes erfolgen und mit einem Geldbetrag vergütet werden, wie chirurgische Eingriffe, endoskopische Verfahren (z.B. Darmspiegelung) und Bestrahlungen.

Weiterhin prüften sie, ob die Empfehlung eindeutig ("keine Transfusion von roten Blutzellen in stabilen Intensivpatienten mit einem Hämoglobinwert >7 g/dL") oder weicher und interpretationsfähig formuliert war ("vermeide … ","erwäge …").
Analysiert wurden insgesamt 1293 unterschiedliche Choosing Wisely-Empfehlungen aus 8 Ländern. Je etwa die Hälfte bezog sich auf Diagnostik bzw. Therapie. 94% waren negativ ("don't"), 6% positiv ("do").

Von den 1293 Empfehlungen bezogen sich je etwa Hälfte auf diagnostische bzw. therapeutische Leistungen. Von den 552 therapeutischen Empfehlungen auf die eigene Fachgruppe und knapp 10% auf andere Fachgruppen. 98 therapeutische Empfehlungen klassifizierten die Autoren als einkommensrelevant - davon betrafen 16% die eigene Fachgruppe und 40% andere Fachgruppen.

Eindeutig formuliert waren knapp 60% aller Empfehlungen und knapp 50% der einkommensrelevanten Empfehlungen, die sich auf die eigene Fachgruppe bzw. andere Fachgruppen beziehen.

Das Fazit lautet, dass die Empfehlungen der Fachgesellschaften im Rahmen der Choosing Wisely-Kampagne solche Überversorgungsthemen vermeiden, deren Korrektur das Einkommen der eigenen Fachgruppe vermindern würde. Bei einkommensrelevanten Themen anderer Fachgruppen ist man weniger zögerlich. Noch dazu sind die einkommensrelevanten Empfehlungen häufig so formuliert, dass Interpretationsspielräume bleiben.

Die Empfehlungen im Rahmen der Gemeinsam Klug Entscheiden-Initative der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) unterscheiden sich grundlegend. Diese Empfehlungen werden im Rahmen der sog. S3-Leitlinien entwickelt und stellen das gemeinsame Werk unterschiedlicher Fachgesellschaften unter Beteiligung anderer Gesundheitsberufe und von Patienten dar. Grundlage ist eine systematische Recherche der Evidenz, das Management von Interessenkonflikten, ein Konsensverfahren sowie spezifische Kriterien, welche die Relevanz und Umsetzbarkeit der Gemeinsam Klug Entscheiden-Empfehlungen sicherstellen sollen.


Zadro, J. R., Farey, J., Harris, I. A., & Maher, C. G. (2019). Do choosing wisely recommendations about low-value care target income-generating treatments provided by members? A content analysis of 1293 recommendations. BMC Health Services Research, 19(1), 707. Volltext

David Klemperer, 6.2.20